Gero von Wilpert entstammt dem Deutschtum des Baltikums und wurde 1941 mit seinen Eltern und seiner Schwester, wie es im „Geheimen Zusatzprotoll“ des „Hitler-Stalin-Pakts“ vom 23. August 1939 vorgesehen war, ins Deutsche Reich ausgesiedelt. Geboren wurde er in Dorpat, der ältesten, um 1030 gegründeten Stadt des Baltikums, die 1918 den estnischen Namen „Tartu“ angenommen hatte. Ihre in Osteuropa weithin berühmte Universität war 1632, während in Deutschland der Dreißigjährige Krieg tobte, von Schwedenkönig Gustav Adolf (1594-1632), der am 16. November 1632 in der Schlacht bei Lützen fallen sollte, gegründet worden.
Der im Nachkriegsdeutschland aufgewachsene Deutschbalte Gero von Wilpert studierte in Heidelberg Literaturwissenschaft, Altphilologie und Philosophie und erarbeitete, noch während seines Studiums, das Sachwörterbuch der Literatur (1955), das bis 2001 in acht Auflagen erschien (925 Seiten) und zum Standardnachschlagewerk für Literaturstudenten aller Fachrichtungen werden sollte. Dass dieser „verlässliche Begleiter durch den Begriffsdschungel der Literaturwissenschaft“, wie es in einer Rezension hieß, heute weitgehend überholt ist, weil es nach wie vor der Terminologie der fünfziger Jahre verhaftet ist, muss nicht begründet werden. Dieses Buch ist und bleibt eine Pioniertat!
Mit dieser wissenschaftlichen Leistung aber wurde Gero von Wilpert, ohne sein Studium abgeschlossen zu haben, 1957 Lektor beim angesehenen Alfred-Kröner-Verlag in Stuttgart und blieb dort bis 1972, als er nach Australien auswanderte. Bevor er freilich in Sydney Germanistikprofessor werden konnte, musste er die Dissertation nachholen. In Australien, weitab vom deutschen Literaturbetrieb, war er weiterhin für seinen Stuttgarter Verlag tätig und veröffentlichte ein Deutsches Dichterlexikon (1988), ein Goethe-Lexikon (1998) und eine Schiller-Chronik. Sein Leben und Schaffen (2000).
Sein literaturhistorisches Spätwerk während der australischen Jahre, woran er mehr als ein Vierteljahrhundert gearbeitet hatte, wurde seinen Deutschbaltische Literaturgeschichte (2005), die im Münchner Beck-Verlag erschien. Hier wurde in umfassender Weise die deutsche Literatur in der baltischen Diaspora Estlands und Lettlands von der Eroberung Livlands 1215/27 durch den Schwertbrüderorden bis zur Aussiedlung 1941 und bis zur Spätphase deutschbaltischer Literatur in der Bundesrepublik Deutschland beschrieben und bewertet. Hier waren berühmte Namen von Autoren zu nennen, die Unverzichtbares zur deutschen Literatur beigetragen hatten und von denen der Leser kaum wusste, dass sie dem Deutschtum des Baltikums entstammten: Eduard von Keyserling (1855-1918), dessen RomaneWellen (1911), Abendliche Häuser (1914) und Fürstinnen (1917) heute wieder aufgelegt werden; der Lyriker Otto von Taube (1879-1973) aus Reval; Manfred Kyber (1880-1933) aus Riga, dessen Tiergeschichten (1926) noch heute gelesen werden; Siegfried von Vegesack (1888-1974), dessen Romantrilogie Die baltische Tragödie (1935) im Jahr 2004 noch einmal gedruckt wurde (520 Seiten); Frank Thieß (1890-1977) aus Riga, der 1936 mit seinem Buch Tsushima. Roman eines Seekrieges berühmt geworden war; Werner Bergengruen (1892-1964) aus Riga, dessen verschlüsselter Widerstandsroman Der Großtyrann und das Gericht (1935) im Nachkriegsdeutschland zum Kultbuch geworden war; die Lyrikerin Gertrud von den Brincken (1892-1982); Edzard Schaper (1908-1984), dessen Romane heute, nach dem Untergang des Kommunismus, mit neuer Sensibilität gelesen werden; und schließlich der unvergessliche Heinz Erhardt (1909-1979) aus Riga.
Noch weitgehend unausgeschöpft als Beitrag zur deutschen Literatur im 20. Jahrhundert und zum Untergang der Kultur einer deutschen Volksgruppe ist Siegfried von Vegesacks RomanwerkDie baltische Tragödie. Der erste Teil Blumbergshof (1933), der vor dem Ersten Weltkrieg auf einem deutschen Gutshof in Lettland spielt, zeigt dem Leser fast eine Idylle ohne soziale Spannungen, was dann freilich im zweiten Teil Herren ohne Heer (1934) umso stärker ausgeführt wird. Im dritten Teil Totentanz in Livland (1935), was der historische Namen für Estland und Lettland ist, wird der Untergang der beiden russischen Ostseeprovinzen im Ersten Weltkrieg geschildert mit kommunistischen Aufständen und Freikorpskämpfen.
Auf diesen vergessenen Roman wieder aufmerksam gemacht zu haben, ist auch das Verdienst Gero von Wilperts, der am Heiligen Abend 2009 in Sydney an der Pazifikküste starb.