Mittelalterliche Architektur in Polen

Romanische und gotische Baukunst zwischen Oder und Weichsel

Christofer Herrmann/ Dethard von Winterfeld (Hrsg.)

 

Auf Entdeckungsreise beim unbekannten Nachbarn

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg blieb für die bauhistorische bzw. kunstwissenschaftliche Forschung in der Bundesrepublik  Deutschland die Republik Polen eine weitgehende Terra incognita. Der mangelnde wissenschaftliche Austausch im geteilten Europa, die eingeschränkten Möglichkeiten der Untersuchung vor Ort sowie auch sprachliche Inkompetenz ließen die deutschen Forscher sich weit lieber der mittelalterlichen Architektur im Westen und Süden Europas zuwenden als der des Ostens. Hinzu kam gewiss auch der schmerzlich empfundene Verlust der nun zu Polen gehörenden vormals deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße mitsamt deren Kulturgütern.  Vieles von dem, was von der polnischen Bauforschung und ebenso von der dortigen Denkmalpflege bei der Wiederherstellung durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogener mittelalterlicher sakraler und profaner Baudenkmäler geleistet wurde, blieb so fast unbeachtet. Gleichwohl gab es bereits kurz vor der politischen Wende erste wissenschaftliche Kontakte einzelner Wissenschaftler und Institutionen, die in der Zeit danach intensiviert und institutionalisiert werden konnten, so etwa im Rahmen des Arbeitskreises deutscher und polnischer Kunsthistoriker. Der Arbeitskreis trifft sich seit 1988 regelmäßig, heute jährlich, abwechselnd in Polen und Deutschland zu Kolloquien, die von einzelnen oder mehreren Institutionen ausgerichtet werden.

Nicht zuletzt Frucht dieser Zusammenarbeit ist das 2015 im Michael Imhof Verlag, Peterberg, erschienene reich ausgestattete Monumentalwerk „Mittelalterliche Architektur in Polen – Romanische und gotische Baukunst zwischen Oder und Weichsel“.  Als Herausgeber der beiden Bände fungieren  Dethard von Winterfeld und Christofer Herrmann, in der grenzübergreifenden Forschung seit langem engagierte Kunsthistoriker zweier Generationen, deren darin enthaltene Beiträge durch die ihrer polnischen Kollegen Jacek Kowalski, Jarosław Jarzewicz und Alexander Konieczny ergänzt werden. Eingeleitet wird das Ganze durch einen Überblick über „Polen im Mittelalter“ des Historikers Udo Arnold.

 

 

 

Die Herausgeber und Autoren haben sich erklärtermaßen zum Ziel gesetzt hat, „dem Leser und Betrachter die Faszination der mittelalterlichen Architektur in Polen anschaulich nahezubringen“, und sie wenden sich hierbei nicht allein an die Fachwissenschaftler, vielmehr ebenso an die interessierten Laien, suchen ihnen dieses reiche Kulturerbe zu erschließen. Es ist dies in weiten Teilen ein gemeinsames Kulturerbe von Deutschen und Polen, hat es sich doch in Jahrhunderten in gegenseitigem Geben und Nehmen im territorial und später national sich immer wieder wandelnden Raum des östlichen Mitteleuropa entwickelt. Insofern war es sinnvoll und wichtig, das Werk nicht etwa „polnische Architektur“, sondern „Architektur in Polen“ zu nennen – ein Spannungsfeld, das erläutert wird in einem in das Werk abschließenden Beitrag des 2010 verstorbenen Andrzej Tomaszewki, eines der bedeutendsten polnischen Kunsthistoriker und Denkmalpfleger des 20. Jahrhunderts. Er hatte den Gedanken des gemeinsamen Kulturerbes etabliert und stets in besonderer Weise betont.

