Kulturstiftung verbindet: Dialogveranstaltung 2022 in Hannover

Vorstandsvorsitzender Reinfried Vogler bei seiner Begrüßung der Teilnehmer

Das im Jahr 2020 erstmals initiierte und 2021 fortgesetzte Format „Kultureinrichtungen im Dialog“ der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen hat sich trotz der Coronapandemie der vergangenen beiden Jahre zu einer festen Plattform des Austausches zwischen Einrichtungen der eigenständigen Kulturarbeit der Heimatvertriebenen untereinander und mit fachlichen und wissenschaftlichen Einrichtungen des § 96 BVFG-Förderbereichs entwickelt.

Bei der diesjährigen Veranstaltung unter dem Titel „Kultureinrichtungen im Dialog“ am 9. und 10. Juni in Hannover wurden erneut Impulse für eine stärkere Zusammenarbeit und Vernetzung der Kulturarbeit nach § 96 BVFG gesetzt. Im Rahmen der Begegnungstagung wurde auch das laufende Projekt der Kulturstiftung zur Entwicklung von Bildungsformaten im schulischen und außerschulischen Bereich vorgestellt. In Themenblöcken zur Erinnerungskultur, Heimatsammlungen, zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und zur Arbeit von Einrichtungen der eigenständigen Kulturarbeit der Vertriebenen sowie der Wissenschaft wurde so der Erfahrungsaustausch zu aktuellen Fragestellungen über Fachbereichsgrenzen hinweg erneut gefördert.

Editha Westmann MdL, Niedersächsische Landesbeauftragte für Heimatvertriebene, Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler beim Ministerium für Wissenschaft und Kultur, verwies in ihrem Grußwort auf die große Hilfsbereitschaft vieler Heimatvertriebener und Spätaussiedler gegenüber den Menschen in und aus der Ukraine. „Sie und ihre Nachfahren haben gleich im März eigene Unterkünfte angeboten und sich an Spendenaktionen beteiligt. Seit mehreren Monaten ist das Engagement riesengroß und zeigt, dass man in der Not zusammensteht. Für diesen beeindruckenden Einsatz bin ich persönlich und als Niedersächsische Landesbeauftragte für Heimatvertriebene und Spätaussiedler allen Helferinnen und Helfern von Herzen dankbar“. Rund 50 Prozent der niedersächsischen Bevölkerung hätten einen direkten oder indirekten Bezug zu Flucht, Deportation und Vertreibung. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe Niedersachsen fast zwei Millionen deutsche Flüchtlinge und Heimatvertriebene aufgenommen. Später seien mehr als 350.000 Spätaussiedler und auch viele Menschen aus anderen Schicksalsgruppen hinzugekommen. „Gerade jüngeres Publikum mache ich bewusst darauf aufmerksam, dass es sich lohnt, den Zeitzeugen zuzuhören. Denn ihre Geschichten sind unsere Geschichten. Ohne sie wären Niedersachsen und die Bundesrepublik in ihrer heutigen Gestalt und Dynamik gar nicht denkbar“, so Landesbeauftragte Westmann.

Geschäftsführer Konhäuser hielt den Impuls zur Erinnerungskultur

Themenblock 1: Erinnerungskultur stärken – Zukunft gestalten

In seinem Impulsreferat erklärte Geschäftsführer der Kulturstiftung Konhäuser einleitend, dass gerade der Krieg in der Ukraine, die Sprachlosigkeit und das damit verbundene Entsetzen gezeigt hätten, wie unersetzbar doch die Erinnerung an das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen sei.

„Zukunft braucht Vergangenheit! Nur wer sich erinnert, kann Zukunft verantwortlich gestalten. Es ist eine wichtige Aufgabe, aus der Erinnerung an die Vergangenheit zu lernen und daraus neue Impulse für die Gestaltung unserer gemeinsamen Gegenwart und Zukunft zu gewinnen“, so Konhäuser.

