In der Klosterkirche Trebnitz zieht ein prunkvolles Barockgrabmal die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich. Es birgt die Gebeine der hl. Hedwig, der Patronin Schlesiens. Zu Füßen der Herzogin fand auch eine andere Frau ihre letzte Ruhestätte: Während der Führer, der dem Besucher das Kloster zeigt, über die heilige Herzogin und ihre Legende viel zu berichten hat, kann er nur wenig über die Frau sagen, deren sterbliche Hülle neben Hedwig ruht. Es sei die letzte schlesische Piastin, Herzogin Charlotte von Liegnitz, Brieg und Wohlau, die ihrem Wunsch gemäß zu Füßen ihrer heiligen Vorfahrin bestattet wurde. Ihre außergewöhnliche Lebens- und Leidensgeschichte ist heute fast vergessen.
Charlotte wurde als erstes Kind von Herzog Christian von Liegnitz, Brieg und Wohlau und seiner Gemahlin Luise am Morgen des 2. Dezember 1652 auf dem Brieger Schloß geboren. Der ersehnte Thronfolger Georg Wilhelm, der einmal als der letzte schlesische Piast in die Geschichte eingehen sollte, kam acht Jahre später zur Welt. Charlotte erhielt eine standesgemäße Erziehung, in der besonderer Wert auf den calvinistischen Religionsunterricht gelegt wurde, und durfte eine unbeschwerte Kindheit verleben. Wenn auch das Herzogtum ihres Vaters an politischer Bedeutung verloren hatte, war doch der Herzog in Schlesien und unter dem deutschen Adel hoch angesehen, und so mangelte es Charlotte, als sie herangewachsen war, nicht an Heiratsmöglichkeiten: Sie durfte, was in ihrer Zeit und ihrer Stellung durchaus nicht alltäglich war, über die Wahl ihres künftigen Gatten mit entscheiden, und Charlotte war wählerisch. Sechzehn Heiratsanträge, darunter der eines Prinzen von Dänemark und des Kurprinzen von Brandenburg, schlug sie aus.
Charlotte war 18 Jahre alt, als sie dem jungen Herzog Friedrich von Holstein-Sonderburg-Wiesenburg, einem weitläufigen Verwandten, zum ersten Mal begegnete: Friedrich war auf dem Weg nach Ungarn, wo er den Befehl über ein Kürassierregiment übernehmen wollte. Unterwegs machte er in Brieg Station. Charlotte verliebte sich in ihn, und auch Friedrich zeigte romantisches Interesse an der jungen, reichen Herzogin, die für ihn eine glänzende Partie gewesen wäre. Es kam zu einem regen Briefwechsel, von dem nur wenige wußten.
Der unerwartete Tod ihres Vaters im Februar 1672 überschattete Charlottes heimliches Liebesglück. Der ganze Hof hatte sich auf eine neue Situation einzustellen: Der Thronfolger, Charlottes Bruder Georg Wilhelm, war erst 12 Jahre alt, und Herzogin Luise übernahm für ihren Sohn die Regentschaft.
Über Charlotte und ihre potentiellen Partien kursierten in der Wiener Hofgesellschaft jetzt die heftigsten Gerüchte. Friedrich, der sich nicht nur in seinem ungarischen Feldquartier, sondern auch zeitweilig in Wien aufhielt, hörte davon, geriet mit einem jungen Grafen aneinander und duellierte sich schließlich mit ihm: Friedrich ging als Sieger hervor. Natürlich vertiefte dieses Duell Charlottes Gefühle für ihn, und als Friedrich im Frühjahr 1672 der Herzoginwitwe und ihrer Tochter im Liegnitzer Schloß seine Aufwartung machte und sein Beileid zum Tode des Herzogs aussprach, hat ihn Charlotte sicherlich gern empfangen.
Ihre Mutter sah die offensichtliche Harmonie zwischen den beiden nur ungern. Friedrichs Vater war zwar ein Herzog, verfügte aber nur über ein geringes Einkommen – eine solche Verbindung wäre einer schlesischen Prinzessin nicht ebenbürtig. Doch die beiden liebten sich, wollten heiraten und allen Widrigkeiten entgegenstehen. Charlotte zog ihren Onkel, den Bruder ihrer Mutter, auf ihre Seite, aber auch jetzt blieb Luise hart: Sie untersagte eine Verbindung Charlottes mit dem Wiesenburger und verbot ihm, eines ihrer Schlösser in Zukunft wieder zu betreten.
