Keplers Name knüpft sich vor allem an die drei „Keplerschen Gesetze“, nach denen sich erstens: die Planeten in elliptischen Bahnen um die in einem Brennpunkt der Ellipse stehende Sonne bewegen, zweitens: die Verbindungsgerade von der Sonne zu einem Planeten in gleichen Zeiten gleiche Flächen überstreicht, und drittens: die Quadrate der Umlaufszeiten der Planeten sich wie die Kuben der halben großen Achse der Ellipse verhalten. Diese für die klassische Himmelsmechanik grundlegenden Gesetze sind die ersten „Naturgesetze“ im modernen Sinne präziser, nachprüfbarer Aussagen über bestimmte allgemeingültige Beziehungen, auf die sich Einzelerscheinungen der Wirklichkeit durch mathematische Herleitung zurückführen lassen (A. Koestler 1959). Kepler fand sie aufgrund seiner genialen wissenschaftlichen Intuition, auf der Basis der damals in ihrer Genauigkeit unübertroffenen (noch ohne Fernrohr gewonnenen!) Beobachtungsdaten des dänischen Astronomen Tycho Brahe, deren mathematische Analyse und Deutung außerordentliche Schwierigkeiten machte und auch Kepler zunächst mehrfach auf Irrwege führte.
Kepler hatte sich mit seiner Abhandlung „Mysterium Cosmographicum“ schon 1596 bedeutendes wissenschaftliches Ansehen erworben. Er vertrat darin ausdrücklich das kopernikanische Weltsystem durch Aufstellung eines heliozentrischen Planetenmodells, in dem er die Abstände der Planeten von der Sonne auf eine in der Tradition der pythagoreischen Harmonielehre stehende Weise nur rein theoretisch konstruierte. Die Kepler zugänglichen astronomischen Beobachtungsdaten reichten nicht aus, um diese spekulative Grundlage empirisch zu stützen (was nach Meinung Keplers den Vorzug des kopernikanischen gegenüber dem damals noch dominierenden ptolemäischen System verdeutlicht hätte). Kepler erhoffte sich solche Daten von Tycho Brahe, der 1599 an den Hof Kaiser Rudolfs II. nach Prag gekommen war. Brahe vertrat in der Astronomie selbst nicht das kopernikanische, sondern ein eigenes Planetenmodell, hatte aber von dem hochbegabten Kepler gehört und lud ihn nach Prag ein.
Nachdem Kepler im Januar 1600 dieser Einladung gefolgt war, ergab sich für ihn die Gelegenheit zur Fortsetzung der dabei begonnenen Zusammenarbeit höchst unfreiwillig, als die Familie nach zahlreichen vorausgegangenen Schwierigkeiten im katholischen Graz, wo Kepler als Mathematiker an der Stiftsschule lehrte, Ende September 1600 mit allen übrigen nicht konversionswilligen Protestanten die Stadt verlassen mußte. Er ging nach Prag, wo Rudolf II. Kepler als Mitarbeiter Brahes einstellte und beiden gemeinsam den Auftrag gab, auf der Grundlage von Brahes Daten genauere Tabellen der Planetenstände herauszugeben (auf dem Titelkupfer der erst 1627 gedruckten Ausgabe heißen sie daher die „Rudolfinischen Tafeln“). Kepler wurde von Brahe zunächst ausschließlich mit der Auswertung der Beobachtungen der Marsbahn betraut, was sich jedoch später wissenschaftlich als Glücksfall herausstellte, da diese Bahn für das von Kepler angestrebte Modell des Sonnensystems die wichtigste ist.
Für Kepler persönlich wie auch für die Geschichte der Wissenschaften wurde 1601 zu einem Epochenjahr: im Oktober 1601 stirbt Brahe plötzlich an einer Urämie und Kepler wird zu seinem Nachfolger als kaiserlicher Mathematiker ernannt. Dies war eine der angesehensten wissenschaftlichen Positionen der Zeit, dem Format Keplers angemessen, der dennoch ständig um seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie kämpfen mußte, da das Gehalt aufgrund des großen Hofstaates einerseits, der ungeheuren Kosten der Türkenkriege und der beginnenden konfessionellen Auseinandersetzungen andererseits meist ausblieb und Kepler auf Einnahmen aus mathematischen, astronomischen und kalendarischen Tabellenwerken sowie aus der Anfertigung von Horoskopen angewiesen war.