Er erinnerte daran, dass in der jüngeren Geschichte erst der Jugoslawienkrieg in den 1990er Jahren zu einer Neubetrachtung des Vertreibungsschicksals in Politik, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft führte und das Thema „Flucht und Vertreibung“ wieder zunehmend in der politischen Mitte in Deutschland verankert werden konnte. Die Einführung eines Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung sowie die Einrichtung der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung würden belegen, dass parteiübergreifend dem Schicksal der Heimatvertriebenen in Deutschland, aber auch weltweit zunehmend Rechnung getragen wurde und dass das Thema „Heimat“ seinen Platz in der historischen Auseinandersetzung mit der eigenen deutschen Geschichte zunehmend finden konnte. Das starke Interesse und die vermehrte Bearbeitung in allen erdenklichen Medien, aber auch die Fülle der Reise- und Erlebnisberichte, Dokumentarfilme und Buchpublikationen verschiedenster Autoren über die ehemaligen deutschen Ostgebiete zeigen deutlich, dass nach Sprengung des verengten politisierten Erinnerungsrahmens nun gewissermaßen ein jahrzehntelanger gesamtgesellschaftlicher Erinnerungsstau beseitigt wurde. Günter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“ (2002) sowie Fernsehproduktionen wie „Die Flucht“ (ARD, 2007) oder „Die Gustloff“ (ZDF, 2008) stehen stellvertretend als Beispiele hierfür. Leider sei zu konstatieren, dass in den Folgejahren die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen u.a. auch in den Medien wieder zurückgegangen sei und erst im Zuge des Ukraine-Krieges die Bedeutung des „Erinnerns“ wieder ins Bewusstsein gerufen würde. Insgesamt müsse man selbstkritisch hinterfragen, ob Wissen nicht zu oft verwaltet, statt in die breite Öffentlichkeit getragen wird. Die Themen von damals seien heute aktueller denn je und es müsse Aufgabe aller Akteure sein, mit den unterschiedlichsten Ansätzen das Wissen über das „damals“ in die Gesellschaft von heute zu tragen. Das Wissen um Flucht und Vertreibung, Umsiedlung und Deportation der Deutschen vor 77 Jahren und deren Ursachen würde insgesamt nachhaltig dazu beitragen, gerade bei der jungen Generation die Werte von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und einem geeinten Europa in Einigkeit und Recht und Freiheit in Bewusstsein zu rufen. Werte, die oftmals sorglos als Selbstverständlichkeit wahrgenommen würden. Zudem würde dieses Wissen dazu beitragen, dass generationenübergreifend für heutige Fluchtbewegungen nach Deutschland und Europa im positiven Sinne sensibilisiert und auch rechtsextremen Strömungen entgegengewirkt würde, und auch, dass die Willkommenskultur, mit der den ukrainischen Flüchtlingen begegnet wird, nicht abbricht.

(v.l.) Thomas Konhäuser, Margarete Ziegler-Raschdorf, Stefan Rauhut, Heiko Hendriks, Ariane Afsari und Reinfried Vogler

Bei der anschließenden Podiumsdiskussion kamen neben dem nordrhein-westfälischen Beauftragten für die Belange von deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedlern und Spätaussiedlern Heiko Hendriks und der hessischen Beauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler Margarete Ziegler-Raschdorf, Stefan Rauhut, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien, Nieder- und Oberschlesien, Ariane Afsari, Deutsches Kulturforum östliches Europa, und Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, ins Gespräch.

Landesbeauftragte Ziegler-Raschdorf erklärte, sie sehe mit dem Krieg in der Ukraine eine wachsende Bereitschaft, sich wieder mit dem Thema Flucht und Vertreibung vor 77 Jahren auseinanderzusetzen und es werde gefragt, wie es damals 1945 in Deutschland gewesen sei. Auch Landesbeauftragter Hendriks verzeichnet mehr Anfragen von Medien-Vertretern zu diesem Thema, aber auch zu den Deutschen aus Russland, die in NRW Putins Angriffskrieg auf das „Bruderland“ nicht verstehen könnten.

Stefan Rauhut stellte fest, der Krieg in der Ukraine löse bei den Angehörigen der Landsmannschaften große Betroffenheit aus und das Mitgefühl für die Ukrainer sei groß. Er stellte die Frage nach dem Recht auf Heimat – die Flüchtlinge aus der Ukraine sollten zurückkehren können, das müsse die Politik ermöglichen. Auch gelte es oftmals vorhandene „falsche Bilder zu korrigieren“ wie beispielsweise, dass 1945, Schlesien betreffend, nicht Menschen aus Polen nach Deutschland gekommen seien, sondern Deutsche aus Deutschland.

Ariane Afsari urteilte, „Misswissen“ sei ein gutes Stichwort, das Kulturforum habe u.a. ein Heft zur Ukraine herausgegeben, um dem mit Informationen zu begegnen. Es sei zu befürchten, dass das Interesse der Öffentlichkeit mit der Zeit wieder sinke.

