Dirigenten gleichen „fahrenden Gesellen“, die sich nur begrenzte Zeit an einem Ort aufhalten und „nach getaner Arbeit“ unaufhaltsam weiterziehen, neuen Zielen und Bewährungsproben entgegen. Nicht Bodenständigkeit und Verwurzelung, sondern Standortveränderung und Stellenwechsel sind signifikante Merkmale ihrer beruflichen Existenz. Ein kurzer Blick auf die Biographie Otto Klemperers belegt das besonders eindrucksvoll: geboren ist er in Breslau, aufgewachsen in Hamburg, studiert hat er in Frankfurt/Main und in Berlin. Seine ersten Verpflichtungen führten ihn nach Prag, Hamburg, Barmen und Straßburg; in Köln (1917-24) und Wiesbaden (1924-27) war er bereits 1. Kapellmeister mit dementsprechend größeren Einflußmöglichkeiten auf die Spielplangestaltung – eine Entwicklung, die in der Berufung Klemperers zum Leiter der Kroll-Oper gipfelte: in diesem Berliner Opernhaus, das ungewöhnlichen und experimentellen Aufführungen vorbehalten sein sollte, fand Klemperer das Betätigungsfeld, auf dem er sich – vor allem wegen seines Engagements für das zeitgenössische Opernschaffen – glänzend bewähren sollte: die Janáček-, Hindemith-, Schönberg-, Křenek- und Strawinksy-Aufführungen in seiner Kroll-Oper erregten sensationelles Aufsehen beim aufgeschlossenen Publikum – aber auch entschiedenes Mißfallen in reaktionären Kreisen, die damals mächtiger wurden und sich schließlich durchsetzten: 1931 wurde die Kroll-Oper geschlossen und Klemperer an die Staatsoper Unter den Linden übernommen; 1933 von den Nazis seines Amtes enthoben, emigrierte er in die USA, leitete lange Zeit das Orchester von Los Angeles und baute das von Pittsburgh auf. Nach dem Krieg kehrte er nach Europa zurück – aber zunächst in den östlichen Teil – und übernahm 1947 die Budapester Staatsoper. Historische Aufnahmen aus der Budapester Zeit wurden erst in jüngster Zeit veröffentlicht.
Daß uns Otto Klemperer als Dirigent auch ohne diese Klangdokumente so vertraut ist, verdanken wir dem Medium Schallplatte: der Produzent Walter Legge hatte 1951 in London das Philharmonia Orchester gegründet, um es vor allem bei Schallplatteneinspielungen einzusetzen. An der Spitze dieses Orchesters machte Klemperer gewissermaßen eine 2. Karriere – und zwar primär als Schallplatten-Dirigent. Seine Aufnahmen wurden von der Fachpresse nicht nur mit Bewunderung, sondern auch mit kritischem Respekt und sogar entschiedener Abneigung aufgenommen. Das galt vor allem für seine Mozart-Einspielungen, an denen sich die Geister schieden: rühmten die einen unkonventionelle Gewichtigkeit und herbe Strenge seiner Mozartdeutung, stießen sich die anderen am offensichtlichen Mangel an Charme und mehr noch an der Langsamkeit seiner Tempi. Der Verfasser bekennt freimütig, daß er nicht umhin kann, den Kritikern in den beiden letztgenannten Punkten recht zu geben. Es handelt sich gewiß um bedeutende Zeugnisse einer eigenwilligen Mozartauffassung – und die Gesamtaufnahrnen der Zauberflöte und des Don Giovanni seien hier als beispielhaft hervorgehoben –, aber das sprichwörtliche, oft zitierte „Mozartglück“ wollte sich beim Abhören der 25 Mozartplatten Klemperers nicht einstellen. Auch von seinen monumental-gewichtigen, gleichwohl beeindruckenden Bach-Aufnahmen scheinen wir uns eher wegzubewegen, wozu sicherlich auch die stärker werdende Beeinflussung unserer Hörgewohnheiten durch die in den letzten Jahren unternommenen Versuche der Annäherung an die historische Aufführungspraxis der Bach-Zeit beigetragen hat.
Ohne Vorbehalte und Bedenken wird man dagegen seine Schumann-, Brahms-, Wagner-, Bruckner- und Mahler-Aufnahmen hören, vor allem aber seine Beethoven-Einspielungen, deren monumentale Wucht und Größe auch heute noch viele Experten überzeugt: so heißt es beispielsweise im 1983 erschienenen Hermes-Handlexikon „Opern auf Schallplatten“ über Klemperers Fidelio-Gesamtaufnahme: „Eine bisher unübertroffene, vielleicht sogar die bisher beste Aufnahme … Klemperer hat den großen Atem für diese Musik und glättet niemals ihre rauhen Stellen.“