Friedrich ließ sich nicht beirren: Im Juli reiste er abermals nach Liegnitz, suchte trotz des Verbotes die Herzogin auf und bestürmte Charlotte, ihn zu heiraten – heimlich, wenn es sein mußte. Die verliebte Prinzessin stimmte dem Plan Friedrichs zu und schlüpfte in der Nacht des 14. Juli 1672 ungesehen in das Zimmer, das der Herzog im Liegnitzer Schloß bewohnte. Ein verkleideter katholischer Priester traute Friedrich und Charlotte; nur ihre Kammerfrau und fünf Trauzeugen waren bei der Zeremonie dabei. Charlotte war glücklich – sie hatte es geschafft: Sie war die Frau des Mannes, den sie liebte! Sie hatte sich durchgesetzt; ihre Mutter würde sich mit ihrer Heirat abfinden müssen.
Gleich nach der Eheschließung verließ Friedrich das Liegnitzer Schloß und kehrte nach Ungarn zu seinem Regiment zurück.
Das Geheimnis ließ sich nicht lange hüten: Am klatschsüchtigen Wiener Hof fand es den Weg von Ohr zu Ohr und mußte schließlich auch zu Herzogin Luise dringen. Ende Oktober stellte sie fassungslos ihre Tochter zur Rede und erlitt dabei einen Schwächeanfall, an dem sich Charlotte schuldig fühlen mußte. Sie gestand; Luise schäumte vor Wut, sagte sich von ihrer Tochter los und schwor dem Schwiegersohn bittere Rache. Tatsächlich erreichte die Herzogin, daß Friedrich im Namen des Kaisers im Dezember in Arrest genommen wurde.
Der Skandal zog Kreise. Der Kurfürst von Brandenburg, der König von Dänemark und sogar der Kaiser verwendeten sich für das junge Paar, so daß Luises Widerstand gegen diese Ehe schließlich schmolz. Im März wurde Friedrich aus der Haft entlassen; die Heirat wurde von allerhöchster Stelle genehmigt und er wurde wieder in sein militärisches Amt eingesetzt. Jetzt wurden im Brieger Schloß die Vorbereitungen für die offiziellen Hochzeitsfeierlichkeiten getroffen: Am 10. Mai 1673, fast ein Jahr nach ihrem heimlichen Ja-Wort, schlossen Charlotte und Friedrich vor der Öffentlichkeit den Bund fürs Leben.
Schon im Juni mußte Friedrich wieder zu seinem Regiment reisen. Er hatte sich mit Luise versöhnt und mit seinem jungen Schwager Freundschaft geschlossen. Charlotte stattete ihren Schwiegereltern den längst fälligen Besuch ab, kehrte aber nach Schlesien zurück, um in der Heimat ihrem Kind das Leben zu schenken: Am 12. Januar 1674 kam ihr Sohn Leopold zur Welt.
Mit der Vollendung seines 14. Lebensjahres wurde Charlottes Bruder Georg Wilhelm zum Herrscher über die schlesischen Piastenländer gemacht. Die häufig kränkelnde Luise trat wieder in den politischen Hintergrund. Der junge Herzog regierte allerdings nicht lange: Mit 15 Jahren erkrankte er an Pocken, die schließlich sein junges Leben forderten. Der letzte schlesische Piast war tot – wieder mußte Luise politisch aktiv werden. Sie versuchte, zumindest einen Teil des alten Herrschaftsgebietes für Charlotte zu retten, aber es gelang ihr nicht. Die Fürstentümer von Liegnitz, Brieg und Wohlau fielen an den Kaiser.
Luise hatte offensichtlich gar nicht daran gedacht, ihren Schwiegersohn an einer möglichen Regierung zu beteiligen. Er kam nur selten nach Schlesien und scheint sich schon in den ersten Jahren der so schwer erkämpften Ehe nur wenig um seine Frau gekümmert zu haben. Friedrichs Gedanken spielten um Macht – Macht, die er sich mit Charlottes Erbe erkaufen wollte. Harsch bestürmte er seine Schwiegermutter kurz nach der Beisetzung ihres Sohnes um die Auszahlung der restlichen Mitgift.
Charlotte muß tief verletzt und enttäuscht gewesen sein. Ihr Kampf um diesen Mann hatte sich nicht gelohnt – er herrschte mittlerweile als Nachfolger seines Vaters auf der Wiesenburg; sie blieb die meiste Zeit mit Leopold bei ihrer Mutter. Ins Schloß ihres Gatten ist Charlotte niemals gezogen – wahrscheinlich hat Friedrich Frau und Kind von Anfang an vernachlässigt und darüber hinaus sein großes Interesse an Charlottes beachtlichem Besitz allzu deutlich zur Schau gestellt.
Charlottes Leben war leer und oberflächlich geworden. Sie reiste viel, suchte Zerstreuung, verlangte aber innerlich nach mehr. Im Jahr 1677 lernte sie den Grüssauer Pater Robert Bötichius kennen, der ihr die Lehren der katholischen Kirche vermittelte, die Charlotte mit größtem Interesse aufsog. Für das Verhältnis Charlottes zu ihrem Gatten ist es bezeichnend, daß die Herzogin, als sie 1679 durch die sächsischen Länder reiste, ihren Gatten in Wiesenburg nicht besuchte. Der Kontakt zwischen den beiden mußte jetzt nahezu abgebrochen sein. Um so schwerer traf Charlotte der Tod ihrer Mutter am 25. April 1680. Sie hatte mit ihr um ihre Liebe gekämpft, war verstoßen und wieder angenommen worden und hatte ihr Leben trotz ihrer Ehe nicht mit ihrem Mann, sondern mit ihrer Mutter geteilt. Jetzt war sie tot – Charlotte ertrug den Schmerz nicht und wurde krank.
