Ereignis vom 1. Januar 1877

Im Baltikum wird die Ratsverfassung aufgehoben

Lageplan von Riga um 1900

Um 1180 begann der Mönch Meinhard aus dem Kloster Segeberg, die Liven am Unterlauf der Düna mit gewissem Erfolg zu missionieren. Dafür wurde er zum Bischof geweiht. Sein zweiter Nachfolger, Bischof Albert von Buxhoeveden (1199–1229), intensivierte die Mission, gründete die Stadt Riga (1201) und den Schwertbrüderorden (1202). Er organisierte das Kirchen- und Staatswesen in Alt-Livland auf dem Gebiet der heutigen Staaten Estland und Lettland. So entstand die Livländische Konföderation aus fünf geistlichen Staaten – den Fürstbistümern Riga, Dorpat, Ösel-Wiek und Kurland, eingebettet in das Territorium des Ordens. Die gesellschaftliche Oberschicht in diesem Gebiet bildeten die Deutschen, während die Unterschicht aus Esten und Letten als Bauern und kleine Gewerbetreibende bestand. Mit der Reformation verlor dieses Staatswesen seine geistige Grund­­lage, und in einer längeren Friedenszeit verfielen die Verteidigungsanlagen. Als die moskowiter Rus­sen Mitte des 16. Jahrhunderts das Land angriffen, mußte man sich um fremde Hilfe bemühen. Die nördlichen Landkreise (etwa die Hälfte des heutigen Staates Estland) suchten Schutz bei Schweden und wurden zur schwedischen Provinz Estland. Das übrige Livland rechts der Düna wurde von Polen verteidigt und wurde Provinz Polens. In Livland links der Düna wurde der letzte Landmeister des Ordens „in Livland Herzog von Kurland und Semgallen“ und damit zu vergleichbaren Bedingungen wie der Herzog von Preußen Vasall des Königs von Polen, bis Kurland bei der dritten Teilung Polens (1795) an Rußland fiel. Nun gab es im Land drei soziale und nationale Schichten: die Vertretungen der jeweiligen Landesherren, die Deutschen, die für die innere Verwaltung (Handel, Handwerk und Kirche) zuständig waren, und die estnischen bzw. lettischen Bauern und kleine Gewerbetreibende. Der größte Teil der Bauern geriet in zu­nehmende Leibeigenschaft. Dagegen galt „Stadtluft macht frei“ auch für die Nichtdeutschen. Natürlich gab es gelegentlich auch Personen, die in eine andere Schicht aufstiegen oder absackten. Beides war gewöhnlich mit Volkstumswechsel ver­bunden. 1621 verlor Polen etwa zwei Drittel seines Teils von Livland an Schweden. Die neuen Ober­herrn sagten den jeweils eroberten Gebieten weitgehende Freiheiten zu, sie mischten sich aber doch bald in deren innere Angelegenheiten ein, was stets eine Menge Ärger zur Folge hatte. War Schweden unter König Gustav II. Adolf ein mächtiger Staat geworden und beherrschte es die Ostsee, so verfiel diese Macht unter seinen Nachfolgern. Karl XII. (1682–1718), mit 19 Jahren König geworden, gelang es noch, tief nach Rußland einzudringen, doch wurde er 1709 bei Poltawa entscheidend geschlagen und mußte er sich über das neutrale Ausland nach Schweden zurückziehen. Nun konnte Rußland 1710 die schwedischen Teile Livlands erobern. Bei der Kapitulation sagte Scheremetjew im Namen Peters I. den Estländern und Livländern die angestammte Verwaltung und Gerichtsbarkeit in deutscher Sprache und das freie lutherische Bekenntnis zu. Katharina II. führte zwar 1786/87 die Statthalterschaftsverfassung aufgrund der neuen russischen Stadt- und Adelsordnung ein, doch stellte Zar Paul I. die alten Provinzialverfassungen wieder her. Als dann im Gefolge der Französischen Revolution die nationalistischen Ideen des Panslawismus und der Slawophilie aufkamen, versuchte man russischerseits, mit der Parole „ein Zar, ein Volk, eine Kirche“ die Vereinheitlichung des Staates herbeizuführen. Dies begann, anscheinend harmlos, mit dem Kirchengesetz für die evangelisch-lutherische Kirche Rußlands, doch wurde damit die Sonderstellung der Kirche in den Baltischen Provinzen aufgehoben. In den 1860er Jahren versuchte man seitens der Ostseeprovinzen, das Justizwesen mit dem Rußlands in Einklang zu bringen, stellte diese Versuche aber bald ein, weil man befürchtete, die selbständige Behördenverfassung zu verlieren und ganz der Verwaltung Rußlands unterstellt zu werden, mit dem man sich bisher nur über die Person des Zaren verbunden gefühlt hatte. Am 1. Juni 1867 wurde die Einführung der russischen Geschäfts­sprache in die bisher überwiegend deutsch­sprachigen Kronsbehörden der Ost­see­provinzen angeordnet, doch konnte dies durch Verhandlungen herausgeschoben werden, obwohl Zar Alexander II. bei seinem Besuch in Riga am 15. Juni 1867 gesagt hatte: „Ich wünsche, meine Herren, daß auch Sie zu der einen russischen Familie gehören.“ 1876 wurde die Ein­heit der Ostseeprovinzen dadurch aufgehoben, daß das General­gouvernement aufgelöst und statt seiner die drei Gouvernements Estland, Livland und Kurland gebildet wurden.

