Biographie

Lindner, Paul

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Mikrobiologe
* 24. April 1861 in Geismannsdorf bei Neisse/OS
† 4. Januar 1945 in Donaueschingen

Paul Lindner kam als Sohn des Brennereibesitzers Anton Lindner und seiner Ehefrau Anna (geborene Nachtigall) zur Welt und wurde auf den Namen Paul Georg Carl getauft, nannte sich selbst aber in all seinen nahezu 350 Veröffentlichungen stets nur Paul Lindner.

1879 beendete er seine schulische Ausbildung mit dem am Real­gymnasium in Neisse abgelegten Abitur und begann ein Studium an der Bauakademie in Berlin, da er sich dem Ingenieurfach widmen wollte. Ab 1881 wechselte er jedoch zu den Naturwissenschaften und studierte diese in Breslau, Leipzig und Berlin. Ab 1886 arbeitete im Institut von Robert Koch und erlernte dort mikrobiologische Arbeitsmethoden, die er später bei seinen gärungsbiologischen Arbeiten sehr erfolgreich anwenden konnte. Er wechselte schon bald in die Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei in Berlin. Seine dort entstandene Dissertation über Sarcina-Organismen der Gärungsgewerbe verteidigte er 1888 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin und wurde damit zum Dr. phil. promoviert. Schon 1887 wurde er Leiter der Abteilung für Reinkultur an der 1883 gegründeten Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei. Dieser Einrichtung, die später in Institut für Gärungstechnologie umbenannt wurde, blieb er bis zum Ausscheiden aus dem Berufsleben treu. Hier konnte er wesentliche Neuerungen bei der Reinkultur der Hefen selbst entwickeln und die Verursacher verschiedener Gärungsvorgänge erstmals nachweisen und beschreiben. 1897 wurde er zum Professor ernannt. Als Leiter der biologischen Abteilung hielt er regelmäßig botanische Vorlesungen, die auch in gedruckter Form erschienen. Neben den Hefen als wichtigsten Gärungserregern beschäftigte er sich mit unterschiedlichen mikroskopischen Pilzen und war sehr intensiv um die allgemeine Verbreitung mikrobiologischer Kenntnisse bemüht. Außerdem beschäftigte er sich intensiv mit Fragen der Fotografie, insbesondere zur besseren Darstellung von Mikroorganismen. Auf diese unterschiedlichen Tätigkeitsfelder soll nun etwas genauer eingegangen werden.

Ein bleibender Verdienst Paul Lindners ist die Einführung neuer oder verbesserter Kulturmethoden in die mikrobiologische Praxis, die heute allgemein als Tröpfchen-, Federstrich- und Pinselstrichkultur angewandt werden. Bei der Tröpf­chen­kultur geht es darum, Mikroorganismen wie Hefen oder Bakterien sich in kleinsten hängenden Tröpfchen ungestört entwickeln zu lassen und in diesem Zustand zu beobachten. Zuvor war es üblich gewesen, die Organismen aus einer Kultur zu entnehmen und auf einem Objektträger auszustreichen, um sie dann im Mikroskop zu betrachten. Dabei werden jedoch die sich in der Kultur entwickelnden charakteristischen Zellketten oder Kolonien in der Regel zerstört und es können nur Einzelzellen beobachtet werden. Bei der neuen Methode lässt man nun die Kolonien sich ungehindert in einem auf der Unterseite eines Deckglases hängenden Tröpfchen des Kulturmediums entwickeln. Das Deckgläschen wird dicht über dem Objektträger mit Vaseline befestigt, um das Verdunsten der Kulturflüssigkeit zu verhindern, und die Kulturen können sich so in den einzelnen Tröpfchen über Stunden oder auch Tage ungestört entwickeln und dennoch betrachtet oder auch in verschiedenen Abständen fotografiert werden. Lindener bekam die Idee zu dieser Methode, wie er selbst mitteilte, bei einer Zugfahrt im Regen. Er beobachtete dabei, wie die großen Tropfen von den Scheiben abliefen während die kleinsten Tröpfchen auch bei höherer Fahrtgeschwindigkeit nahezu fest saßen. Das zeigte, dass Kleinkulturen in Tröpfchenform transportiert werden können. Er nutzte dieses Verfahren auch schon bald in den Praktika der von ihm auszubildenden Gärungstechnologen. Jeder Student stellte ausgehend von Reinkulturen seine eigenen Präparate her und beobachtete diese über Tage hinweg immer wieder und konnte so das Wachstum der Kolonien selbst verfolgen.

