Biographie

Dedecius, Karl

Herkunft: Zentralpolen (Weichsel-Warthe)
Beruf: Übersetzer, Herausgeber, Essayist
* 20. Mai 1921 in Lodz/Polen
† 26. Februar 2016 in Frankfurt/ Main

Sehr gute Übersetzer sind selten und noch seltener werden sie berühmt. Karl Dedecius gelang dies, aber auch deshalb, weil er noch viele weitere Arbeitsfelder hatte. Männer wie er entstehen nur in ganz besonderen Zeiten, in Zeiten, in denen Menschen mit beiden Füßen in zwei Nationen stehen und sie verstehen und damit auch optimal von der einen in die andere Kultur und Sprache übersetzen können.

Die erste Nennung der Familie Dedecius im Osten erfolgte um 1740 im oberschlesischen Kreis Oppeln (Opole), in Friedrichgrätz und Petersgrätz. Sie waren schlesische Weber. Weitere Glieder der Familie wanderten bis nach Rumänien, Rußland und Polen. Viele Weber sehen sich durch die russische Zollgrenze genötigt, ihre Heimat zu verlassen, da sie ihre Güter nicht mehr nach Polen und Rußland verkaufen konnten. So zogen sie quasi zu ihren Kunden. Auf diese Weise entstand im 19. Jahrhundert das Lodzer Industriegebiet, das man auch Manchester des Ostens nannte. Dedecius Vorfahren lebten seit etwa 1840 in Pozdzenice bei Lodz. Die Vorfahren der Mutter stammten aus Schwaben.

Karl Dedecius wurde am 20.5.1921 in der damaligen Vielvölkerstadt Lodz (Łódź) als Sohn des Gustav Dedecius (1884-1945) und der Maria Martha Reich (1888-1942) geboren. Er wuchs mit einem jüngeren Bruder, mit Erasmus Dedecius, auf.

Der Vater war polnischer Staatsbeamter und war damit in einer wirtschaftlich besseren Situation als andere polnische Bürger deutscher Nationalität. Die Familie Dedecius zeichnete eine sehr liberale und zunehmend polonophile Einstellung aus. Diese Haltung übertrug sich auf den Sohn und zeigte sich auch darin, daß er nicht wie andere das „Lodzer Deutsche Gymnasium“ sondern das polnische Humanistische Stefan-Żeromski-Gymnasium besuchte.

Dedecius wuchs zweisprachig auf und lernte so beide Sprachen, Kulturen und Mentalitäten von klein auf kennen. Die Familie hatte ein gutes Verhältnis zu den polnischen Nachbarn. Somit wurde sein Polenbild von seinen harmonischen Jugenderlebnissen geprägt und nicht von den Erfahrungen nach 1945 in Polen, die er nicht gemacht hat. Sein Gymnasium war zudem eine tolerante Schule, was damals nicht selbstverständlich war. In seiner Klasse waren zwölf Polen, sechs Deutsche, sieben Juden, zwei Franzosen und ein Russe.

Am 18. Mai 1939 legte Dedecius das Abitur ab. Direkt danach wurde er zum polnischen Arbeitsdienst an der russischen Grenze eingezogen. Nachdem Polen im Zweite Weltkrieg von beiden feindlichen Nachbarn überrannt wurde, kehrte Dedecius bis November 1939 zu Fuß nach Lodz zurück. Bereits im folgenden Jahr wurde er zum deutschen Arbeitsdienst eingezogen.

Am 22.6.1941 folgte dann seine Einberufung zur Wehrmacht. Nach einer kurzen Ausbildung in Frankfurt/O. wurde er an der Ostfront eingesetzt und geriet in den Kessel von Stalingrad, wo er schwer verwundet wurde und 1942 in sowjetrussische Gefangenschaft geriet.

Bis 1950 war er abwechselnd in Arbeits- und Genesungslagern. Es war ein siebenjähriger Überlebenskampf, ein Leben in Hunger, Krankheit und Einsamkeit. Dedecius überlebte als einziger seines Regiments.

Die Neugier auf das Fremde und die Kunst halfen ihm im Überlebenskampf. Er erlernte das Russische – für die Wärter verdächtig schnell – und wurde Übersetzer aus existentieller Not. Durch seine überwältigend guten Übersetzungen und Texte gewann er die Gunst der Krankenschwestern, die ihn mit russischer Literatur versorgten.

