Am 2. Oktober 1972 wurde in Budapest die literarische Sektion des Demokratischen Verbandes der Ungarndeutschen gegründet. In den bislang 35 Jahren ihres Bestehens hat sie einer jahrzehntelang diskriminierten Minderheit von 200.000 Menschen eine Stimme gegeben. Niemand wollte 1972 wirklich daran glauben, daß dieser Literaturkreis eine echte Chance habe, weshalb man seine Leitung dem damals blutjungen Johann Schuth anvertraute, der sie dann zusammen mit seinem Studienkollegen János Szábo betreute.
Diese frischgebackenen Germanisten sahen sich vor eine schier unlösbare Aufgabe gestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Ungarn – wie jüngste Forschungen ergeben, aus eigenem Antrieb und von Kommunisten und der Partei der Kleinbauern gebilligt, gegen den Widerstand der katholischen Kirche und der Sozialdemokraten – seine deutsche Minderheit zur Hälfte vertrieben, da die Westmächte sich weigerten, weitere Deutsche aus Ungarn in den Westzonen aufzunehmen und die sowjetische Besatzungszone mit 50.000 vertriebenen Ungarndeutschen bereits überfordert war.
Die verbliebene Hälfte war zutiefst traumatisiert und fügte sich schicksalsergeben mehr als ein Jahrzehnt lang den Diskriminierungen des ungarischen Stalinismus, der den muttersprachlichen Unterricht fast völlig unterband und lediglich bisweilen einen bescheidenen Deutschunterricht auf Fremdsprachenniveau zuließ.
Erst nach dem Volksaufstand von 1956 begann eine Lockerung, die in den 1960er Jahren fortgesetzt wurde, um dann zu Beginn der 1970er Jahre in der Bildung der Literarischen Sektion des Demokratischen Verbandes der Ungarndeutschen zu gipfeln.
Der Vorsitzende Johann Schuth war hauptamtlich als Kulturredakteur der einzigen deutschsprachigen Wochenzeitung der Ungarndeutschen, der „Neuen Zeitung“, tätig, deren Redakteure selbst noch mit Sprachschwierigkeiten zu kämpfen hatten. Sein Mitstreiter János Szábo, Absolvent der Bukarester Germanistischen Fakultät, der später promovierte und habilitierte, sollte einer der bekanntesten zeitgenössischen Germanisten Ungarns werden. Sein Spezialinteresse galt von Anfang an den „kleineren deutschsprachigen Literaturen“, deren mögliche Bedeutung für die allgemeine deutschsprachige Literatur er früh erkannte und großzügig förderte. Seine Anthologien schweizer, luxemburgischer, lichtensteiner und natürliche ungarndeutscher Autoren war eine Pionierleistung des Budapester Universitätsverlages, den Szábo für dieses Werk gewinnen konnte. Sie ist ein frühes Beispiel einer vorurteilslosen, aufmerksamen Betrachtung der Ausdrucksfähigkeit unterschiedlicher literarischer Regionen, die in einen europäische Gesamtzusammenhang gestellt werden.
Auch die ungarndeutsche Literatur begleitete Szábo mehr als 20 Jahre lang in der „Neuen Zeitung“ mit seiner kritischen Kolumne „Aus dem Notizbuch eines Germanisten“. Dabei war er bemüht, sie kritisch mit anderen deutschsprachigen Literaturen, auch der der Rumäniendeutschen, in Zusammenhang zu bringen. So waren seine Beiträge oft kleine literaturhistorische oder volkskundliche Essays. Im Laufe der Zeit erhielten sie eine immer intensivere ironische und satirische Note, da Szábo sehr früh die Hauptgefahr jeder Minderheiten- und Regionalliteratur erkannt hatte: die Selbstgenügsamkeit, die Zufriedenheit mit dem Erreichten und vor allem die gegenseitige Beweihräucherung, ja mitunter gar eine Selbstbeweihräucherung der Autoren. Dem setzte Szábo sein kritisches Hinterfragen entgegen, und so wurden nicht wenige seiner über ein halbes Tausend zählenden Beiträge zu selbständigen Humoresken und Satiren: „Der zufriedene Autor“, „Das Loblied“, „Auswertung eines Abendessens“, „Vorsicht, bissiger Kritiker“. Höhepunkte dieser Kritik der Selbstgenügsamkeit ist „Der neue Lehrer“, bezogen auf eine Kurzgeschichte des ungarndeutschen Autors Andreas K. Eck, die von einem neuen Lehrer handelt, der es fertig bringt, den Faschismus, den Stalinismus, den Gulaschkommunismus Kadars und die Reformzeit durch kleine Textänderungen so zu bedienen, daß er selbst immer wieder als Vertreter des jeweils Neuen, als Verfechter des echten Fortschritts hervortritt. In den Kapiteln „Unsere kleine heile Welt“ gelingt es Szábo, die Klatsch- und Tratschsucht, die Lust am Intrigieren und das gegenseitige Ausgeliefertsein der auf sich angewiesenen Minderheitsangehörigen mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu betrachten. Nach Szábos viel zu frühem Tod gab Johann Schuth die gelungensten dieser Texte in dem Band „Der Geisterfahrer“ heraus.
Daß Provinz und Bewahren nicht immer engstirnig und hausbacken sein müssen, zeigt Szábo in seinem Essay über die Luxemburger: „Mer welle bleiwe wat mer sin.“. Hier beweist er auch die Spannweite seiner Kenntnisse, indem er auf die Verwandtschaft des Letzeburgischen mit dem Moselfränkischen der Siebenbürger Sachsen hinweist. Zum Unterschied zu den viel erdverbundeneren und oft schwerblütigen Siebenbürger Sachsen entdeckt Szábo im luxemburgischen Festhalten an den Traditionen Weltoffenheit und Liberalität. Im letzeburgischen Trutzspruch „mer welle bleiwe wat mer sin“ entdeckt Szábo ein fein gesponnenes Psychogramm einer Regionalkultur, der Identität im Bewahren der liberalen Traditionen von der Gastronomie bis zur Dreisprachigkeit. Bleiben im Sinne eines liberalen, offenen Umgangs miteinander und mit dem Rest der Welt.
Auch was die schweizer Literatur anbelangt, überschreitet Szábo die Grenze der herkömmlichen Interpretation und sieht etwa in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ zeitgemäß Güllen als Sinnbild der DDR und die Instrumentalisierung der Güllener Bürger für ihr eigenes Interesse als Beispiel für die Einverleibung der verblichenen DDR durch altbekannte Damen und Herren, deren eigenes Interesse zusehens offenkundiger wird.
Welch herber Verlust die junge ungarndeutsche Literatur – die jüngste deutschsprachige Literatur überhaupt – durch den frühen Tod János Szábos erlitten hat, geht aus diesem Nachlaß hervor. Er zeugt aber auch von der mitunter wirklich völkerverbindenden Kraft der Literatur. Der Ungar János Szábo – allerdings mit einer ungarndeutschen Großmutter, von der er früh deutsch lernte – ist durch seine Beschäftigung mit den deutschsprachigen Literaturen selbst eine unverzichtbare, unverwechselbare Stimme der ungarndeutschen Literatur, weit über seinen viel zu frühen Tod hinaus.
Ingmar Brantsch