Lindner erkannte schon bald, dass eine Vielzahl von Mikroorganismen an Gärungsvorgängen in der Natur beteiligt sein kann und daher im Brauereibetrieb nur mit Reinkulturen gearbeitet werden sollte, um eine gleichbleibende Qualität der Gärungsprodukte zu gewährleisten. Verunreinigungen der Bierhefe durch Bakterien können wiederum mit mikrobiologischen Methoden eindeutig nachgewiesen werden. Sein Interesse ging jedoch weit über die unmittelbar in der Gärungstechnologie verwendeten Organismen hinaus. So kultivierte und beschrieb er Hefen aus den Wundflüssen der Bäume und aus Früchten und konnte zeigen, dass Gärungsvorgänge überall in der Naturvorkommen und dass der durch Hefen in der Natur produzierte Alkohol von anderen Organismen oder den Hefen selbst weiter umgewandelt wird, und dadurch Hefen unter geeigneten Bedingungen auch in der Lage sind, erhebliche Mengen an Fetten aufzubauen. Auf Grund seiner umfassenden Kenntnisse konnte er bereits 1905 die Hefen in der Kryptogamenflora der Mark Brandenburg zusammenfassend behandeln.

Die Forschungen zur Fettbildung durch Hefen wurden während des ersten Weltkrieges besonders forciert und es gelang, aus Melasse oder Sulfitzellstofflauge und synthetischem Harnstoff in kleinen Versuchsanlagen befriedigende Ausbeuten an Fett zu erhalten. Zum Schluss fehlte im Krieg aber das Metall, um im Großbetrieb die nötigen Oberflächen zu schaffen, wie Lindner später selbst mitteilte. Sein Wissen legte er nicht nur in zahlreichen Veröffentlichungen in der Wochenschrift für Brauerei und den Berichten der Deutschen Botanischen Gesellschaft dar, sondern er verfasste auch einschlägige Lehrbücher unter denen der bis 1930 in sechs Auflagen erschienene Band Mikroskopische und biologische Betriebskontrolle im Gärungsgewerbe besonders zu nennen ist. Parallel dazu veröffentlichte er einen Atlas der mikroskopischen Grundlagen der Gärungskunde, der auch drei Auflagen erlebte. Die in diesem Atlas vorgelegten fotografischen Abbildungen von Mikroorganismen standen lange Zeit einzig dar und wurden auch im Ausland vielfach abgesetzt, da eine englische und eine französische Übersetzung der Texte vom Verlag angeboten wurde. Paul Lindner hatte sehr früh die Möglichkeiten der Mikrofotografie erkannt und genutzt, was schließlich zur intensiven Beschäftigung mit Fotografie führte. Er nutzte die Fotografie dabei nicht nur als einer der ersten zur Darstellung unterschiedlicher Mikroorganismen sondern auch zur Dokumentation des Koloniewachstums und zur Ermittlung von Vermehrungsraten, also zur Biometrie.

Da ihn die Ergebnisse herkömmlicher Fotografien nicht immer befriedigten, experimentierte er auch mit Verfahren der direkten Belichtung lichtempfindlicher Papiere und erzielte mit derartigen Photogrammen bei verschiedenen Objekten bessere Erfolge als bei der Verwendung einer Kamera. Insbesondere Feinstrukturen konnten so deutlicher dargestellt werden. Die Ergebnisse dieser Experimente trug er mehrfach in den Versammlungen der Deutschen Botanischen Gesellschaft vor. Schließlich veröffentlichte er 1920 ein Bändchen Photographie ohne Kamera als Band 29 der von der Union Deutsche Verlagsgesellschaft herausgegebenen Photographischen Bibliothek. Dieses Werk wird heute als erste Auseinandersetzung mit Schattenbildern oder Photogrammen in Buchform angesehen, so dass man feststellen kann, dass Paul Lindner auch auf fotografischem Gebiet Pionierarbeit leistete.

