Obwohl er bis heute nicht übertroffene Standard-Werke über die Sowjetunion geschrieben hatte, die in Weltsprachen übersetzt wurden, ist Walter Kolarz fünfzig Jahre nach seinem frühen Tod fast vergessen. Dabei ist aber seine Darstellung der nationalen und religiösen Vielfalt in der alten Sowjetunion immer noch unumgänglich, um Konfliktherde und Auseinandersetzungen ethnischer Gruppen in den Nachfolgestaaten der UdSSR zu verstehen.
Walter Kolarz wurde im nordböhmischen Kurort Teplitz geboren, eine Kleinstadt, die durch ihre Heilquellen auch Goethe, Beethoven und österreichische Kaiserinnen angezogen hatte und in der ein beispielhaftes kulturelles Leben herrschte, ja die eine der „geistig lebendigsten Städte unserer Heimat“ war (E. Franzel). Sein Vater war städtischer Kurdirektor, die Mutter stammte aus einer jüdischen Familie. Nach dem Besuch des Gymnasiums in seiner Vaterstadt studierte er in Prag an der „Freien Schule für Politische Wissenschaften“, an der auch Erich Franzel lehrte. Schon früh hatte sich Kolarz in der sozialistischen Jugend engagiert und später in der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei (SDAP), da für ihn als „getauften Halbjuden“ die Partei eine Art Ersatz-Kirche war. Als er 1958 bei der Jahresversammlung des Sudetendeutschen Priesterwerks in Königstein referierte, überließ er Prälat Kindermann ein Manuskript über seinen religiösen Werdegang, das nach seinem Tod veröffentlicht wurde und mit der Einleitung von Emil Franzel eine aufschlussreiche Analyse des sudetendeutschen Katholizismus darstellt.
1934 ging er für den Prager Orbis-Verlag als Zeitungskorrespondent nach Berlin, von wo er 1936 ausgewiesen wurde. Im gleichen Jahr ließ er sich als Korrespondent in Paris nieder, wo er die Russin Alexandra Lipovskaja kennen lernte, die er später heiratete. Nach der Besetzung Frankreichs 1940 ging er nach London, wo er Anschluss an die heimatfreie Sudeten-Emigration fand und später für die Osteuropa-Abteilung der British Broadcasting Corporation (BBC) arbeitete, seit 1949 als Abteilungsleiter in London versuchte er wie Wenzel Jaksch vergeblich, die tschechoslowakische Exilregierung von ihren Vertreibungsplänen abzubringen. In seiner Pariser Zeit war er ausländischer Korrespondent in Spanien gewesen und begann dort bereits am Sinn des Bürgerkrieges als eine eingeleitete sozialistische Revolution zu zweifeln. Deshalb erforschte er das Land, in der der marxistisch-leninistische Kommunismus bereits herrschte, die Sowjetunion. Es entstanden, zunächst auf Deutsch, Bücher wie Stalin und das Ewige Russland, die dann ins Englische übersetzt wurden. Sein Buch über Südosteuropa Myths and Realities in South Eastern Europe erschien bereits in Englisch; auch eines seiner Standardwerke, Russia and her Colo-nies, erschien 1952 auf Englisch und erst vier Jahre später in deutscher Übersetzung mit einem abgeschwächten Titel Die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion. Es ist wie sein Buch Religion in the Sowjetunion, das erst nach seinem Tode auf Deutsch erschien, bis heute unübertroffen. Akribisch, aber lebendig und lesbar, informiert Kolarz in beiden Büchern buchstäblich auch über die kleinsten ethnischen und religiösen Gruppen und zeigt die sowjetische Taktik des „Divide et impera“, um den Klassenfeind, die Religion, ja alle „Gegner“ zu überwinden. Als Leiter der Ostabteilung der BBC unternahm er große Reisen nach Afrika.
Kolarz starb 1962 in London an einem Herzleiden.
Werke: Stalin und das Ewige Russland, London 1942. (Engl.: Stalin and Eternal Russia, London 1944). – How Russia is ruled, London 1953 (Übersetzung in verschiedenen Sprachen). – The Peoples of the Soviet Far East, London 1954. (Dt.: Russland und seine asiatischen Völker, Frankfurt 1956). Religion und Communism in Africa. Oxford 1963.
Lit.: Nachrufe erschienen u. a. in The Times 23.07.1962; The Guardian 24.07.1962; Catholic Herald 27.07.1962; Die Brücke (München) 11.08.1962; Volksbote 14 (München) 1962, Nr. 31.; Sudetendeutscher Artikeldienst 9 (1962), Nr. 16; Sudetenland 4 (1962), S. 290-292; Sudetenjahrbuch 1964, S. 83f. – Zu seinem posthum erschienenen Bekenntis „Mein religiöser Werdegang“ in Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien 1 (1967), S. 185-2012, schrieb Emil Franzel 1965 eine Einleitung (S. 185-193).
Bild: Walter Kolarz: Communisme en kolonialisme, in: Tijdsignalen 6, Tilburg 1965.
Rudolf Grulich