Reinfried Vogler stellte fest,

dass das historische Wissen in unserer Gesellschaft insgesamt abnehme, in Tschechien hingegen würde das Interesse an dem Geschehen von 1945 zunehmen und jetzt auch Zeitzeugen-Interviews geführt.

 

Themenblock 2: Sicherung der Heimatsammlungen – Stand und Perspektiven

Birgit Aldenhoff von der Kulturstiftung erläuterte in ihrem Impulsreferat die Entwicklung der Heimatsammlungen und ihre Bedeutung für die Erinnerungskultur und Integration. Dazu seien sie Quelle für Forschungen, etwa zum Umgang mit den Themen Flucht, Vertreibung und Integration. Aufgrund der demografischen Entwicklung seien sie jedoch in ihrer Existenz bedroht. Mit der sinkenden Zahl der Heimatstuben gehe Kulturgut verloren. Während in der Bundeshauptstadt ein Zentrum zum Thema Flucht, Vertreibung, Versöhnung eröffnet habe, täten sich Kommunen wie z. B. Leverkusen schwer. Den Sammlungen fehle es an Geld für diverse Aufgaben, wie fürs Inventarisieren, zeitgemäßes Archivieren, aber auch für moderne Präsentation.

Ein in Ergänzung gezeigter Filmausschnitt über ein Projekt zur Digitalisierung bzw. zur digitalen Inventarisierung von Heimatstuben in Hessen zeigte die Bedeutung der Inventarisierung zur Sicherung der Heimatsammlungen auf.

An der Diskussionsrunde nahmen Agnes Maria Brügging-Lazar, BdV-Landesverband Hessen und Deutsch-Europäisches Bildungswerk in Hessen e.V., Markus Hartmann, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Herbert Kämper, Heimatstube Greifenhagen, Bernhard Moll, Mitbetreuung Historische Sammlung Brieg in Goslar, und Henning Wätjen vom Heimatbund Kreis Löwenberg e.V. teil.

(v.l.) Birgit Aldenhoff, Agnes Maria Brügging-Lazar, Eckhard Scholz, Herbert Kämper, und Markus Hartmann) 

Agnes Maria Brügging-Lazar nannte den hessischen Museumsverband als wichtigen Ansprechpartner für Heimatstuben. Doch die Kommunen müssten ihre Verantwortung für solche Sammlungen wahrnehmen, sie müssten für deren Probleme sensibilisiert werden. Viele der kleinen Trägervereine könnten z.B. Mietausgaben nicht leisten. Die Geschichte der Vertriebenen und deren Integration sei ein fester Bestandteil der jeweiligen Ortsgeschichte. Zur Zukunftssicherung müssten die Sammlungen inventarisiert bzw. ihre Bestände erfasst werden – auch das koste Zeit und Geld.

Markus Hartmann schilderte die Lage in Schleswig-Holstein. Auch hier benötigten die Heimatstuben Unterstützung, finanziell und personell. Da die Öffnungszeiten z.B. selten seien, sei das dort verwahrte Kulturgut weitgehend unsichtbar. Er fragte, wie man es sichtbar machen könne.

Henning Wätjen und Eckhard Scholz schilderten die schwierige Lage der Heimatstube Löwenberg, z. Zt. in Empelde/Ronnenberg bei Hannover, die eine neue Unterkunft sucht, da die Patenschaft wegen einer Änderung der Verwaltungsstruktur aufgehoben wurde und die Sammlung kein Geld mehr bekommt. Auch sei eine gute Zusammenarbeit mit der Stadt Löwenberg in Schlesien gegeben und es gebe Überlegungen, die Sammlung evtl. nach Löwenberg zu geben. Eigentümer solle das Schlesische Museum in Görlitz werden, das die Objekte dauerhaft nach Löwenberg ausleihen könne, wo das Interesse an der Geschichte der Deutschen in Schlesien groß sei. Die Heimatstube benötige dafür aber eine kompetente Beratung, juristische Fragen seien zu klären.

