Ereignis vom 1. Oktober 1921

Abstimmung in Oberschlesien

Am 7. Mai 1919 überreichten die alliierten Siegermächte des Ersten Weltkrieges in Versailles der deutschen Delegation den Entwurf des Friedensvertrages, in dem die Abtretung fast ganz Preußisch-Oberschlesiens an das wiedererstandene Polen gefordert wurde.

Oberschlesien war seit dem Kulturkampf eine Bastion der Zentrumspartei gewesen, die mit dem Band des Katholizismus manche soziale und dann auch nationale Probleme entschärfen konnte. Das änderte sich kurz nach der Jahrhundertwende, die Polen stellten bei der Reichstagswahl 1903 erstmals in dieser Region eigene Kandidaten auf und konnten mit Wojciech Korfanty einen Abgeordneten nach Berlin entsenden. Vier Jahre danach fielen fünf von zwölf oberschlesischen Reichstagswahlkreisen an Polen, 1912 schließlich vier (11% der Stimmen). Bei der Volkszählung im Jahre 1910 hatte fast die Hälfte der Oberschlesier polnisch als Muttersprache genannt. Hierbei handelte es sich aber in den allermeisten Fällen um den Gebrauch des „Wasserpolnischen“; auch konnte das Verwenden dieser oder jener Sprache in Oberschlesien nicht unbedingt als Bekenntnis zum betreffenden Volk gewertet werden.

Die alliierte Forderung nach der Abtretung Oberschlesiens war ganz im Sinne der polnischen Bestrebungen, dem wiedererstandenen Staat ein möglichst großes Territorium zu verschaffen, und entsprach dem französischen Wunsch nach Schwächung Deutschlands durch Verlust des oberschlesischen Industriereviers. In Oberschlesien und in anderen Teilen Deutschlands kam es aber zu Großkundgebungen gegen diese Forderung, so bereits am 10. Mai in Oppeln (heute: Opole) mit etwa 15000 Teilnehmern. Als Folge der Proteste, der deutschen diplomatischen Aktivitäten, die sich auf das von den Siegermächten proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker stützen konnten, und von verständnisvoller britischer Haltung ordneten die Alliierten schließlich eine Volksabstimmung in dem umstrittenen Gebiet an, von der die eindeutig deutschen Kreise Grottkau, Neisse und Falkenberg sowie ein Teil des Kreises Neustadt ausgenommen wurden. Versagt wurde das Recht der freien Entscheidung über ihre Zukunft den Bewohnern des Hultschiner Ländchens, das der jungen Tschechoslowakei zufiel.

Mitte August 1919 brach der erste Polenaufstand, durch polnische Truppen unterstützt, aus, konnte jedoch nach einer Woche von der Reichswehr und deutschen Freiwilligen niedergeschlagen werden. Eine wesentliche Stärkung der für ein Verbleiben bei Deutschland eintretenden Oberschlesier bedeutete das am 14. Oktober 1919 von der Preußischen Landesversammlung angenommene „Gesetz betr. die Provinz Oberschlesien“, mit dem Oberschlesien – in Übereinstimmung mit der von der Katholischen Volkspartei (Zentrum) und dann auch von den Sozialdemokraten und den Deutschen Demokraten erhobenen Forderung – die Erhebung zur Provinz zugesagt wurde. Mitte Januar 1920 musste die Reichswehr das Abstimmungsgebiet räumen, das bald darauf von 15000 Soldaten, primär aus Frankreich, aber auch aus Italien und zeitweise aus Großbritannien, besetzt wurde. Am 11. Februar übernahm die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission die Regierungsgewalt. Dies hätte an sich eine vernünftige Maßnahme zur Sicherung der Freiheit bei der Vorbereitung und Durchführung der Abstimmung sein können. Ihr Vorsitzender, der französische General Le Rond, wahrte aber nicht die gebotene Neutralität, sondern begünstigte in Übereinstimmung mit seiner Regierung polnische Aktivitäten und behinderte deutsche. Der kommissarische deutsche Oberpräsident Joseph Bitta musste die Provinz verlassen, und Adolf Kardinal Bertram durfte sie nicht mehr betreten.