Von besonderer Bedeutung ist schließlich auch sein Bemühen mikrobiologische Kenntnisse zu popularisieren. So veröffentlichte er nicht nur mehrfach Aufsätze im Mikrokosmos sondern auch in den Zeitschriften Aus der Natur oder Forschungen und Fortschritte, sowie eine umfangreiche Darstellung der Pilze in der von der Urania herausgegeben Zeitschrift Himmel und Erde. In mehreren Vorträgen und Aufsätzen, teilweise separat erschienen, setzte er sich von naturwissenschaftlicher Seite mit Fragen des Alkoholgenusses oder -missbrauchs und der Absti­nenz­lerbewegung auseinander. Er hatte 1911 bei einer Teilnahme am Internationalen Brauerei-Kongress in Chicago und anschließenden Vorträgen in Chicago, East Lansing und New York die Vorboten der Prohibition in den USA miterlebt. Er kam zu dem Schluss, dass die gesundheitlichen Risiken weitaus geringer sind, wenn alkoholische Getränke unter kontrollierten Bedingungen offiziell hergestellt werden. Bei den unter Verbotsbedingungen im privaten Bereich durchgeführten Gärversuchen treten ungewünschte Nebenerreger und Verunreinigungen viel stärker in Erscheinung. Alkohol wird als ein in der Natur vielfach gebildeter und anschließend weiter umgewandelter Stoff charakterisiert.

Neben seiner wissenschaftlichen und popularisierenden Arbeit war Lindner auch wissenschaftsorganisatorisch tätig. Für das Jahr 1919 wurde er zum Präsident der Deutschen Botanischen Gesellschaft gewählt. Von 1919 bis 1925 war er Herausgeber der Zeitschrift für technische Biologie des Berliner Borntraeger-Verlages. Er war Mitarbeiter des von M. Delbrück herausgegebenen Brauereilexikons, des Handbuchs der Mikrobiologischen Technik (Kraus-Uhlenhuth) und des Handbuchs der Biologischen Arbeitsmethoden (Abderhalden).

Auf Grund seiner erfolgreichen Klärung verschiedenster Gärungsvorgänge wurde Paul Lindner Ende 1923 für zwei Jahre beurlaubt, um als „Consultor tecnico“ der mexikanischen Regierung tätig zu werden. Er sollte die Vorgänge bei der Pulque­gärung zur Herstellung dieses mexikanischen Nationalgetränks klären. Dabei handelt es sich um eine Wildgärung des Saftes bestimmter Agaven. Als wesentlicher Gärungserreger konnte dabei ein Bakterium erkannt werden. Für seine Verdienste in Mexiko wurde Lindner 1925 zum Ehrenmitglied der Statistischen Gesellschaft in Mexiko ernannt.

Geehrt wurde Paul Lindner durch zahlreiche Auszeichnungen, so beispielsweise 1900 mit einem Grand Prix der Pariser Weltausstellung, 1904 Grand Prix for Higher Education in St. Louis (USA) und 1910 mit einer Goldenen Medaille der Brüsseler Ausstellung. 1927 erhielt er die Große Goldene Delbrück-Denkmünze des Instituts für das Gärungsgewerbe, benannt nach dessen Begründer Max Delbrück (1850-1919, vgl. Ostdeutsche Gedenktage 1969, S. 47) einem Onkel des gleichnamigen Nobelpreisträgers für Physiologie und Medizin aus dem Jahr 1969. Im zu Ehren wurden auch mehrere Organismen benannt, beispielsweise die Hefe Pichia lindneri durch Henninger & Windisch 1975.