Bernhard Moll dagegen konnte die gute Lage einer Heimatstube schildern: Goslar hatte 1950 die Patenschaft für Brieg in Schlesien übernommen. Die Brieger Sammlung ist dort in einem historischem Stift nahe der Kaiserpfalz zu sehen. Goslar hat 1992 auch eine Städtepartnerschaft mit Brieg – südöstlich von Breslau an der Oder – geschlossen. Die Sammlung wird heute vom Museumsverein betreut, Schriftstücke wurden von der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne digitalisiert und die Heimatsammlung kann weiterhin besucht werden.

Herbert Kämper schilderte für die Sammlung Greifenhagen im Kloster Bersenbrück die gute Zusammenarbeit mit dem örtlichen Kreisheimatbund. Die Sammlung sei durch eine Stiftung abgesichert, zahle keine Miete für die Räume, besitze u. a. über 600 „Bilder“, dazu Hunderte von Büchern und sei an vier Tagen in der Woche geöffnet.

Reinfried Vogler schlug vor, eine kleine Arbeitsgemeinschaft mit Fachleuten zu bilden, die Vorschläge zu juristischen und technischen Fragen erarbeiten könnten.

 

Themenblock 3: Heimatsammlungen digitalisieren – Bildungsprozesse initiieren

Per Online-Zuschaltung erklärte Bernd Werdin vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur Nordrhein-Westfalen, dass die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen ein wichtiger Partner für das Land NRW sei. Sie sei bereit, andere Vermittlungswege zu gehen als bisher, womit man breite Schichten der Bevölkerung erreichen könne.

Auch nahm er Bezug auf den Krieg in der Ukraine und die Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge in Deutschland. So wie man die Ursachen für das Vertreibungsgeschehen nach dem Zweiten Weltkrieg klar aufzeigen müsse, müsse man das auch heute tun und den Aggressoren sagen, dass sie auf einem falschen, unmenschlichen Weg seien. Es gelte, die Themen von damals in einen Kontext zum Heute zu setzen.

Zur Kulturarbeit nach § 96 habe die Landesregierung NRW in vergangenen Jahren ein neues Konzept entwickelt, zur Erinnerungsarbeit der Erlebnisgeneration komme die Erinnerungsarbeit für die Junge Generation hinzu. So habe der Bildungsbereich in der Kulturarbeit der Vertriebenen ebenso einen hohen Stellenwert. Werdin nannte als Beispiele den Schülerwettbewerb „Begegnung mit Osteuropa“, der 2023 zum 70. Mal stattfindet, die Martin-Opitz-Bibliothek in Herne (MOB), die inzwischen ein An-Institut der Uni Bochum ist oder die institutionell geförderten Einrichtungen.

Im Konzept sei auch das Projekt der Kulturstiftung zur Virtualisierung der Heimatsammlungen angesiedelt. Es solle Besuche vor Ort nicht ersetzen, könne den im Bestand gefährdeten Sammlungen aber eine Zukunft geben, indem es Informationen liefere und neue Zielgruppen erschließe. Die neue Förderphase solle zeigen, wie man aus den virtuellen Sammlungen weitere Bildungsmöglichkeiten erschließen könne. Man müsse vermitteln, was damals passiert sei, wie man persönliche Erfahrungen nutzen könne. Das Land NRW sei der Kulturstiftung dankbar, dass sie diesen neuen Weg gehen wolle. Werdin äußerte die Hoffnung, dass das Projekt der Kulturstiftung zur Virtualisierung von Heimatsammlungen in anderen Bundesländern ebenfalls umgesetzt werden könne.

Anschließend stellte Geschäftsführer Thomas Konhäuser das angesprochene Projekt zur Virtualisierung von Heimatsammlungen in NRW und in Hessen vor. Anhand der virtualisierten Breslauer Sammlung in Köln erläuterte er exemplarisch die Struktur der im Internet abrufbaren Sammlungen  www.heimatsammlungen.de mit Informationen zur Sammlung, 360-Grad-Ansichten der Heimatstuben, virtueller Sammlung und Interviews / Podcasts mit den Sammlungsbetreuern. Danach ging er auf die Erweiterung des Projekts ein, das zusätzlich Bildungsprozesse initiieren soll. Indem man Flucht, Vertreibung und Integration nach dem Zweiten Weltkrieg aufarbeite, hoffe man, nicht nur das Wissen um Flucht und Vertreibung vor 77 Jahren und um das deutsche kulturelle Erbe im östlichen Europa zu fördern, sondern auch Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen von heute entgegenzuwirken und Integration erleichtern zu können. Die Gesellschaft müsse für Wandlungsprozesse sensibilisiert werden.