In dem die Leidenschaften aufwühlenden und Bruder vom Bruder trennenden Abstimmungskampf liefen die Fäden der polnischen Seite bei deren Plebiszitkommissar Korfanty zusammen, einem einfallsreichen, talentierten, Land und Leute als gebürtiger Laurahütter kennenden Mann, der radikal und erfolgreich agitierte. Er konnte mit Recht auf die von der preußischen Verwaltung begangenen Fehler und Ungeschicklichkeiten hinweisen, z.B. auf die Besetzung vieler Führungssstellen mit aus anderen Teilen Deutschlands herbeigeholten Beamten, die evangelisch waren, und auf vor allem in der Zeit des Bismarckschen Kulturkampfes gegen Katholiken (über 90% der Oberschlesier gehörten dem römisch-katholischen Bekenntnis an) und Polnischsprechende gerichtete Maßnahmen. Obwohl die Gleichsetzung „arm, katholisch und polnisch“ gegenüber „reich, evangelisch und deutsch“ nicht zutraf, erwies sie sich ebenso als werbewirksam wie das Versprechen einer Kuh („Korfanty-Kuh“) an die für Polen Abstimmenden. Auch der Gedanke, dass es materiell wohl vorteilhafter sei, an den von Frankreich gehätschelten jungen polnischen Staat angeschlossen zu werden und so den als Folge des verlorenen Krieges auf Deutschland zukommenden wirtschaftlichen Belastungen (Reparationen) zu entgehen, entfaltete seine Wirkung.

Auf deutscher Seite gab es eine Vielzahl von Institutionen, Gruppierungen und Personen, die aktiv wurden. An der Spitze des deutschen Plebiszitkommissariats stand der zu Beginn seiner Tätigkeit kaum bekannte Dr. Kurt Urbanek. Als Staatskommissar für die öffentliche Ordnung in Schlesien wirkte der Rheinländer Dr. Carl Spiecker; die „Vereinigten Verbände heimattreuer Oberschlesier“ waren „Eigenwuchs aus oberschlesischer Wurzel, leicht beträufelt aus dem Geldbeutel der Industrie“ (Urbanek) und verfügten allein in Oberschlesien über 1000 örtliche Gruppen. Der Zusammenführung der deutschen Kräfte diente die Gründung des aus Parteien, Gewerkschaften und Verbänden gebildeten „Schlesischen Ausschusses“, den der bisherige Landrat von Rybnik, Dr. Hans Lukaschek, leitete – ein bewährter junger Mann der Verwaltung, geschickt bei der Pflege menschlicher Kontakte und als Katholik und Spross einer oberschlesischen Familie gute Voraussetzungen zur Erfüllung seiner Aufgabe mitbringend. Lukaschek wurde der eigentliche Kontrahent Korfantys, eine Art Generalstäbler, der Chef der deutschen Propaganda. Seiner Art gemäß und weil er im sozialen Bereich Korfantys Versprechungen ohnehin nicht übertreffen konnte, führte er die Auseinandersetzungen mehr auf ideell-geistiger Ebene und versuchte der Bevölkerung zu verdeutlichen, dass Oberschlesien seit etwa 600 Jahren keine Bindung mehr zu Polen besessen habe und kulturell nach dem Westen ausgerichtet sei. Die Pflege heimatlichen Kulturgutes, die Förderung deutscher Kulturveranstaltungen, die Einrichtung der Schönwälder Stickstube und die Unterstützung deutscher Zeitungen trugen Früchte. Das vom Lehrer Karl Sczodrok herausgegebene Kampfblatt „Der Schwarze Adler“ stand gegen die polnische Wochenschrift „Der Weiße Adler“ und erreichte eine Auflage von 300.000 Exemplaren.

Bedauerlicherweise kam es im Verlaufe des Abstimmungskampfes oft zu Ausschreitungen. Beide Seiten, besonders jedoch die polnische, trugen Schuld daran. Im Anschluss an eine in Kattowitz (heute: Katowice) durchgeführte Kundgebung gegen den sowjetisch-polnischen Krieg plünderten Deutsche am 17. August 1920 das polnische Plebiszitkommissariat und ermordeten einen polnischen Arzt, woraufhin Korfanty den zweiten Polenaufstand entfesselte, dem über 100 Deutsche, aber auch Polen zum Opfer fielen. Das von deutschen Evangelischen bewohnte Dorf Anhalt im Kreis Pleß wurde planmäßig niedergebrannt. Auch nach der Beilegung der Kämpfe blieben Überfälle, Attentate, Raub und Misshandlungen auf der Tagesordnung. So wurde der von Korfanty auf die deutsche Seite übergewechselte und als Herausgeber der Zeitung „Wola Ludu“ („Wille des Volkes“) diesem gefährlich gewordene Teofil Kupka im November 1920 ermordet.

