Max Lenz gehört nach Lebenszeit und Werk nicht mehr wie Johann Gustav Droysen, Heinrich von Treitschke und sein Lehrer Heinrich von Sybel der politischen Schule der Historiker der Reichsgründungszeit an. Während diese, selbst oft als Parlamentarier aktiv, durch eine vaterländische Erziehung der Jugend zum Werk der Reichsgründung und zu deren Befestigung im deutschen Volke beitragen wollten, suchte sich Lenz nach dem Vorbild Rankes († 1886), den er persönlich kaum gekannt hatte, der Geschichte mit möglichster Objektivität zu nähern. So bemühte er sich etwa in seiner weit verbreiteten Biographie Napoleons I. (erschienen in Velhagen & Klasings „Monographien zur Weltgeschichte“, Bielefeld und Leipzig 1905, 41925) mit Erfolg um eine national unvoreingenommene Darstellung vor allem des außenpolitischen Werkes des großen Korsen. Dabei war Lenz, Sohn eines aus Kolberg stammenden, ursprünglich der 1848er Bewegung nahestehenden Juristen und einer von einer bäuerlichen Familie von der Insel Wollin herkommenden Mutter, sein Leben lang von einem preußisch-deutschen Patriotismus erfüllt gewesen. Der temperamentvolle junge Mann hatte sich beim Ausbruch des Deutsch-französischen Krieges 1870 freiwillig zu einem pommerschen Jägerbataillon gemeldet und war im Dezember 1870 bei einem vergeblichen Ausfall der Garnison der eingeschlossenen Stadt Paris nach Südosten bei Champigny, am linken Ufer der Marne, verwundet worden.
Lenz begann nach Studien in Bonn, Greifswald und Berlin als Mediävist. Seine Greifswalder Dissertation von 1874 handelte vonKönig Sigismund und Heinrich V. von England; sie war gedacht als ein Beitrag zur Geschichte der Zeit des Konstanzer Konzils. Nachdem er 1875 auf Veranlassung Sybels, seit demselben Jahre als Nachfolger Max Dunckers Direktor der Preußischen Staatsarchive, als Hilfsarbeiter in das Staatsarchiv Marburg (Lahn) eingetreten war, habilitierte er sich mit einer quellenkritischen Arbeit überDrei Traktate aus dem Schriftenzyklus des Konstanzer Konzils (1876).
Im Staatsarchiv Marburg wurde Lenz die Publikation des Briefwechsels Landgraf Philippsdes Großmütigen von Hessen mit Bucer anvertraut, der 1880 bis 1891 in drei Bänden erschien. Die Reformationszeit wurde hinfort eines seiner Arbeitsgebiete, dem er schon aufgrund seiner betont lutherischen Herkunft zuneigte. In die Breite wirkten seine Luther-Biographie zum Jubiläumsjahr 1883 (31897) und seine im selben Jahr veröffentlichte Streitschrift gegen Janssens Geschichte des deutschen Volkes (1876-1894) und ihre katholisch-habsburgische, „ultramontane“ Tendenz. Lenz bemühte sich um „Verständnis für katholische Glaubensstärke und katholische politische Wirkungskraft“, bezog aber als Geschichtsschreiber Stellung gegen Rom und das „undeutsche“ Haus Habsburg. „Die Reformation war ihm der lebendig gewordene deutsche Geist.“ (H. v. Srbik)
1881 war Lenz an der Universität Marburg außerordentlicher und 1886 ebenda ordentlicher Professor geworden. 