Sie war noch nicht wieder genesen, als ihr Gatte eintraf – nicht, um seiner Schwiegermutter das letzte Geleit zu geben, sondern um sein Erbe anzutreten. Charlotte handelte. Sie war nicht mehr bereit, sich von Friedrich, der sich ihr und ihrem Kind völlig entzogen und noch nicht einmal seine Unterhaltspflicht erfüllt hatte, weiter um ihren Besitz bringen zu lassen. Sie wandte sich an ihren Vetter, Kardinal Friedrich von Hessen, der als schlesischer Oberlandeshauptmann in Breslau residierte. Er zog die Fäden an allerhöchster Stelle und hatte Erfolg: Am 8. August 1680 wurde die Ehe im Sinne Charlottes gelöst. Sie wollte in Schlesien bleiben, von ihrem Erbe und ihrer kaiserlichen Pension leben. Friedrich stimmte der Scheidung zu, stellte allerdings die Bedingung, daß Charlotte sich von Leopold trennen müßte. Er wollte jetzt für seinen Sohn sorgen.
Charlotte blieb nichts anderes übrig. Schweren Herzens gab sie Leopold in die Obhut seines Vaters. Aber auch jetzt vernachlässigte der seine Pflichten und schickte das Kind zur Erziehung nach Wien. Allerdings dauerte es nicht lange, bis der Herzog merkte, daß diese Scheidung seinem Ruf gewaltig schadete. Er änderte seine Taktik, fand Verbündete, die bei Charlotte für ihn sprechen sollten, aber sie blieb hart. Erst zwei Jahre später gab Friedrich auf – er hatte sogar den Papst als Vermittler angerufen, und auch das hatte sie nicht beeindruckt: Sie hatte genug von Friedrich und der Ehe mit ihm.
Charlotte, innerlich zutiefst verletzt und trotz ihrer gesellschaftlichen Kontakte einsam, wandte sich immer mehr ihrer Suche nach Gott zu und konvertierte schließlich im Jahre 1687 in Breslau zum katholischen Glauben. Sie spendete einen großen Teil ihres Vermögens an Bedürftige, ließ Messen lesen und verbrachte viel Zeit in der Kirche. Oft zog es sie nach Trebnitz an das Grab der heiligen Hedwig, der Ahnin ihres ausgestorbenen Geschlechts. Die Patronin Schlesiens wurde zum Vorbild Charlottes, die versuchte, Hedwigs heiligmäßigem Leben nachzueifern. Schließlich traf sie Vorkehrungen, später nicht in der fürstlichen Familiengruft zu Liegnitz, sondern bei ihrer heiligen Vorfahrin bestattet zu werden.
Charlotte soll in ihrer Jugend eine auffallend schöne Frau gewesen sein – die letzten Spuren davon vernichteten die Pocken, von denen sie einige Jahre vor ihrem Tod befallen wurde.
Als Charlotte spürte, daß ihre Kräfte schwanden, begab sie sich ins Breslauer Klarenkloster. Ein Wunsch wurde in ihr immer stärker: Sie wollte Leopold, ihr Kind, das ihr entrissen worden war, noch einmal sehen. Die Nonnen schickten nach ihm und Charlottes letzter Wunsch erfüllte sich: Er kam zu ihr, und sie konnte ihren Sohn in die Arme schließen.
Nur wenig später, in den Morgenstunden des 24. Dezember 1707, starb Charlotte, Herzogin von Liegnitz, Brieg und Wohlau, die letzte schlesische Piastin, hinter den Klostermauern. Ihrem Wunsch gemäß wurde sie zu Füßen der heiligen Hedwig bestattet.
Lit.: Gotthard Münch: Charlotte von Liegnitz, Brieg und Wohlau, die Schwester des letzten Piasten. Teil I, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 10 (1952), S. 148–188. – Teil II, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 11 (1953), S. 127–168. – Teil III, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 12 (1954) S. 112–169. – Teil IV, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 13 (1955), S. 172–227. – C.E. Schück: Die heimliche Vermählung von Charlotte, Prinzessin in Schlesien (zu Liegnitz, Brieg und Wohlau) mit Herzog Friedrich von Holstein-Sonderburg, ihr Leben und Sterben, in: Schlesische Provinzial-Blätter, Neue Folge 1 (1862) S. 336–343.
Eva-Susanna Wodarz-Eichner