Im Jahr 1950 wurde er entlassen und begab sich zu seiner Verlobten in die DDR, denn seine Eltern waren tot. Über das Schicksal des Vaters, der 1945 von den Polen ermordet wurde, sprach er nie, sagte Gräfin Marion Dönhoff in einer Laudatio über ihn.

Dedecius hätte es durchaus leichter in der DDR gehabt. Er bekam eine Anstellung als Übersetzer am Deutschen Theater-Institut in Weimar, aber es fehlte die Freiheit. Politisch bedrängt floh er 1952 über West-Berlin in den Westen. Hier hatte er dann das Problem, daß er als „gelernter Abiturient mit Weltkriegserfahrungen“, wie er das mal nannte, keine wirkliche Berufsausbildung hatte und mit Übersetzen, zumal noch ins Polnische, war kaum Geld zu verdienen. Ein „Geldjob“ war notwendig. So wurde er für ein Jahr lang Korrektor des „Pfälzer Tageblatt“ in Ramberg b. Landau in der Pfalz. Anschließend wurde er von 1954 bis zur Pensionierung 1979 erfolgreicher Mitarbeiter einer Versicherungsgesellschaft in der Abteilung Ausbildung, Presse und Werbung.

Seine eigentliche Leidenschaft mußte er in die Freizeit verlegen, so wurde er zum Feierabendübersetzer, zum Nachdichter. Zudem suchte er den Kontakt zu zeitgenössischen Schriftstellerin in Polen und der Sowjetunion. So förderte er Josef Brodsky. Oft war er auch Entdecker bedeutender polnischer und russischer Dichter, lange bevor sie Anerkennung oder gar den Nobelpreis erhielten. Er übersetzte u. a. Werke von Julian Przyboś, Tadeusz Różewicz und Stanisław Jerzy Lec, Wisława Szymborska und Zbigniew Herbert. Erste Bekanntheit erlangte er 1959 die Veröffentlichung des Bandes über polnische Lyrik „Lektion der Stille“.

Anfang der 1960er Jahre begann er ein Studium der Slawistik an der Humboldt-Universität, Berlin. Dedecius übersetzte über 160 Bücher, z. T. bekannter Autoren, deren Förderer er war. Er erregte schon damals Aufsehen und den Neid der Fachkollegen durch seine Übersetzungen. Typisch für ihn war, daß er keine stotternde Wortwörtlichkeit, keine Reimklauberei übersetzte, sondern Worte eines lebendigen, entspannten Geistes, der in zwei Sprachen zuhause war.

Aus dem als Feierabendübersetzer bezeichneten Dedecius wurde ein international anerkannter Übersetzer. Der Bekannte Osteuropahistoriker Prof. Dr. Gotthold Rhode sagte über seine Denk- und Handlungsweise, das diese typisch für Lodz war. In Posen war das jedoch undenkbar. Sein Motto war daher: „Lodzer aller Länder, vereinigt Euch!“

Mit seiner Pensionierung 1979 begann Dedecius zweite Berufslaufbahn. Auf seine Initiative hin, dank der Unterstützung vieler Freunde sowie der Bundesländer Rheinland-Pfalz und Hessen sowie der Stadt Darmstadt, kam es zu Gründung des Polen-Instituts in Darmstadt, dem 18 Jahre als Direktor vorstand.

Hier leitete er Großprojekte wie die Herausgabe der 50-bändigen „Polnischen Bibliothek“ und „Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts“

Als Dedecius Ende 1997 ein zweites Mal in den Ruhestand trat, war seine Bibliothek war auf 35.000 Bände angewachsen. Im Jahr 2002 schenkte er sein „Karl-Dedecius-Archiv“ dem Collegium Polonicum in Słubice, das 200 Ordner geordnetes sowie ca. 80 laufende Meter ungeordnetes Material und mehr als 1.000 Bücher enthält.

Es ist verständlich, daß sie ein Leben zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen erfuhr, u. a. sechs Ehrendoktorwürden, das Bundesverdienstkreuz und der Verdienstorden der Republik Polen, sowie 1990 der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Lit.: Przemysław Chojnowski, Zur Strategie und Poetik des Übersetzens: eine Untersuchung der Anthologien zur polnischen Lyrik von Karl Dedecius. Berlin 2005, ISBN 3-86596-013-8 (Dissertation Universität Frankfurt an der Oder 2004, 298 S.); Martin Sprungala, Biographisches Lexikon zur Geschichte der Landsmannschaft Weichsel-Warthe (LWW) und ihrer Gliederungen. Wer ist und war wer in der LWW, Wiesbaden 2020, 288 S., ISBN 978-3-9822782-0-9

Martin Sprunala