Für die Städte der neuen Gouvernements wurde 1877 die russische Städteordnung vorgeschrieben. Bisher hatten sich die Magi­­strate durch Zuwahl selbst ergänzt – vorwiegend aus Kreisen der Großen Gilden und zu etwa einem Drittel aus Juristen. Nun mußte nach drei Steuerklassen gewählt werden, und es bildeten sich je nach der Volkszugehörigkeit (Deutsche, Letten, Russen) drei Wahlkomitees. In Riga erlangten die Deutschen in allen Klassen die Mehrheit. Stadtrat Adolf Hillner bemerkte nach der Wahl, gesiegt habe „die Idee, welche unsere Arbeit beherrschte und ihr das Ziel vorzeichnete, die Idee, daß auch unter der neuen Verfassungsform der organische Zusammenhang zwischen dem geschichtlich Gewordenen und dem neu zu Gestaltenden nach Möglichkeit aufrecht erhalten werden müsse.“ Weiter forderte er, „daß wir unseren Wahlsieg nicht in engherzigem Parteiinteresse ausbeuten wollen, sondern uns verpflich­tet fühlen, der Wohlfahrt unserer Stadt ins­gesamt zu dienen.“ In Reval wurde in der 3. Klasse die konservative Ratspartei von einem liberalen Bündnis aus Esten, Russen und einigen Deutschen überflügelt. In Riga, Dorpat, Per­nau, Hapsal, Weißenstein, Mitau und Hasenpoth konnten die deutschen Mehrheiten sich bis in den Ersten Weltkrieg halten. Dagegen gingen sie in vielen Kleinstädten verloren, und damit erloschen wichtige Mittelpunkte des deutschen Lebens. Mit der neuen Verfassung wurde auch die Verwaltungssprache russisch, desgleichen die Gerichtssprache und die Schulsprache. In der Verwaltung konnte man mehr auf den mündlichen Verkehr übergehen, und gelegentlich behalf man sich damit, ein deutsches Wort mit russischen Buchstaben zu schreiben. Bei den Gerichten war dies schon viel schwieriger. Es gab im Lande nicht genügend Juristen, die das Russische beherrschten. Zudem wurden aus dem Inneren Rußlands Richter in die Ostseeprovinzen versetzt, die keine der Landes­sprachen beherrschten und die örtlichen Verhältnisse nicht kannten. Rich­ter, Angeklagte und Anwälte konnten nicht mehr miteinander sprechen und waren auf Dolmetscher angewiesen, was den Lauf der Verhandlungen wesentlich erschwerte. Sehr schwierig wur­de es auch für die Schu­len. Es kamen nun russische Lehrer in deutsche Kollegien, so dass man mit seinen Äußerungen sehr vorsichtig sein mußte. Die Schü­ler kamen fast ohne Kenntnis der russischen Sprache zur Schule, wo sie alle Fächer in dieser Sprache lernen sollten, und das von Lehrern, die oft ebenfalls Schwierigkeiten mit ihr hatten. Wer die Gelegenheit dazu hatte, schickte seine Kinder nach Moskau oder St. Petersburg, wo deutsche Schulen zugelassen waren, oder gar nach Deutschland. Der weitaus größte Teil der Schüler aber mußte im Lande bleiben. Da auch die Privatschulen in russischer Sprache zu unterrichten hatten, schlossen die Ritterschaften die von ihnen unterhaltenen Schulen und halfen lieber, die sogenannten „Kreise“ zu finanzieren, wobei es sich um kleine Gruppen von Schülern handelte, die abwechselnd hier und da in Privatwohnungen von Privatlehrern in deutscher Sprache unterrichtet wurden. Da die­se Art des Unterrichts nicht statthaft war, durfte man nicht auf­fallen. Die Kinder sollten daher keine Schultaschen tragen und nicht in größeren Gruppen auf der Straße zu sehen sein.

Die Gouverneure erhielten in der Folge noch weiter reichende Rechte, in die Verwaltung der Städte einzugreifen. Zusätzliche Verordnungen beschleunigten die geschilderte Entwicklung. Lediglich die theologische Fakultät der Universität Dorpat (umbenannt in Jurjew) blieb deutsch. Darauf legte man russischerseits Wert, da man verhindern wollte, daß etwa evangelische Gemeinden in russischer Sprache entstehen könnten.

Lit.: B. Hollander: Riga im 19. Jahrhundert, Riga 1926. – R. Wittram: Baltische Geschichte, 1180–1918, München 1954.

 Bild:  / Quelle: Von unbekannt – Lexikoneintrag zu Riga, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage, Band 16, Leipzig/Wien 1908, S. 931-933., PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=11609429

Friedrich Blum (OGT 2002, 391)