1888 wechselte er an die Schlesische Friedrich-Wilhelm-Universität in Breslau, und 1890 wurde er auf ein Ordinariat an der gleichnamigen Universität Berlin berufen. Hier repräsentierte er mit seinen Bemühungen in Forschung, Lehre und Veröffentlichung um „Die großen Mächte“ (so sein Buch von 1900) und ihre Geschichte das, was man „Ranke-Renaissance“ genannt hat – wobei, entsprechend der zeitgenössischen „Weltpolitik“, der für Ranke geltende alteuropäische Rahmen gesprengt wurde. In diesem Zusammenhang gewann für Lenz das außenpolitische Werk Bismarcks, das der Gegenstand des großen Erlebens seiner Zeit gewesen war, wissenschaftliches Interesse. Als Ergebnis seiner Forschungen und Arbeiten erschien 1902 in München und Leipzig (41913) die Geschichte Bismarcks, ein Werk, das als die erste wissenschaftliche Würdigung des Werkes des Reichsgründers anzusehen ist. Wie Hermann Oncken in seiner Besprechung (in den Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte) feststellte, war „das weltgeschichtliche Handeln Bismarcks das eigentliche Thema dieser Biographie. In einheitlichem Stile werden seine Taten nicht aus der Psychologie des privaten Seelenlebens, gewissermaßen als Ausstrahlungen eines willens- und geisteskräftigen Individuums, sondern mit einer Art universalhistorischer Psychologie von dem Zentrum des europäischen Völkerlebens her als realistische Staatskunst erklärt.“
Wenn nach Lenz für Bismarck „der Glaube an die Macht, an die Macht der Monarchie … der tiefste Quell… aller seiner Taten“ war, so handelte es sich dabei für den Autor wie seinen Helden um die Voraussetzung für die Werke des Friedens. Diese wurden für ein Kind des preußisch-deutschen 19. Jahrhunderts wie Lenz nicht zuletzt in der Welt des Geistes geleistet. So mag es nicht verwundern, daß sich Lenz aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der Universität Berlin daran machte, eine Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin zu schreiben, die auf fünf schwere Bände anwuchs und 1910 (der Schlußband erst 1918) im Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses in Halle a. S. erschien. Sie förderte nicht nur eine Fülle wertvollen Materials zur deutschen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts zutage, sondern verdichtete dieses noch über die engere Universitätshistorie hinaus zu weit ausgreifender Geschichtsschreibung.
Dabei lag die Stärke von Max Lenz weniger im Hervorbringen von dickleibigen Werken als im Verfassen geschichtswissenschaftlicher Einzelstudien und historischer Essays oder biographischer Abrisse. Hier bestach er ebenso durch scharfsinnige Quellenkritik wie durch die Fähigkeit, dem Leser große Zusammenhänge vor Augen zu stellen – ob es ihm nun um „Die geschichtliche Stellung der Deutschen in Böhmen“, die „Sterbestunde des Kurfürsten Moritz von Sachsen“, „Die französische Revolution und die Kirche“, „Die Bedeutung der Seebeherrschung für die Politik Napoleons“ oder um das Leben des Landgrafen Moritz von Hessen oder das des Königs Gustav Adolf von Schweden zu tun war. All das wie die Reden findet sich in drei Bänden Kleiner HistorischerSchriften, dem ersten, auch äußerlich ungemein soliden Vorkriegsband (München und Berlin 21913), gewidmet dem Lehrer und väterlichen Freund Conrad Varrentrapp, und in den beiden, in Einband und Papier von Notzeiten zeugenden Nachkriegsbänden,Von Luther zu Bismarck (München und Berlin 1920) und Wille, Macht und Schicksal (ebenda 1922).
1914 hatte sich Lenz, 1911/12 Rektor der Berliner Universität, noch einmal beruflich verändert, indem er einem Ruf an das 1908 eröffnete Hamburger Kolonialinstitut gefolgt war, dessen Ausbau zu einer Universität, die am 10. Mai 1919 eröffnet wurde, er wesentlich mitbestimmte. 1922 wurde er emeritiert und lebte danach wieder in Berlin. Seit 1896 war er hier Mitglied der (Königlich) Preußischen Akademie der Wissenschaften.