Markus Hartmann aus Kiel stellte nachfolgend das Projekt zur Digitalisierung von Heimatsammlungen des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes (SHHB) vor. Hauptsächlich gebe es in Schleswig-Holstein Sammlungen zu den nördlichen Herkunftsregionen Pommern, Danzig und Ostpreußen. Die virtuellen Sammlungen seien eine Möglichkeit, die Sammlungen zu bewahren und zugänglich zu machen. Bei dem 2021 gestarteten Projekt arbeite der Heimatbund mit dem Institut für Regionalgeschichte an der Kieler Universität und dem Kultusministerium zusammen.

 

Themenblock 4: Grenzüberschreitende Zusammenarbeit – Bedeutung angesichts des aktuellen Flucht- und Vertreibungsgeschehens in der Ukraine

Aus der Ukraine online zugeschaltet waren Wolodymyr Leysle, Vorsitzender des Präsidiums des Rates der Deutschen der Ukraine, Alexander Schlamp, Honorarkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Czernowitz/Tscherniwzi und Mitglied des Präsidiums des Rates der Deutschen der Ukraine, Julia Tayps, Abgeordnete des Stadtrats von Munkatsch/Mukatschewo, Leiterin der Deutschen Jugend in Transkarpatien und Mitglied des Rates der Deutschen der Ukraine, Diana Liebert aus Lemberg/Lviv, Vorsitzende der Deutschen Jugend in der Ukraine und Mitglied des Präsidiums des Rates der Deutschen der Ukraine, und Alexander Gross, ev.-luth. Pastor in Neuburg/Novohradivka (in der Region Odessa). Ebenfalls online zugeschaltet war Bernard Gaida, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten (AGDM) in der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN).

Gaida schilderte die gegenwärtige Lage in der Ukraine, etwa die Verwüstung Mariupols, von der natürlich auch die deutsche Minderheit betroffen sei. In Polen würden Flüchtlinge aus der Ukraine in großer Zahl aufgenommen, u.a. seien diese auch in Einrichtungen der deutschen Minderheit wie dem Eichendorfzentrum in Lubowitz untergebracht. Auch die Verbände der deutschen Minderheit in anderen Anrainerstaaten hätten Flüchtlingen aus der Ukraine Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Unterschiede zwischen Angehörigen der deutschen Minderheit und übrigen Ukrainern würden dabei nicht gemacht. Zur Frage der bisherigen, etwa kulturellen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit stelle sich die Frage, was mit Projekten geschehe, die vom Bund bereits bewilligt oder gar angelaufen seien, nun aber nicht fortgeführt werden könnten.

Alexander Schlamp schilderte eindrücklich die dringendsten Probleme der deutschen Minderheit und der übrigen Ukrainer im Land: Viele Familien hätten ihre Häuser verloren, mit den zerstörten Fabriken und anderen Einrichtungen seien auch die Arbeitsplätze vernichtet und so fehle das Einkommen, um sich neue Unterkünfte u.a. zu beschaffen. Insgesamt seien ca. 40% der Infrastruktur zerstört und in nächster Zeit auch nicht wieder aufzubauen. Die deutsche Bürokratie sei für ihn oftmals nicht nachvollziehbar. Man sei zwar in der Ukraine für jegliche Hilfe dankbar, aber spezielle Programme für die Kriegszeit seien erforderlich, um für Unterkunft, Energie usw. zu sorgen. Auch juristische Fragen zur Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland überforderten manche von ihnen, speziell rechtliche Fragen rund um das Aufnahmeverfahren für Spätaussiedler.

Wolodymyr Leysle bezog sich bei seiner Schilderung der Situation auch auf das deutsche kulturelle Erbe wie zerstörte Museen und erläuterte einige Zahlen bzw. statistische Angaben zu den Deutschen in der Ukraine. Einige seien zwar nach Deutschland geflüchtet, über 80% seien aber noch in der Ukraine und wollten ihre Heimat verteidigen bzw. ihre Landsleute unterstützen. Er wünsche sich mehr Unterstützung aus Deutschland für Projekte – diese Bitte werde auch an die deutsche Minderheit herangetragen, dass sie sich bei ihren Kontakten in Deutschland dafür einsetze. Man habe in der Ukraine allgemein Angst, dass die Unterstützung des Westens nachlasse, wenn der Krieg andauere.

