Auch wenn man in der germanistischen Literaturwissenschaft davon abgekommen ist, die ersten schriftstellerischen Unternehmungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Stunde Null zu bezeichnen, hat es Günter Eich geschafft, mit seiner Lyrik ein kollektives Gefühl von Zusammenbruch und Neuanfang zu verkörpern. Sein bekanntestes Gedicht Inventur („Dies ist meine Mütze, / dies ist mein Mantel, / hier mein Rasierzeug / im Beutel aus Leinen /…“) ist der lyrische Kronzeuge für den Begriff Kahlschlagliteratur, den Wolfgang Weyrauch in dem von ihm herausgegebenen ErzählbandTausend Gramm prägte. Auch über 60 Jahre nach Kriegsende hat das Gedicht, das Eich 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft schrieb, mit seiner nüchternen, emotions- und reimlosen Sprache nichts an seiner Aussagekraft verloren und steht stellvertretend für die Situation von Millionen Menschen in ganz Europa nach Kriegsende. Doch wäre es viel zu kurz gegriffen nur dieses eine Gedicht zum Referenzpunkt für Eichs Literatur und Leben zu machen. Erst wenn der Blick weiter geöffnet wird, ist man in der Lage, den Menschen und Schriftsteller Eich in seiner Gesamtheit zu verstehen.
Günter Eich wurde am 1. Februar 1907 in der kleinen Stadt Lebus nördlich von Frankfurt/Oder geboren. Durch die beruflichen Tätigkeiten des Vaters Otto Eich (1874-1942), war die Familie gezwungen, oft umzuziehen. Im Jahr 1918, als der Vater eine Stelle als Buchprüfer und Steuerberater in Berlin bekam, starb Eichs Mutter Helen (geb. 1880). Sein Abitur legte der Dichter – nach einem erneuten Umzug – 1925 in Leipzig ab. Nach dem Schulabschluss studierte er von 1925 bis 1932 in Berlin, Leipzig und Paris Jura, Volkswirtschaft und Sinologie. Bereits während seines Studiums erfolgten erste Veröffentlichungen. Unter dem Pseudonym Erich Günter erscheinen verschiedene Gedichte in der von Klaus Mann und Willi Fehse herausgegebenenAnthologie jüngster Lyrik. 1930 brachte es Eich mit dem Band Gedichte zur ersten selbständigen Veröffentlichung. In der folgenden Zeit erschienen weitere Werke, darunter auch die ersten kleineren Hörspiele. Als er sich infolge von mehr und mehr Aufträgen als freier Schriftsteller etablieren und somit davon auch leben konnte, brach er sein Studium 1932 ab.
Die Zeit bis 1939 gehörte dann zu den produktivsten seiner literarischen Karriere. Eich schrieb und veröffentlichte eine Vielzahl von Hörspielen. Seine Rolle als Schriftsteller im Dritten Reich lässt sich weder mit innerer Immigration, Mitläufertum oder als Sympathisantentum beschreiben. Als Autor, der sich erst in den dreißiger Jahren zu profilieren begann, stand der Broterwerb im Vordergrund. Politisch wurde Eich erst durch den Krieg. Dieser war für ihn – wie bei so vielen anderen Menschen – ein Einschnitt in seinem Leben. Im August 1939 wurde er als Funker zur Luftwaffe eingezogen. Durch seine Bekanntheit und mit Hilfe von Jürgen Eggebrecht hatte Eich zwar ein leichtes Soldatenleben in der Zensurstelle für Wehrmachtsbüchereien in Berlin, was sich aber änderte, als er 1944/45 zur Luftverteidigung zuerst nach Bayern und dann ins Ruhrgebiet beordert wurde. Im letzten Kriegsjahr geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der man ihn aber bereits im Sommer 1945 wieder entließ. Seinen persönlichen Kahlschlag hatte er bereits zwei Jahre zuvor erlebt. 