Profil
Die „Forschungsstelle Ethnische Vertreibungen“ (FSEV) ist ein Arbeitsbereich innerhalb der 1974 gegründeten „Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen für Wissenschaft und Forschung“. Zentrales Thema der FSEV ist die Geschichte der ethnisch begründeten Vertreibungen einschließlich der langen Vor- und Nachgeschichte der Vertreibung der Deutschen aus ihren Staats- und Siedlungsgebieten im östlichen Europa ab 1945 wie auch der Historie anderer Vertreibungsgebiete weltweit. Damit zusammenhängenden Fragen der Spätaussiedler und nationalen Minderheiten widmet die FSEV ebenfalls ihr Augenmerk.
Ethnische Vertreibungen und ihre Folgen werden im Migrationsdiskurs von heute manchmal undifferenziert mit anderen Formen erzwungenen Heimatverlusts oder auch mit wirtschaftlich motivierten Wanderungsbewegungen gleichgesetzt. Im Unterschied dazu liegt ethnischen Vertreibungen als spezifischer Form von „Gewaltmigration“ die Absicht von Tätern zugrunde, bestimmte ethnische oder ethno-religiös definierte Gruppen als solche zu zerstören und Menschen wegen ihrer bloßen Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Gruppe kollektiv zu verfolgen. Ethnische Vertreibungen haben sich deshalb vielfach als irreversibel erwiesen.
Sie erreichten in den Jahren während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa und auf dem indischen Subkontinent bei der Vertreibung von 15 Millionen Deutschen und etwa ebenso vielen Hindus, Muslimen und Sikhs ihren bisherigen Höhepunkt. Doch bereits Jahrzehnte vorher waren sie im Zeitalter des Nationalismus und der Ideologie des ethnisch homogenen Nationalstaats auf dem Balkan oder beim sog. griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch 1922/23 zu einer Geißel der Menschheit geworden. Sie sind es von Berg-Karabach bis Darfur bis heute geblieben und weltweit aktueller denn je.
Gründungsimpuls und erinnerungskulturelle Ausgangslage
80 Jahre ist es her, dass nach dem rassenideologischen Angriffskrieg des NS-Regimes gegen viele Völker Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas die heute sog. „ethnische Säuberung“ der Region von den dort lebenden Deutschen zunächst „wild“, wenngleich bereits von oben angeordnet, dann organisierter, aber weiterhin chaotisch und inhuman in Form riesiger Massentransporte einsetzte. Der Verlust der Heimat vieler Millionen Menschen in Gebieten, die oft über sieben, acht Jahrhunderte ein Teil der Kultur und Geschichte Deutschlands bzw. aufs Engste damit verbunden waren, bedeutete „eines der folgenschwersten Ereignisse der europäischen Geschichte überhaupt und eine der größten Katastrophen in der Entwicklung des deutschen Volkes“ (Th. Schieder).
Die Geschichte der Vertreibung, zu der auch die lange Vorgeschichte der betroffenen preußisch-deutschen Staatsgebiete (Ostbrandenburg, Ostpreußen, das östliche Pommern und Schlesien), der Freien Stadt Danzig und der historischen deutschen Siedlungsgebiete vom Baltikum über das Wolgagebiet bis ins Banat gehört, hat in der Bundesrepublik seit 1949 kaum je eine angemessene Berücksichtigung in Forschung und Lehre gefunden. In den 1950er Jahren bestehende Hoffnungen, die im Blick auf das kommunistische Sowjetrussland neu geschaffenen Professuren für Osteuropäische Geschichte würden die besagten Themen gleichsam automatisch mitberücksichtigen, erfüllten sich nur teilweise.
Das lag auch daran, dass die vielen Jahrhunderte „deutscher Geschichte im Osten Europas“, wie der Siedler-Verlag eine zehnbändige Reihe 1992 programmatisch umschrieb, nicht einfach in „osteuropäischer Geschichte“ aufgehen. Sie bleiben ‒ auch ‒ integraler Bestandteil der allgemeinen deutschen Geschichte. Dies festzuhalten ist umso wichtiger, als beim notwendigen Bemühen, Deutschtums-Paradigmen altvölkischer Ostforschung zu überwinden und den deutschen Anteil an der Entwicklung des Raumes nicht mehr zu überhöhen, das Kind manchmal mit dem Bade ausgeschüttet wurde. Heute stehen, wenn überhaupt, vor allem multi-kulturelle, trans-nationale und inter-ethnische Fragestellungen im Vordergrund, während andere Themen etwa historischer Demokratie- und politischer Kulturforschung von der Paulskirche bis zur Weimarer Republik weniger intensiv berücksichtigt werden, wobei die Bezüge der Vertreibungsgebiete zur allgemeinen deutschen Geschichte verblassen.