1928 ging Paul Lindner nach Vollendung seines 67. Lebensjahres in den Ruhestand, den er zunächst in Berlin, später in Freiburg im Breisgau verbrachte. Während eines kürzeren Klinikaufenthalts starb er am 4. Januar 1945 in Donaueschingen.

Werke (Auswahl): Mikroskopische und biologische Betriebskontrolle im Gärungsgewerbe, Berlin 1895 [5 weitere Auflagen bis 1930]. – Atlas der mikroskopischen Grundlagen der Gärungskunde …, Berlin 1903, 111 Tafeln; 2. Aufl. 1910, 168 Tafeln; 3. Aufl. 1927/28 (2 Bände) 324 Tafeln, 48 S. – Saccharomycetinae, in: Kryptogamenflora der Mark Brandenburg 7(1) 1905, S. 8-32. – Abriß der Vorlesung über Botanik an der Brauerschule der Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei in Berlin, Berlin: Inst. f. Gärungsgewerbe 2. Aufl. 1906 (24 S.); 3. Aufl. 1911 (29 S.) . – Catenularia fuliginea, Schulbeispiel zur Sporenkettenbildung, Ber. Dt. Bot. Gesell. 27 (1909), S. 530-532, 1 Taf. – Mikrophotographische Aufnahmen von lebenden Objekten in der Ruhe und in der Bewegung, in: Mikrokosmos 5 (1911-12), S. 1-3. – Augenblicksaufnahmen ohne Kamera und Platte, in: Mikrokosmos 8 (1914-15), S. 89-90. – Chemie der Hefe und der alkoholischen Gärung, Leipzig: Akad. Verlagsgesell. 1915, mit H. Euler. – Beiträge zur Naturgeschichte der alkoholischen Gärung, Berlin: Francken & Lang, 1920. – Photographie ohne Kamera, Berlin: Union, 1920. – Das Biosproblem in der Hefeforschung, in: Ber. Dt. Bot. Ges. 37 (1919), S. 34-40. – Pilzzüchtung im Gärungsgewerbe, in: Zeitschr. f. Pilzk. 5 (1921-22), S. 263-264. – Entdeckte Verborgenheiten aus dem Alltagsgetriebe des Mikrokosmos, Berlin: P. Parey 1923. – Alkohol in der Natur, Hannover: Norddeutsches Druck- u. Verlagshaus 1927. –Biologische Ergebnisse einer Studienreise nach Mexiko, in: Forschungen u. Fortschritte 8 (1932), S. 157.

Lit.: Anonymous, Paul Lindner 80 Jahre, in: Wochenschrift für Brauerei 58 (1941), S. 97-98. – James Barnett/Frieder W. Lichtenthaler, A history of research on yeasts 3: Emil Fischer, Eduard Buchner and their contemporaries, 1880-1900, in: Yeast 18 (2001), S. 363–388. – Illustriertes Brauerei-Lexikon, Berlin: P. Parey; 2. neubearb. Aufl., Bd. 2, S. 92-93. – W. Henneberg, Dem Gärungsbakteriologen Prof. Dr. Lindner zum 24. April 1931, in: Molkerei-Zeitung 45 (1931) (Nr. 47), S. 885-886. – L. Marschall, Im Schatten der chemischen Synthese, Frankfurt: Campus 2000. – H. Melchior, Paul Lindner 1861-1945, in: Ber. Dt. Bot. Gesell. 68a (1955), S. 298-302. – T. O. Roth, Lebende Bilder. Zu Paul Lindners Naturgeschichte der Schattenbilder, in: Kultur & Technik 2008 (3), S. 56-60. – S. Windisch, 100 Jahre mikro­biologische Forschung. Beitrag des Forschungsinstituts für Mikrobiologie der Versuchs- und Lehranstalt für Spiritusfabrikation und Fermentationstechnologie, in: 100 Jahre Institut für Gärungsgewerbe und Biotechnologie zu Berlin 1874-1974. Festschrift, Berlin 1974, S. 110-119.

Bild: Wochenschrift für Brauerei, Bd. 25, Nr. 42 (1908).

Peter Scholz