Diesem Ansatz entsprechend wählte man als Grundlage und Gliederung der Darstellung die historischen Regionen im heutigen Polen, die sich, wenngleich stets sich gegenseitig beeinflussend bzw. Einflüssen der Nachbarregionen und -länder ausgesetzt, als „Architekturlandschaften mit eigenständigen Merkmalen und Ausprägungen“ beschreiben lassen, wo also regionaltypische Eigenschaften typologischer oder dekorativer Art auszumachen sind. Es sind dies die Großlandschaften Schlesien, Hinterpommern/Neumark, Großpolen, Kleinpolen, Masowien und Preußen/Pommerellen (Deutschordensland).  Ergänzt wird deren Einzeldarstellung durch den gesamten Raum betreffende Beiträge, so zu der vor- und hochromanischen Architektur, bei der sich als seltenes westliches Importgut kaum regionale Eigenarten feststellen lassen, sowie zu der Architektur der Zisterzienser und der Bettelorden, bei denen gleichfalls überregionale Merkmale mit starken Bezügen zum westlichen Europa überwiegen. Einen landschaftsübergreifenden Sonderfall beschreibt zudem ein Beitrag zur sakralen Holzarchitektur in Schlesien, Groß- und Kleinpolen. Dass die Beiträge der verschiedenen Autoren deren jeweils eigenen Blickwinkel erkennen lassen bzw. deren Forschungsschwerpunkte widerspiegeln, wurde bewusst  und als die Gesamtdarstellung bereichernd akzeptiert.

Durchweg legte man, wie erwähnt, großen Wert auf Anschaulichkeit.  Den Beiträgen ist daher jeweils eine Einführung in die geographische Situation und die historische Entwicklung der einzelnen Regionen vorgeschaltet, der sich dann die Beschreibung der einzelnen Sakral- und Profanbauten in zeitlicher Abfolge sowie gegebenenfalls eine Darstellung der sie verbindenden spezifischen Merkmale anschließt, wobei aber auch auf die nachmittelalterliche Entwicklung bis zum heutigen Erscheinungsbild eingegangen wird. Die Bauwerke werden mit exzellenten, durchweg aktuellen Fotografien in Gänze und im architektonischen Detail präsentiert, dies ergänzt durch in einheitlicher Weise grafisch ansprechend gestaltete Grund- und Aufrisse sowie Rekonstruktionszeichnungen.  Der Anschaulichkeit der Beiträge und der leichteren Benutzbarkeit der Bände dient es auch, dass die auf das Wesentliche reduzierten Anmerkungen bzw. die Verzeichnisse verwendeter und weiterführender Literatur jeweils an das Ende des jeweiligen Beitrags gesetzt wurden.

Die „Mittelalterliche Architektur in Polen“ von Christofer Herrmann und Dethard von Winterfeld bilden zweifellos ein in jeder Hinsicht schwergewichtiges Standardwerk, das seine Bedeutung noch lange behalten dürfte. Die beiden klar gegliederten und großzügig illustrierten, damit leicht zu erfassenden Bände bieten eine breite, zur weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung anregende Materialgrundlage, ebenso jedoch vermögen sie durch ihre ansprechende Gestaltung, ein deutschsprachiges Publikum erstmals auf die geografisch so nahe liegenden, gleichwohl vielfach noch unbekannten architektonischen Schätze des Mittelalters im östlichen Nachbarland aufmerksam zu machen. Sie heben damit ein wesentliches Element des gemeinsamen deutsch-polnischen Kulturerbes in das öffentliche Bewusstsein und dienen nicht zuletzt dem näheren Kennenlernen und der weiteren Verständigung und  Freundschaft der Nachbarn in Europa.

Christofer Herrmann/ Dethard von Winterfeld (Hrsg.),
Mittelalterliche Architektur in Polen –
Romanische und gotische Baukunst zwischen Oder und Weichsel
Michael Imhof Verlag, Petersberg 2015
2 Bände, 24 x 30 cm , Hardcover,
insgesamt 1.136 Seiten, 
1609 Farbabbildungen

Band 1: 544 Seiten, 1017 Farbabbildungen
Band 2: 592 Seiten, 874 Farbabbildungen
ISBN 978-3-7319-0087-0, Preis 99,00 €

Ernst Gierlich
Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen