Biographie

Loerke, Oskar

Herkunft: Westpreußen
Beruf: Schriftsteller, Lyriker
* 13. März 1884 in Jungen/Westpr.
† 24. Februar 1941 in Berlin-Frohnau

Als Loerke mitten im Kriege, seit langem krank, aber bis zuletzt in den Sielen des Verlagsgewerbes, längst schon „zu den Vätern versammelt“– wie seine eigene Formel lautete – von wenigen Freunden betrauert starb, hinterließ er Letztwillige Bitten für den Fall meines Todes,in denen es eingangs heißt: „Alle meine Freunde wissen, daß ich nichts, was heilig ist auf Erden, verraten habe.“ Dieser Satz sollte auch Vorwürfen entgegnen. Loerke hatte die Preußische Akademie der Künste, der er seit 1926 angehörte und deren Sektion für Dichtkunst er von 1928 bis zum April 1933 als Sekretär diente, nicht verlassen wie Ricarda Huch; ja, er hatte dem jüdischen Verlag S. Fischers zuliebe, in dem er seit 1917 als Lektor arbeitete, eine Unterschrift unter das „Treuegelöbnis“ der 88 Schriftsteller vom Oktober 1933 nicht verweigert. Er war im Verlag geblieben, als Peter Suhrkamp die Leitung übernahm. Und in den acht Jahren des „Katakombendaseins“ waren außer der EssaysammlungHausfreunde (1939), einer kleinen Schrift über Johann Sebastian Bach (1935) und dem Anton Bruckner von 1938 immerhin die beiden letzten Bände seines lyrischen „Siebenbuchs“, Der Silberdistelwald  (1934) und Der Wald der Welt (1936), gedruckt worden und Aufsätze wie Gedichte weiterhin in der Neuen Rundschau erschienen (auch wenn die nun kein repräsentatives Organ mehr war, sondern ein geduldetes). Was da freilich an Gedichten unter wenigen zirkulierte – zuletzt nur noch im Privatdruck (Der Steinpfad, 1938; Kärntner Sommer 1939, 1939) oder handschriftlich wie in den Anfängerjahren vor dem Ersten Weltkrieg –, hatte mit der „nationalen Erhebung“ nichts zu schaffen, machte keine Zugeständnisse an das „Zeitgemäße“. Sie befremdeten durch ihre Düsternis und Trauer; sie wurden in ihrer schon viel früher eingeübten, schwierigen, anspielungsreichen und verdeckenden Faktur wohl auch gar nicht erst verstanden – man hielt sie für abseitig und ließ auch darum passieren, was einer da „ohne falsche Zeugen“ sah, vernahm, roch:

Kommt her, was steigt aus diesem Buch?
– Durch Rosenöl ein Aasgeruch. (Der alte Lehrer, 1936).

Den Nachgeborenen gaben die nachgelassenen Gedichte (Die Abschiedshand, 1949) und die gleichfalls von Hermann Kasack herausgegebene Auswahledition der nicht für eine Veröffentlichung bestimmten Tagebücher 1903-1939 (1955, 2. Auflage 1956) näheren Aufschluß. Ihnen konnte Loerke nun als einer der wenigen glaubwürdigen Zeugen der „Inneren Emigration“ gelten. Als 1958 die zweibändige Ausgabe der Gedichte und Prosa bei Suhrkamp erschien, die bis heute eine Werkausgabe ersetzen muß, und zu ersten literarischen Untersuchungen anregte, wurde deutlich, daß dieses Gedichtwerk so abseitig nicht war, sich in frühen Stücken mit der Aufbruchsbewegung des literarischen Expressionismus verknüpfen ließ und daß Loerkes durchaus eigentümlicher Versuch, eine nachsymbolistische Gedichtsprache auszubilden, sogar Folge und Wirkung gezeitigt hatte: bei einer Reihe von jüngeren Lyrikern, bei Günter Eich etwa und anderen, die sich gegen Ende der zwanziger Jahren um die Zeitschrift Die Kolonne geschart hatten und nun in den fünfziger Jahren zu Ansehen kamen. Wenn er nun mit Wilhelm Lehmann zum Haupt einer „naturlyrischen Schule“ ausgerufen wurde, war das zwar eine verkürzte und sehr partielle Aneignung des vielstimmigen und sperrigen Vorrats, aber es war eine. Nachahmer fand vor allem Loerkes Verfahren, in präzisen Topographien Räume und Zeiten perspektivisch zu verschränken, Nahes und Entlegenes, Gegenwärtiges und Vergangenes, Zivilisatorisches und Naturhaftes zu verknüpfen, im Schutt des Großstadtalltags die Spuren der Vorzeit zu lesen, Nausikaa wie Sindbad in den Norden zu „zitieren“.

Aus Kasacks Monographie von 1951, den Tagebüchern, dem Marbacher Ausstellungskatalog von 1964 konnte man sich mittlerweile eine deutlichere Vorstellung von Herkunft und Lebensumständen machen, also auch den Gründen der Schwermut nachfragen, die das Werk und die in ihm intensiv wahrgenommene Sinnenwelt so auffällig durchzieht und grundiert, daß Loerke zu Recht von seinem „Hauptgeschäft der Trauer“ reden konnte. Der Sohn eines Bauern, der an Epilepsie litt und den Hof in der Weichselniederung bei Schweiz aufgab, ging in Graudenz aufs Gymnasium und studierte dann in Berlin von 1903 bis 1907 Literaturgeschichte, Geschichte und Philosophie. Er verließ die Universität ohne Abschluß, als er für eine Erzählung (Vineta, 1907) in S. Fischer seinen Verleger gefunden hatte, um bis 1914 als freier Schriftsteller zu leben, dürftig, aber doch 1913 durch den Kleistpreis ermutigt. Mit den frühen erzählenden Büchern, von denen er selber später die ersten drei nicht mehr gelten lassen wollte, hatte er keinen Erfolg; auch die folgenden – darunter ein in Westpreußen angesiedelter Roman mit autobiographischen Zügen, Der Oger (1921), die Novellensammlung Chimärenreiter (1919) – erreichten nicht die Originalität und den Rang seiner Lyrik. 1911 erschien das erste, noch in großen Teilen neuromantisch-liederselige Gedichtbuch Wanderschaft, 1916 ein zweites, Gedichte, das dann in der Neuauflage von 1929 den grammatischen Titel  Pansmusik erhielt. Die Verse führten ihm Freunde zu; damals gehörte Loerke zur Berliner Donnerstagsrunde um Moritz Heimann, Emil Rudolf Weiß, Emil Orlik. Seine Lust, die Welt anschauend zu erobern, fand ihre Nahrung auf Reisen in den Harz (1908), das Riesengebirge (1909), nach Paris (1910), nach Nordafrika und Italien (1914). Historische, politische, nationale, religiöse Grenzen galten ihm nichts im Umgang mit Zeitgenossen aus vielen Zeiten, wie dann die Essay Sammlung von 1925 hieß. Sein emphatisches Weltgefühl wurde zuerst und nachhaltig durch den Krieg verstört. Sein Selbstgefühl aber litt unter der Erfolglosigkeit: er, dem Poesie etwas Notwendiges war, konnte es nicht verwinden, daß nur wenige seine Gedichte „brauchten“. Diese Kränkung wurde im nur klagend ertragenen Brotberuf beinahe täglich erneuert, im Umgang mit berühmten oder nur arrivierten Autoren, von Hauptmann und Thomas Mann bis Kellermann, die seine Dienste mit freundlich-herablassendem Dank quittierten. Dazu fraß das Lektorengeschäft dem Werk die Zeit weg. Und noch in die „freie Zeit“ drängte sich der Literaturbetrieb mit Aufträgen und Angeboten, ihm Gutachten, Waschzettel, Rezensionen zu liefern.