Wegen der sehr starken Religiosität eines großen Teiles der katholischen Bevölkerung des Abstimmungsgebietes hing viel von dem Verhalten der Geistlichkeit ab. Unter Führung des Pfarrers Carl Ulitzka aus Ratibor, der den Vorsitz der Katholischen Volkspartei (Zentrum) in Oberschlesien innehatte, entschieden sich die meisten Kleriker für Deutschland, während etwa zwei Dutzend – allerdings vielfach politisch sehr aktive – den Anschluss an Polen bevorzugten. Angesichts der vor allem auf dem flachen Lande bestehenden Rechtsunsicherheit erwog man deutscherseits noch wenige Tage vor der Volksabstimmung, zur Nichtbeteiligung aufzurufen. Die Abstimmung am 20. März 1921 vollzog sich dann doch ohne viel Ausschreitungen. Teilnahmeberechtigt waren: 1. im Abstimmungsgebiet Geborene; 2. ebendort Geborene, aber nicht Wohnhafte; 3. ebenda nicht Geborene, aber dort vor dem 1. Januar 1904 ansässige Bewohner; 4. vor 1920 von deutschen Behörden Ausgewiesene. Viele Abstimmende kamen aus anderen Teilen Deutschlands, so aus dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet, in ihre Heimat gefahren.

Bei der Abstimmung votierten 707.554 Männer und Frauen für Deutschland (59,6%) und 478.820 für Polen (40,3%). Die Wahlanalyse ergab, dass alle Städte, mit Ausnahme eines sehr kleinen Ortes, deutsche Mehrheiten aufwiesen. Beamte und Angestellte, die große Mehrzahl der Städter und die Hüttenarbeiter wollten bei Deutschland bleiben, während viele Bergarbeiter und Dorfbewohner für Polen eingetreten waren.

Im Gegensatz zur deutschen Auffassung, dass man das Abstimmungsgebiet als Ganzes behandeln und daher beim Reich belassen müsse, betrieben Polen und Franzosen die Teilung des Gebietes. Um vollendete Tatsachen zu schaffen, begannen am 3. Mai, dem polnischen Nationalfeiertag, nach längerer Vorbereitung die polnischen Insurgenten den 3. Aufstand, der von Warschau unterstützt wurde und zuerst erfolgreich verlief, dann aber am Widerstand der deutschen Freiwilligenverbände („Selbstschutz“) scheiterte, der am 21. Mai das Wahrzeichen Oberschlesiens, den Annaberg, erstürmte.

Der aufgrund einer Empfehlung einer Kommission des Völkerbundrates im Oktober 1921 gefällte Genfer Schiedsspruch bedeutete die Teilung Preußisch-Oberschlesiens. Das Deutsche Reich behielt ein Gebiet mit einer Fläche von 7794 qkm (71% des Abstimmungsgebiets) und einer Bevölkerung von 1.116.500 Personen (53%). Polen wurde zwar der Rest mit einer Fläche von 3214 qkm (29%) und 996.500 Einwohnern (47%) zugesprochen, jedoch erhielt es über 90% der Steinkohlenvorräte und 85% der Zink- und Bleierzgruben. In Deutschland empfand man die Teilung als ungerecht, und sie wirkte kontraproduktiv bei Fragen einer deutsch-polnischen Verständigung und Zusammenarbeit.

Abstimmung und Gebietsteilung prägten sich tief in das Bewusstsein der Oberschlesier ein und waren für die deutschen Oberschlesier die entscheidenden Ereignisse dieses Jahrhunderts bis zur Katastrophe des deutschen Ostens im Jahre 1945. Einen Vorteil brachte die Abstimmungszeit dem „Land unter dem Kreuz“: Für ganz Deutschland trat damals das so lange nicht beachtete und übersehene Gebiet nachhaltig ins Blickfeld.

Lit.: Sigmund Karski: Albert (Wojciech) Korfanty, Dülmen 1990. – Helmut Neubach: Die Abstimmung in Oberschlesien am 20. März 1921, in: Richard Breyer (Hg.): Deutschland und das Recht auf Selbstbestimmung nach dem Ersten Weltkrieg, Bonn 1985, S. 92-129. – Marian Orzechowski: Wojciech Korfanty, Wrocław 1975. – Otto Ulitz: Oberschlesien, 3. Aufl., 1973. – Kurt Urbanek: Plebiszitkom­mis­sar in Oberschlesien, in: Herbert Hupka (Hg.): Leben in Schlesien, 2. Aufl., München 1964, S. 29-42.

Bildquelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Hans-Ludwig Abmeier