Alexander Gross berichtete aus seiner Kirchengemeinde, in der das gewohnte Gemeindeleben so weit wie möglich weitergehe. Seine ev.-luth. Gemeinde in Neuburg/Novohradivka, einer alten deutschen Kolonie im Schwarzmeergebiet, sei klein, bestehe aber nicht nur aus Deutschen.

Julia Tayps berichtete über verschiedene deutsche Vereine in ihrer Region, z.B. sei ein Jugendzentrum wegen des Krieges in ein allgemeines humanitäres Zentrum zur Unterstützung von Flüchtlingen aus dem Osten der Ukraine umgewandelt worden. Die Flüchtlinge würden ggf. auch zur Grenze gebracht, um weiter gen Westen fahren zu können. Man versuche zudem, psychologische Unterstützung für Jugendliche zu organisieren. Natürlich würden nicht nur Angehörige der Minderheit, sondern alle Hilfsbedürftigen unterstützt. Vielen sei gemein, dass sie nicht ins Ausland, sondern in der Heimat bleiben und irgendwie helfen wollten.

Diana Liebert schilderte dazu ihre eigenen Erfahrungen: Sie war bei Kriegsausbruch zunächst nach Deutschland gefahren, kehrte jedoch nach sechs Wochen nach Lemberg/Lviv zurück, um in ihrer Heimat zu helfen. Sie hilft jetzt als Freiwillige bei der Versorgung von Tieren und unterstützt Menschen, die aus dem Osten in den Westen der Ukraine gekommen sind und nun Essen und Wohnung oder noch besser Arbeit bräuchten.

Wolodymyr Leysle betonte abschließend, wie dankbar man in der Ukraine für jegliche Hilfe sei, ging aber auch darauf ein, wie schwierig die Lage in der Ukraine und für Flüchtlinge die Integration in Deutschland (und anderswo) sei.

Landesbeauftragte Ziegler-Raschdorf erläuterte Details zur Anerkennung als Spätaussiedler für Angehörige der deutschen Minderheit aus der Ukraine und zu bereits vorhandenen Fördermöglichkeiten in Deutschland, sie erwähnte u.a.  Angebote zum Spracherwerb, die bereits für aus Russland ankommende Spätaussiedler existieren. Auch verwies sie auf Unterstützungsangebote und Hilfsaktionen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, die aufgrund vorhandener Sprachbarrieren wertvolle Arbeit leistet. Dabei stehe außer Frage, dass sich bei der deutschen Minderheit in der Ukraine nicht um Russlanddeutsche handele und dass ethnisch deutsche Flüchtlinge Deutsche aus der Ukraine und nicht Deutsche aus Russland seien. Eine eigenständige Vertretung der Deutschen aus der Ukraine in Deutschland gibt es bislang nicht.

 

Themenblock 5: Einrichtungen der eigenständigen Kulturarbeit – Neue Perspektiven der Zusammenarbeit

(v.l.) Jürgen Harich, Kevin Back, Prof. Dr. Ulf Broßmann, Prof. Dr. Dr. Jörg Hartung, Gernot Manz, und Stefan Rauhut

Nach einem Impuls mit dem Schwerpunkt auf die Bedeutung der Zusammenarbeit und Vernetzung der nach § 96 BVFG tätigen Einrichtungen stellten Jürgen Harich, Stellv. Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Donauschwaben, Gernot Mantz, Deutsch-Baltische Gesellschaft, Kevin Back, Kulturwerk Banater Schwaben e.V., Prof. Dr. Dr. Jörg Hartung, Landesvorsitzender der Westpreußischen Gesellschaft in Niedersachsen, Prof. Dr. Ulf Broßmann, Bundeskulturreferent der Sudetendeutschen Landsmannschaft, und Stefan Rauhut, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien, Nieder- und Oberschlesien,  exemplarisch ihre Arbeit und ihre Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen vor.