Angesichts des ausbaufähigen Forschungsstandes etwa auch zur Arbeiterbewegung oder zu liberalen und konservativen Parteien und Verbänden im preußischen Osten kann nur ein Verhallen des vor Jahrzehnten erfolgten Appells von Klaus Zernack konstatiert werden: Die Gegenstände der Landesgeschichte Ostdeutschlands seien durch den Untergang Preußens und des Reichs zwar „zum größten Teil in andere nationale Lebenszusammenhänge geraten“, das bedeute aber nicht, dass Ost- und Westpreußen, Pommern, Schlesien und Ostbrandenburg damit auch komplett „aus dem historischen Lebenszusammenhang der deutschen Geschichte herausgetreten“ wären. Für das Sudetenland und andere Kulturlandschaften lässt sich bei je spezifischen Gegebenheiten Ähnliches sagen.
Bislang ist es nur bedingt gelungen, den Auftrag des Paragraphen 96 des Bundesgesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge zu erfüllen und die früheren Staats- und Siedlungsgebiete als kulturelles Erbe im kollektiven Bewusstsein der Nation und Europas zu erhalten. Die Sensibilität für diesen wichtigen Bereich deutscher Erinnerungskultur droht mit dem Abtreten der „Erlebnisgeneration“ der Vertriebenen noch weiter aus der historischen Identität unserer Gesellschaft zu verschwinden.
Das wäre aber nicht nur aus Gründen nationaler Selbstvergewisserung problematisch, nicht nur deshalb, weil der Untergang des historischen „deutschen Ostens“ als zentrales Element bundesrepublikanischer „Vergangenheitsbewältigung“ uns daran erinnert, welche Wunden die Vergötzung der eigenen Nation im NS-Wahn dieser auch selbst zugefügt hat und welche Narben davon bleiben. Es wäre vielmehr auch im Hinblick auf unsere europäische Zukunft problematisch. Denn die Pflege des Kulturerbes der Vertriebenen ist längst zu einer wichtigen Brücke zwischen dem heutigen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn geworden: eine Brücke, die auch für die Vertiefung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den östlichen EU-Ländern einen unschätzbaren „Standortvorteil“ bedeutet.
Vor diesem Hintergrund ist es ein Anliegen der FSEV dazu beizutragen, dass Wissenschaftlern, Heimatforschern, Touristikern und allen anderen Bürgern im östlichen Europa, die sich mit dem kulturellen Erbe der betreffenden Regionen befassen, nicht wegen Desinteresses auf deutscher Seite allmählich die Dialogpartner ausgehen. Das wird langfristig nur gelingen, indem man die historische Forschung auch zu Themen, die im freien Spiel der wissenschaftlichen Kräfte ein dreiviertel Jahrhundert lang zu wenig Beachtung gefunden haben, intensiver fördert als bislang. An dieser gleichermaßen nationalen wie europäischen Aufgabe durch geeignete Veranstaltungen, eigene Studien und die Unterstützung thematisch wichtiger Arbeiten Dritter mitzuwirken, ist das Ziel der „Forschungsstelle Ethnische Vertreibungen“. Als Arbeitsbereich der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen für Wissenschaft und Forschung leistet sie mit ihrem auch ehrenamtlich unterstützten Engagement einen zivilgesellschaftlichen Beitrag zur Förderung einer stabilen Demokratie in der Bundesrepublik und einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur.
Leitung der FSEV
Prof. Dr. Manfred Kittel, Zeithistoriker und Publizist
Publikationsreihe
Forschungen zur Geschichte ethnischer Vertreibung (beim Verlag Duncker & Humblot)
Laufende Projekte:
Auswahledition des nie erschienenen Ergebnisbandes der von Theodor Schieder herausgegebenen „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“
Tagungsband zur Bedeutung der Kirchen für den Integrationsprozess der Heimatvertriebenen und das kulturelle Leben der Heimatverbliebenen nach 1945