1943 gingen fast alle seine Manuskripte bei einem Bombenangriff auf sein Berliner Haus in den Flammen verloren. Die Zeit in Gefangenschaft markierte einen wichtigen Punkt im Leben des Dichters. Einerseits entstanden in dieser Zeit seine Meisterwerke lakonischer Lyrik wie Inventur,Latrine oder Blick nach Remagen. Andererseits kam er in dieser Zeit mit dem Wirken von Hans Werner Richter und Alfred Andersch in Kontakt. Eich veröffentlichte ab 1946 in deren ZeitschriftDer Ruf und wird ein Jahr später Mitbegründer der legendären Gruppe 47 – der literarischen Gruppe bekannter und berühmter Schriftsteller, die sich bis 1967 auf Einladung von Richter unregelmäßig trafen und sich gegenseitig aus ihren Werken vorlasen. Für die GedichtsammlungAbgelegene Gehöfte, die 1948 erschien und in dem sich neben den Gedichten des Kahlschlags auch solche befinden, die sich Mustern der Romantik und des Jungen Deutschlands bedienen, erhielt Eich 1950 als erster den Preis der Gruppe 47. Im Laufe seines Lebens sollte der Dichter dann noch weitere Preise verliehen bekommen: 1952 den Hörspielpreis der Kriegsblinden und 1959 den Georg-Büchner-Preis – den bedeutendsten deutschen Literaturpreis. Im darauf folgenden Jahr erhielt er darüber hinaus noch den Schleußner-Schueller-Preis des Hessischen Rundfunks. Es folgte dann 1968 noch der Schiller-Gedächtnispreis des Landes Baden-Württemberg. 1953 heiratete er die bekannte Schriftstellerin Ilse Aichinger, mit der er zwei Kinder, Clemens (1954-1998) und Miriam (geb. 1957) hatte. Zuvor war er bereits von 1940 bis 1949 mit Else Burk verheiratet.
Die Jahre nach dem Krieg blieben für Eich literarisch äußerst produktiv. Neben weiteren Gedichten – es erschienen die GedichtsammlungenUntergrundbahn (1949), Botschaften des Regens(1955),Ausgewählte Gedichte (1960), Zu den Akten. Gedichte (1964), Anlässe und Steingärten (1966), sowie postumNach Seumes Papieren (1972) – stachen dabei vor allem die Hörspiele hervor. In den 50er Jahren waren diese äußerst beliebt. Eich verstand es wie kaum ein anderer, in dieser Gattung zu brillieren, nicht umsonst „sprach [man] vom ‚Eich-Maß‘ für Hörspielqualität“ (Joachim Kaiser). Unter allen seinen Radioproduktionen ragten dieTräume heraus. Aus verschiedenen Kurzhörspielen zusammengesetzt, verarbeitete der Autor in seinem Meisterwerk seine Eindrücke der Kriegs- und Nachkriegszeit. Die Darstellung eines „anarchische[n] Katastrophengefühl“ (Joachim Kaiser) von Angst, (Atom-)Krieg und menschlichen Abgründen, welches als Träume realer Personen inszeniert wird, rief bei der Erstausstrahlung in der Öffentlichkeit äußerst heftige, verstörte Reaktionen hervor. Dennoch ist die Qualität des Hörspiels unbestritten – 2007 wurde es vom NDR neu interpretiert und erhielt den Hörspielpreis des Monats Januar 2007 der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Das Werk Eichs ist aber um einiges vielschichtiger. Zwischen 1949 und 1952 entstanden etwa 100 Nachdichtungen von Lyrik chinesischer Autoren. Zum Ende seines Lebens machte er mit den ProsadichtungenMaulwürfe (1968) undEin Tibeter in meinem Büro (1970), die sich durch eine groteske und humoristische Sprache auszeichnen, Furore. Gesundheitlich ging es ihm zu diesem Zeitpunkt immer schlechter. Nach ersten Herzanfällen im Jahr 1970 folgten mehrere Kuraufenthalte. Am 20. Dezember 1972 verstarb Günter Eich nach einem zweiten Herzinfarkt in Salzburg. Mit ihm starb eine der interessantesten, aber auch schwierigsten Gestalten des literarischen Nachkriegsdeutschlands. Ihm zu Ehren gibt es zwei Günter-Eich-Preise. Der Günter-Eich-Preis für Lyrik wurde nur dreimal verliehen, wobei Eichs Frau Ilse Aichinger 1984 die erste Preisträgerin war. Seit 2007 wird alle zwei Jahre der Günter-Eich-Preis für Hörspiele verliehen. Erster Preisträger war Alfred Behrens.