Jürgen Harich stellte fest, dass zunehmend die junge Generation Aufgaben und Funktionen in den Vereinen übernehme und sich fragen müsse, wie sie weitermachen könne. Wichtig sei eine Öffnung zu den Nachbarorganisationen bzw. Landsmannschaften und genauso zu den Nachbarländern. Er schilderte einige Möglichkeiten: In Sindelfingen werde das Haus der Donauschwaben renoviert, das biete die Möglichkeit, nachfolgend auch die Ausstellung dort zu verändern. Man müsse Geschichten erzählen über die Donauschwaben und ihre Heimatregion, um Interesse bei potentiellen Besuchern zu wecken, etwa über die Donau, über Tiere, die dort leben, über die Volksgruppen in der Region und deren spezielle Bräuche wie den Karneval, aber auch über den Umweltschutz. Es gebe einen Weltdachverband der Donauschwaben, der Kontakte zu Donauschwaben in aller Welt halte, dort habe man z.B. eine Art „airbnb“ aufgebaut, so dass Donauschwaben auf Reisen in anderen Ländern bei dortigen Donauschwaben übernachten könnten. Natürlich gebe es auch gute Kontakte nach Serbien, z.B. nach Sombor in der Batschka. Außerdem führe man Sommercamps zum Erlernen der deutschen Sprache durch, an denen z.B. auch Menschen aus Bulgarien, der Ukraine usw. teilnähmen. Aus solchen Treffen entwickelten sich dann weitere Initiativen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen den Teilnehmern.

Kevin Back stellte das seit einem Jahr bestehende Kulturwerk der Banater Schwaben vor, das bereits etliche Projekte fördert bzw. mit entwickelt hat. Dazu zählen Kunstausstellungen, z.B. in Temeswar (Rumänien), ein Tanz- und Trachtenseminar (während Corona auch online), Digitalisierungsprojekte, Übersetzungen von Büchern oder eine Sommer-Malakademie für Kinder in Temeswar. Zu den Institutionen, mit denen das Kulturwerk zusammenarbeitet, gehört die Ludwig-Maximilians-Universität München. Projekte finden an verschiedenen Orten statt, neben Temeswar auch in Klausenburg (Siebenbürgen) bzw. in weiteren Orten im Banat oder in Deutschland. Für diese Projekte werden Projektmittel eingeworben, das Kulturwerk wird aber auch vom Freistaat Bayern unterstützt.

Prof. Dr. Ulf Broßmann schilderte in der Rückschau die Schwierigkeiten, die sich in der Coronazeit ergaben. Zudem erläuterte er die Strukturen der Landsmannschaft, berichtete von Facebook-Gruppen zu einzelnen Orten im Sudetenland, an denen auch tschechische Mitglieder teilnähmen. Außerdem könne so der Kontakt zu den Sudetendeutschen in aller Welt gepflegt werden. Dann schilderte er das Bemühen, einen bestimmten sudetendeutschen Tanz als immaterielles Kulturerbe registrieren zu lassen und die damit verbundenen Mühen und Erfolge. Dabei geht es um einen Tanz aus dem Kuhländchen, einer Region in Nordmähren, die bis 1945 deutsch besiedelt war. Hier habe sich eine Freundschaft zu einer tschechischen Volkstanzgruppe aus den Beskiden ergeben, die nun auch Kuhländler Trachten und Tänze präsentiert.

Prof. Jörg Hartung berichtete über regelmäßige Aktionen wie den Westpreußen-Kongress, außerdem über die Zeitung und weitere Veröffentlichungen der Westpreußen sowie über das Westpreußische Landesmuseum in Warendorf. Im Hinblick auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit schilderte er den engen Kontakt seines Heimatkreises Marienwerder zur Patenstadt Celle und zur Heimatstadt (poln. Kwidzyn), die auch eine Partnerschaft geschlossen haben. Hervorgehoben wurde insbesondere der rege Austausch mit dem polnischen Kulturzentrum in Marienwerder, den es nach der Überwindung der Coronapandemie mit neuem Leben zu erfüllen gelte.

Gernot Mantz berichtete über die Baltendeutschen, die sich wegen ihrer Geschichte nicht als Vertriebene fühlen (Stichwort Umsiedlung 1939/40). Es gebe auch eine Kulturstiftung, die wissenschaftliche und kulturelle Aktivitäten koordiniere und einen Kulturpreis vergebe. Tänze und Trachtengruppen gebe es bei den Baltendeutschen nicht. Es gebe aber ein deutsch-baltisches Jugendwerk, eine Studienstiftung, auch Unterstützung für Ukrainer im Baltikum werde von den Baltendeutschen derzeit gefördert. Patenland der Baltendeutschen ist Hessen, so dass der „Sitz“ der Baltendeutschen Darmstadt sei.

Stefan Rauhut verwies auf die vielfältigen Informationen seiner Landsmannschaft im Internet. Die Schlesier seien auf fast allen Kanälen, die es im Internet gebe, zahlreich und aktiv vertreten.

