Fast vierzig Jahre hindurch war der Westpreuße Oskar Loerke aufs engste mit dem literarischen Leben Berlins verbunden. Dort hatte er Germanistik, Geschichte, Kunstgeschichte und Musikgeschichte studiert, ehe er sich 1907, nach der Veröffentlichung seines ersten Buches „Vineta“, entschloß, als Schriftsteller zu leben. Seit Oktober 1917 war Loerke (bis 1925 neben Moritz Heimann) der verantwortliche Lektor des Samuel Fischer-Verlages. „Es gab keinen jungen Autor, der nicht von ihm gewußt, ihn geachtet oder gefürchtet hätte. Tausende von Manuskripten und Büchern hat er gelesen, unzählige junge Autoren ermuntert, belehrt, erzogen, propagiert, nahezu die ganze deutsche Literatur seiner Zeit hat er persönlich und intim gekannt“ (Hermann Hesse). Dazu betreute er das Werk bereits berühmter Autoren wie das Gerhart Hauptmanns und Thomas Manns.
Loerke hat das Gesicht der deutschen Dichtung in der Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1933 durch seine einflußreiche Tätigkeit bei einem der bedeutendsten schöngeistigen deutschen Verlage mitgeformt. Seit Ende 1927 war er außerdem Sekretär der 1926 begründeten Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. 1933 wurde er aus dieser Stellung, in der er mit großem Geschick der Förderung und dem Ansehen der zeitgenössischen deutschen Dichtung diente, entlassen.
In seiner Persönlichkeit und in seinem künstlerischen Bemühen wußte sich Oskar Loerke nach seinen eigenen, verschiedentlich wiederholten Aussagen bestimmt durch das Land seiner Geburt und seiner Kindheit an der Weichsel.
Nachdrücklich bekannte sich Loerke zu seiner Heimat in der Selbstdarstellung „Meine sieben Gedichtbücher“ (1936) und im Nachwort zu seinem Gedichtband „Der Silberdistelwald“ (1934), sowie in gelegentlichen autobiographischen Skizzen und in den von Hermann Kasack 1955 herausgegebenen Tagebüchern. Auch in den stark autobiographischen Zügen seines Romans „Der Oger“ (begonnen 1911, veröffentlicht 1921) ist das Land seiner Kindheit der Raum des Geschehens. In den Gedichtbänden Loerkes finden sich immer wieder Verse, die vom Land an der Weichsel, der Ostsee und den Städten des einstigen Ordenslandes sprechen.
Seine Gedichte, die er im Laufe seines Schaffens in acht Bänden veröffentlichte (der neunte Gedichtband „Die Abschiedshand“ wurde 1949 von Hermann Kasack aus Loerkes Nachlaß herausgegeben), fanden weder beim literarischen Publikum seiner Lebenszeit noch nach 1945 das Interesse und die Anerkennung, die sie verdienen. Das war nicht zuletzt eine Folge der Tatsache, daß Loerke sich nicht um die rasch wechselnden Richtungen der literarischen Mode kümmerte; mehr noch lag es daran, daß er seine Themen nicht in den vordergründigen Geschehnissen der sogenannten „großen Welt“ fand, sondern in den unscheinbaren alltäglichen Dingen und Begegnungen in der greifbar nahen Umwelt und der stillen Natur. Der Mode, nur das „rein Geistige“ im Gedicht gelten zu lassen, vermochte Loerke nichts abzugewinnen:
„Mir war die sinnliche, ja die physische Gestalt noch im Geistigen viel wert, auf ‚Trübung‘ durch sie konnte ich nicht verzichten: der Verzicht ist übrigens auch unmöglich. Ich fand nichts Irdisches ursprünglich kompliziert, aber immer komplex. Es zeugt durch Schwere, Gestalt, Wachstum, Entwicklung wie mit schweigenden Stimmen für sich selbst“ („Meine sieben Gedichtbücher“). Diesen „schweigenden Stimmen“ lauschte er. Sie sprachen ihm aus den Dingen der Natur. So wurde sein Gedicht zur Stimme der Bäume, der Vögel, der Spinnen und des herbstlichen Laubes. Dabei wußte Oskar Loerke nur zu gut, daß die Natur dem Drängen des Menschen, sich selbst zu sagen, mit Schweigen begegnet, daß sie nicht zu uns spricht. Ja, er hielt alle Vermenschlichung der Natur in der Dichtung für verantwortungsloses Geschwätz und allenfalls für poetisch aufgefärbte pantheistische Schwärmerei. Er wußte, daß Fremdheit ist und bleibt zwischen dem menschlichen Ich und der außermenschlichen Natur, und er hatte den Mut, dieses Wissen zu vertreten. Gerade in der Anerkennung dieser Fremdheit gewann er die gedankliche Grundlegung für seine von aller menschlichen Verfälschung der Natur freien Naturlyrik.
Schon das erste seiner Gedichtbücher „Wanderschaft“ (1911) enthält alle wichtigen Motive, die Loerkes gesamtes dichterisches Werk bestimmen: Die heimatliche westpreußische Landschaft, das Samland, Naturhingabe, Großstadtszenen, und immer wieder Wälder, Berge, Meere und die Beglückung durch die Musik der großen Meister, vor allem Bachs und Bruckners. Diese Themen, bzw. Motive erscheinen in all seinen Gedichten auf diese oder jene Weise wieder aufgenommen und abgewandelt.
Unter dem Titel „Meine sieben Gedichtbücher“ hat Loerke sich in einem grundlegenden Aufsatz über sein lyrisches Werk und dessen Eigenart geäußert. Die Zeit, in der Loerke seine Naturgedichte schrieb, entfremdete sich der Natur mehr und mehr. Sie wurde zugleich immer unmenschlicher. Loerke aber verfügte einer so beschaffenen Welt gegenüber weder über die seelischen noch über die physischen Kräfte, die erforderlich gewesen wären, sie zu überstehen. „Keine Krankheit, sondern das Leiden an den Untaten der Epoche hat Loerke gefällt“ (Wilhelm Lehmann). Seine von wissenschaftlicher Zuverlässigkeit und einer sonst nur selten begegnenden Objektivität des kritischen Urteils bestimmten Essays sind in ihrer Anlage, Durchführung und sprachlichen Präzision Meistermerke von hohem Rang. Das gilt insbesondere von dem Essayband „Zeitgenossen aus vielen Zeiten“ (1925). Um so mehr ist zu bedauern, daß das geplante Buch Loerkes über Johann Sebastian Bach nicht mehr entstanden ist. Der Essay „Das unsichtbare Reich“ in der Neuen Rundschau 1935 und Hans Henny Jahnns „Erinnerungen an Loerkes Verhältnis zu Bach“ lassen die Bedeutung erahnen, die dieses Werk Loerkes gehabt hatte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß eine gewandelte Zeit und ein veränderter Geschmack früher oder später Oskar Loerke und sein Werk entdecken und schätzen werden. Auch seine heute praktisch unbekannten Erzählungen, seine Essays und genialen Musikkritiken werden dann zu dem Ansehen gelangen, das sie verdienen.
Aus: Ostpreußische Literaturgeschichte, München 1977, S. 379-383.