Wissenschaftsgeschichtlich hat die Ernennung im Jahr 1601 ihre Bedeutung darin, daß sich Kepler, vom Kaiser mit der Fortführung der Arbeiten Brahes beauftragt, in den Besitz von dessen Beobachtungsdaten bringen konnte, ohne die er wohl kaum zu seinem Himmelsmodell und damit zur Begründung einer Kausalwirkungen einbeziehenden „Physik des Himmels“ (statt einer bloßen mathematischen Beschreibung der von der Erde aus sichtbaren Bahnen von Sonne, Mond und Planeten) hätte gelangen können. In der 1601 beginnenden und 1612 endenden Prager Zeit hat Kepler außer einer Abhandlung über die 1604 am Himmel erschienene Nova (1606) seine astronomische Optik (1604), die „Astronomia Nova“ (sein Hauptwerk, 1609) und die Dioptrik (1611) verfaßt, die zu den großen Klassikern der Wissenschaftsgeschichte und zu den Glanzstücken neuzeitlichen Denkens gehören.
Nach dem Tode Kaiser Rudolfs II. im Jahre 1611 blieb Kepler zwar kaiserlicher Astronom, ging aber als „Landschaftsmathematiker“ zurück nach Linz. Später wechselte er als Angestellter Wallensteins nach Sagan und leitete dort den Druck seines 1609 begonnenen „Somnium“ in die Wege, einer kleinen Schrift, die in Gestalt eines Traumes eine Fahrt zum Mond beschreibt (womit Kepler einen bemerkenswerten, frühen Beitrag zur Science Fiction leistete) und das noch immer ungewohnte kopernikanische Weltbild durch Schilderung des Anblicks und der Bewegung der Erde vom Mond aus gesehen dem Leser näherbringt. Ungeachtet der schwierigen persönlichen Lebensumstände sind die mit Keplers Ernennung zum kaiserlichen Mathematiker und Astronomen 1601 begonnenen Prager Jahre seine wissenschaftlich fruchtbarsten gewesen und bilden den Entdeckungskontext der drei Keplerschen Gesetze, die Isaac Newton zum Ausbau seiner Himmelsmechanik in den „Philosophiae naturalis principia mathematica“ (1687) veranlaßt und zu seiner Gravitationstheorie geführt haben, aus der sich dann umgekehrt die Keplerschen Gesetze mathematisch herleiten lassen.
Lit.: Max Caspar: Johannes Kepler, Stuttgart 41995. – Walther Gerlach/Martha List: Johannes Kepler. Leben und Werk, München 1966. – Dies.: Johannes Kepler. Dokumente zu Lebenszeit und Lebenswerk, München 1971. – Owen Gingerich: Kepler, Johannes, in: Dictionary of Scientific Biography 7 (1981), S. 289–312. – Karel Hujer: Kepler in Prague, 1601–1612, in: Arthur Beer/Peter Beer (eds.): Kepler: Four Hundred Years, New York 1975 (Leningrader Kepler-Symposium 1971, Vistas in Astronomy 18), S. 149–153. – Arthur Koestler: The Sleepwalkers. A history of man’s changing vision of the universe, London 1959 (deutsche Ausgaben: Die Nachtwandler. Das Bild des Universums im Wandel der Zeit, Bern/München/Wien 1959, 1963, Wiesbaden o.J.). – Mechthild Lemcke: Johannes Kepler, Reinbek 1995. – Erhard Oeser: Kepler. Die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, Göttingen/Zürich/Frankfurt 1971.
Werke: Gesammelte Werke I–XXII, München 1937 ff. (bisher erschienen I–XX,2). – Mysterium cosmographicum, Tübingen 1596, 21621 (erw.). – Ad Vitellionem paralipomena, quibus Astronomiae Pars Optica traditur, Frankfurt 1604. – De stella nova, Prag/Frankfurt 1606. – Astronomia nova […] seu Physica coelestis, tradita commentariis de motibus stellae Martis, ex observationibus G.V. Tychonis Brahe, o.O. (Heidelberg) 1609. – Dissertatio cum Nuncio Sidereo, Prag 1610. – Dioptrice, Augsburg 1611. – Strena seu de nive sexangula, Frankfurt 1611. – Epitome astronomiae Copericanae, Linz 1618–1621. – Harmonices mundi libri V, Linz 1619. – De cometis libelli tres, Augsburg 1619. – Tabulae Rudolphinae, Ulm 1627. – Somnium, seu opus posthumum de astronomia lunari, ed. L. Kepler, Sagan/Frankfurt 1634 (verfaßt 1609).
Bild: Ausschnitt aus einem Stich nach dem Straßburger Gemälde (nach M. Caspar, Johannes Kepler, Stuttgart 1942, gegenüber S. 352) / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.
Christian Thiel (OGT 2001, 320)