 

Themenblock 6: Vernetzung mit wissenschaftlichen und musealen Einrichtungen – gemeinsam Wissen schaffen

(v.l.) Dr. Elisabeth Heigl, Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, Martin Lippa, Eichendorff-Zentrum Lubowitz,  Wilhelmine Schnichels, Donauschwäbische Kulturstiftung und Helmut Scheunchen, Ostdeutsche Studiensammlung

Helmut Scheunchen wies einleitend dankbar darauf hin, dass die Kulturstiftung die erste Institution sei, die nach der Ostdeutschen Studiensammlung frage. Nach einigen Angaben zu seiner Biographie (Musiker/Cellist) sprach er über die Künstlergilde Esslingen, über die er den Zugang zur ostdeutschen Musik gefunden habe. Er informierte über deutsch-baltische Musik und Verbindungen in andere Länder Europas bzw. von Musik der Deutschen in verschiedenen Regionen des östlichen Europas. Sein Wunsch sei eine Liste von Kulturgütern aus diesem Raum, die man dann an Museen ausleihen könne – denen man dafür Geld geben solle, damit sie die Gelegenheit auch nutzten.

Wilhelmine Schnichels informierte über die Donauschwäbische Kulturstiftung und ihre Kontakte in die Heimatregionen der Donauschwaben wie z.B. ins serbische Sombor. Man wolle die Geschichte „festhalten“ und habe ein Museum in der Vojvodina eingerichtet, in einem für die Region typischen Haus. Kontakte gebe es auch zu anderen Einrichtungen in Serbien und Ungarn sowie in Deutschland und natürlich zum Donauschwäbischen Zentralmuseum in Ulm. Die Stiftung biete u.a. Deutschkurse oder Reisen nach Deutschland an.

Dr. Elisabeth Heigl stellte die Geschichte und Arbeit des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz vor und betonte, dass Anfragen und eine Zusammenarbeit willkommen und auch gewünscht seien.  Ebenfalls stellte sie die Königsberger Archivalien vor, die seit den 1970er Jahren in Berlin-Dahlem verwahrt werden.

Martin Lippa informierte ausführlich über das Eichendorff-Zentrum in Lubowitz vor, das Veröffentlichungen, Ausstellungen, Vorträge und anderes bietet. Im Oktober 2021 habe etwa eine internationale Konferenz zu Schlesien und der deutschen Romantik stattgefunden. Ebenfalls stellte Lippa ein Konzept zur Neuausrichtung und wissenschaftlicher Aufwertung des Lubowitzer Eichendorff-Zentrums vor. In einem ersten Schritt gelte es, den Erhalt der Schlossruine sicherzustellen und sie in Folge mit Veranstaltungen zu bespielen. In einem zweiten Schritt solle das Eichendorff-Zentrum sich zu einer Kunstakademie europäischer Ausrichtung fortentwickeln, die grenzüberschreitend nicht nur der deutschen Minderheit in Polen, Tschechien und der Slowakei offenstehe, sondern auch der vor Ort lebenden Mehrheitsbevölkerung. Hierzu seien natürlich auch bauliche Maßnahmen erforderlich und er hoffe auf eine breite Unterstützung für die Verwirklichung dieses Projektes. Es sei das nächste (Groß-)Projekt des Eichendorff-Zentrums, das hoffentlich von deutscher Seite gefördert würde.

Abschließend wies Lippa darauf hin, dass man zurzeit in einem Teil der Tagungsstätte Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht habe. Für diese sei eine Betreuung organisiert worden, man versuche u.a. auch, Informationen über die in der Ukraine verbliebenen Familienmitglieder zu erhalten sowie psychologische Hilfe anzubieten.

In seinem Schlusswort dankte Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, allen Referenten und Teilnehmern für ihre Beiträge. Er forderte, die angesprochenen Themen bräuchten einen festen Platz in der Gesellschaft. Das deutsche kulturelle Erbe der Vertriebenen dürfe nicht in Vergessenheit geraten. Man müsse sich dieses Erbe als imaginäres 17. deutsches Bundesland vorstellen, zitierte er abschließend den früheren Berliner Kultursenator und Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums Prof. Dr. Christoph Stölzl, und so wie jedes Bundesland ein eigenes Kultusministerium habe, sei dies auch für den Vertriebenenbereich erforderlich.