Der so wehrlos den alltäglichen Zwängen preisgegeben schien, später auch den politischen, und von der Sorge verfolgt wurde, das Eigene zu versäumen – die Aufgabe nämlich, „sich des armen /Todes und des armen Lebens/Durch Erstaunen zu erbarmen“ – konnte sich nur auf seine Weise zur Wehr setzen, und nun sogar entschieden und schroff: im Gedicht, in zyklisch gefügten, musikalisch streng organisierten Strophen von altertümlicher rhythmischer Wucht. Die hatten Platz für vieles zwischen einer Berliner Seitenstraße und dem Himmel über der Stadt, dem Garten ums Haus in Berlin-Frohnau und einem versunkenen Atlantis und mußten nicht einmal jene Zwänge, Sorgen, Klagen auslassen. Auch die poetologischen Äußerungen Loerkes waren zu einem guten Teil Selbstbehauptungen, vor allem die Akademierede von 1928 über Formprobleme der Lyrik (wiedergedruckt 1935 als Das alte Wagnis des Gedichtes).

Daß Loerke bis heute ein Dichter für Dichter geblieben ist und daß weder das große Publikum noch die Literaturwissenschaft sein „Siebenbuch“ recht eingeholt haben, mag man bedauern. Man kann es auch für ein Zeichen nehmen, dafür, daß den Deutschen, wie Wilhelm Lehmann einmal schrieb, immer noch eine Entdeckung bevorstehe. Loerke war in seinen letzten Jahren nicht bange darum. Die milde Gabe ist eines der späten Gedichte überschrieben:

Soll ich den Meteorfall schelten,
Steigt eine Wolke Müll aus seinem Sturz?
Was mir als Ernst gegolten hat, wird gelten.
Und meine Lust war nicht zu kurz.

Ich habe die wie eine milde Gabe
In ihrer Schüssel fortgestellt.
Ich habe nichts vor mir. Ich habe
Vor mir die ganze Welt.

Werke (außer den genannten, Auswahl): Die heimliche Stadt. Gedichte. Berlin 1921; Der längste Tag. Berlin 1926; Atem der Erde. Sieben Gedichtkreise. Berlin 1930. – Reden und kleinere Aufsätze. Hg. von Hermann Kasack. Mainz 1956; Reisetagebücher. Eingel. u. bearb. von Heinrich Ringleb. Heidelberg, Darmstadt 1960; Der Bücherkarren. Besprechungen im Berliner Börsen-Courier 1920-1928. Unter Mitarb. von Reinhard Tgahrt hg. von Hermann Kasack. Heidelberg, Darmstadt 1965; Literarische Aufsätze aus der ,Neuen Rundschau‘ 1909-1941. Hg. von Reinhard Tgahrt. Heidelberg, Darmstadt 1967. – Teilweise revidierte Taschenbuchausgaben: Die Gedichte. Frankfurt a.M. 1984 (Suhrkamp Taschenbuch 1049); Tagebücher 1903-1939. Ebd. 1986 (Suhrkamp Taschenbuch 1242).

Lit.: Mit bibliographischen Nachweisen: Oskar Loerke. Ausstellungskatalog Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. Bearb. von Reinhard Tgahrt und Tilman Krömer. Stuttgart 1964; – Deutsches Literatur-Lexikon. Bd. 9. Bern, München3 1984; – Heiner Schmidt: Quellenlexikon der Interpretation und Textanalysen. Bd. 5. Duisburg 1984; Neue Deutsche Biographie. Bd. 15. Berlin 1987. – Hermann Kasack: Oskar Loerke. Charakterbild eines Dichters. Mainz 1951; – Walter Gebhard: Oskar Loerkes Poetologie. München 1968; –Heinrich Nicolet: Die „verlorene“ Zeit. Untersuchungen zur Struktur der Einbildungskraft Oskar Loerkes. Zürich, Freiburg i. Br. 1970; – Reinhard Tgahrt (Hg.): Oskar Loerke. Marbacher Kolloquium 1984. Mainz 1986; – ders. (Hg.): Zeitgenosse vieler Zeiten. Zweites Marbacher Loerke-Kolloquium 1987. Mainz 1989.

Nachlaß: Teilnachlaß (z.T. Depositum) Deutsches Literaturarchiv Marbach/Neckar.

Bild: Aufnahme aus Privatbesitz.