Iris Radisch unterscheidet im Konsens mit der literaturwissenschaftlichen Forschung drei Schaffensphasen im Leben des Autors. Die romantische Vorkriegsphase, die neusachliche Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie die abschließende experimentelle Phase. Eine Betrachtung des Gesamtwerks von Günter Eich erweist sich dabei als keine leichte Aufgabe, was auch an der Tatsache liegen mag, dass der Autor selbst seinen Werken immer äußerst kritisch gegenüber stand. Als Autor des Zeitgeistes und der Zeitkritik, ohne jemals tendenziell zu wirken, verachtete er seine frühen sentimentalen Arbeiten. Von seinen GedichtbändenAbgelegene Gehöfte und Botschaften des Regens wollte er später nichts mehr wissen. Ebenso kritischstand er seinem Prosawerk Züge im Nebel von 1947 gegenüber, das gegen den Willen des Autors mehrmals in Schulbüchern abgedruckt wurde. Eine Entwicklung ist in seinem Werk durchaus feststellbar. Den unausgereiften, pathetischen Hörspielen der dreißiger Jahre stehen qualitativ hochwertige Arbeiten nach dem Krieg gegenüber, er gilt deshalb nicht umsonst als Begründer des poetischen Hörspiels. Auch lyrisch verbindet den jungen„herzfromm[en]“ Autoren (Iris Radisch) wenig mit dem späteren Gedichteschreiber. Einem schwächeren Frühwerk steht das geniale, innovative spätere Werk gegenüber.
Berühmt geworden sind die letzten Zeilen aus den Träumen. Werden sie hauptsächlich als programmatische Aussage zur Aufgabe des Schriftstellers gelesen, so verbirgt sich doch mehr in ihnen. Günter Eich appelliert hier an seinen Berufsstand, aber auch an die gesamte Gesellschaft, niemals den kritischen Blick auf das Ganze zu verlieren:
„Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen! Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“.
Werke: Gesammelte Werke in vier Bänden, Frankfurt/M. 1991: Band I, hrsg. von Axel Vieregg: Die Gedichte. Die Maulwürfe; Band II, hrsg. von Karl Karst: Die Hörspiele 1.; Band III, hrsg. von Karl Karst: Die Hörspiele 2.; Band IV, hrsg. von Axel Vieregg: Vermischte Schriften.
Lit.: Siegfried Unseld (Hrsg.), Günter Eich zum Gedächtnis, Frankfurt/M. 1973. – Klaus Dieter Post, Günter Eich. Zwischen Angst und Einverständnis, Bonn 1977. – Joachim W. Storck, Günter Eich 1907-1972, in: Marbacher Magazin 45, 1988, Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 1988. – Axel Vieregg, Der eigenen Fehlbarkeit begegnet – Günter Eichs Realitäten 1933-1945, Edition Isele, Eggingen 1993. – Hans-Ulrich Wagner, Günter Eich und der Rundfunk. Essay und Dokumentation, Verlag für Berlin-Brandenburg 1999. – Jürgen Joachimsthaler, Günter Eich im bundesrepublikanischen Kontext, in: Marek Zybura (Hrsg.), Geist und Macht. Schriftsteller und Staat im Mitteleuropa des „kurzen Jahrhunderts“ 1914-1991, Dresden 2002 (= Arbeiten zur Neueren deutschen Literatur 9), S. 255-285. – Aura Maria Heydenreich, Wachstafel und Weltformel. Erinnerungspoetik und Wissenschaftskritik in Günter Eichs „Maulwürfen“. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007. – Peter Horst Neumann, Die Rettung der Poesie im Unsinn. Über Günter Eich, Aachen 2007. – Iris Radisch, „Absicht des Anarchischen“. Zum 100. Geburtstag des bedeutendsten Dichters der deutschen Nachkriegsliteratur, in: DIE ZEIT, 1. Februar 2007, Nr. 6.
Bild: https://www.hdg.de/lemo/html/biografien/EichGuenter/
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCnter_Eich
Christoph Meurer