Der Ausgang des Ersten Weltkrieges ließ Lenz wie so manchem anderen nicht nur seiner Generation den Boden unter den Füßen wanken. In den Jahren der „Knechtschaft“, wie er sagte, konnte auch er wie viele seiner Kollegen sich nicht enthalten, dem gedemütigten deutschen Volk mit der Autorität der Historikers die verlorene Gipfelhöhe der Jahre vor 1914 als Orientierung für die Zukunft anzuempfehlen. In seiner Rede zum Reichsgründungstag 1921 in Hamburg sprach er von dem Wissen, „daß es der Wille zur Macht ist, der uns aus der Finsternis herausbringen wird“, und riet seinen Zuhörern, dem Völkerbund „so fern wie möglich zu bleiben“, um zu schließen: „Um uns her drängen sich in ungezählten Scharen die Schatten derer, die an das Vaterland je und je geglaubt, die dafür gekämpft und gelitten haben, alle Propheten und Sänger unseres Volkes, die erhabenen Gestalten der Vorzeit und die geliebten Toten, unsere Brüder und Söhne, die ihr Blut im Kampfe für deutsche Ehre und deutsche Freiheit dahin gaben. Wir fühlen ihre Nähe. Sie streiten mit uns, führen uns, gehen uns voran auf dem Wege zum Lichte. Mögen denn immerhin wir Alten noch im Dunkel davon gehen: unsere Jugend wird das Licht schauen, so gewiß, wie auf die Nacht der Morgen folgt. Wir harren des Tages.“
Max Lenz war, wie Karl Alexander von Müller in seinem Nachruf in den Münchener Neuesten Nachrichtenvom 16. April 1932 schrieb, „eigenwüchsig, ja einzelgängerisch, scharfzüngig, gelegentlich von schroffem Freimut“. Diejenigen, die ihm nahe gekommen seien, hätten „sogleich die impulsive, warme Menschlichkeit, die von ihm ausging, den inneren Schwung, die sittliche, religiöse Strenge, die Hingabe an die Sache, die Ehrfurcht vor der Größe und die ritterliche Achtung vor jedem eignen Recht“ gefühlt, „die sein Wesen bestimmten. Und in seiner zeitgeschichtlichen Stellung als Historiker war das Kennzeichnende, daß er bei aller Kampfbereitschaft und Kampflust seiner Natur doch im Grunde auf eine rein betrachtende Auffassung der Geschichte über den politischen Kämpfen des Tages eingestellt war.“
Weitere Werke: Deutschland im Kreis der Großmächte 1871-1914 (= Einzelschriften zur Politik und Geschichte, hrsg. v. H. Roeseler, 12. Schrift), Berlin 1925. – König Wilhelm und Bismarck in ihrer Stellung zum Frankfurter Fürstentag; in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1929, Phil.-hist.Klasse, S. 162-175. – Bismarcks Plan einer Gegenrevolution im März 1848; ebenda, Jg. 1930, S. 251-276.
Lit.: Felix Rachfahl: Max Lenz und die deutsche Geschichtsschreibung; in: Historische Zeitschrift 123 (1920), S. 189-220. – Hermann Oncken: Gedächtnisrede; in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1933, Phil.-hist. Klasse, S. CXVII-CXXV. – Ders.: Nachruf; in: Historische Zeitschrift 147 (1933), S. 265-268. – Karl Alexander von Müller: Max Lenz; in: ders., Zwölf Historikerprofile, Stuttgart und Berlin 1935. – Paul Haake: Max Lenz; in: Pommersche Lebensbilder II, 1936, S. 339-361. – Heinrich Ritter von Srbik: Geist und Geschichte. Vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 2, München und Salzburg 1951, S. 6-9. – Karl-Heinz Krill: Die Rankerenaissance – Max Lenz und Erich Marcks. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1880-1935. Mit einem Vorwort von Hans Herzfeld (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Band 3), Berlin 1962. – Rüdiger vom Bruch: Max Lenz; in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 14 (1985), S. 231-233 (mit weiterer Lit.).
Bild: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Archiv.
Peter Mast