Joachim Kardinal Meisner, Predigt zum Flüchtlingsgottesdienst 1995

Predigt zum Flüchtlingsgottesdienst anlässlich des 50. Jahrestages der Vertreibung am 10. Juni 1995 im Hohen Dom zu Köln

 

Liebe Schwestern und Brüder!

„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“ (Joh 1,14), so lautet nach dem Johannesevangelium die Geschichte der Ankunft des ewigen Logos in unserer Welt. Gott ist an einen ganz bestimmten Ort in, unserer Welt Mensch geworden. Er ist innerhalb eines Volkes Mensch geworden. Er hat zeitlebens Palästina als seine Heimat geliebt und verehrt. Er hat zeitlebens um sein Volk gerungen und gelitten.

Heimatliebe und Solidarität mit den Bewohnern der Heimat ist im Neuen Testament für Christus eine Selbstverständlichkeit. Allerdings hat er auch das Schicksal des Flüchtlings auf sich nehmen müssen. Da im Neuen Testament nichts nebensächlich oder rein zufällig ist, können wir in der Flucht nach Ägypten nur die Solidarität des Herrn mit den Flüchtlingen aller Zeiten und aller Nationen sehen

Als Heimatvertriebene haben wir Jesus ganz auf unserer Seite und haben ihn ganz unter uns Er ist unser Schicksalsgefährte und Leidensgenosse.

Für 15-Millionen Deutsche begann Ende 1944 und dramatisch ab 1945 ein dunkles Kapitel menschlicher Passion: Flucht, Vertreibung oder Deportation aus der Heimat. Von der Ursache her: Folge der Nazi-Diktatur, die 1 Millionen andere Menschen vor uns heimatlos gemacht hat; vom Ergebnis gleichermaßen: unmenschlich und unentschuldbar.

Im Schicksal der Heimatvertriebenen müssen sich alle Deutschen wiedererkennen. Vertreibung aus der Heimat ist kein Privatproblem der Heimatvertriebenen. Als Konsequenz des Hitlerkrieges tragen die Heimatvertriebenen nicht mehr oder weniger Schuld am Krieg als die anderen. Wohl aber haben sie mehr an den Folgen dieses verbrecherischen Krieges zu tragen bekommen. Daran kann man nicht unbeteiligt vorübergehen. Im Wunsch, endlich einen Schlussstrich unter das Problem der Heimatvertriebenen zu ziehen, kann sich allerdings das schlechte Gewissen der Daheimgebliebenen zeigen. Im übrigen ist die Heimatvertreibung eigentlich noch nicht beendet. Sie gibt es auch geistiger Art heute noch. Viele Heimatvertriebene haben mir in der unseligen Diskussion um die Begriffe: Befreiung oder Verelendung geschrieben, dass sie sich durch die Äußerung vieler Politikerinnen und Politiker, die 1945 noch gar nicht geboren waren oder die nie ihre Heimat verlassen mussten, erneut in die Fremde, in das Unverständnis verstoßen fühlten. Wie will eine Politikerin einer Frau aus Ostpreußen, die dreißigmal vergewaltigt worden ist, einreden, sie habe das Kriegsende als die große Befreiung zu zelebrieren? Um es nochmals zu sagen: Von der Ursache her war Flucht, Vertreibung oder Deportation ein Ergebnis der Nazi-Diktatur,- vom Ergebnis her gleichermaßen: unmenschlich und unentschuldbar.

Zur Identität Jesu gehört Palästina und darum müssen christliche Theologen ja Hebräisch und Griechisch lernen. Sie müssen die Umwelt Jesu zu seiner Zeit kennenlernen, um seine Person zu kennen. Zur Identifikation Jesu gehört seine Heimat. Das gilt auch für uns Menschen. Zu unserer Identität gehört unsere irdische Heimat. Es kann niemand daran gelegen sein, uns von unserem Ursprung abzuschneiden, selbst, wenn wir daraus vertrieben worden sind. Heimat ist jenes Stückchen Erde, auf dem wir diese Welt betreten haben, und auf dem wir erstmalig erfahren haben, was der Himmel, die Erde, der Weg, der Baum, das Haus, der Hof, Vater, Mutter und Gott und die Kirche sind. Und mit diesem Stückchen ursprünglicher Erderfahrung bewältigen wir alle spätere Welterfahrung. Wir brauchen die Heimat zu unserer Identität. Die tiefste Identität mit unserer Heimat schenkt uns unser Glaube! Und es gehört zu unserem christlichen Paradox, dass diese tiefste Bindung an die Heimat, uns am ehesten die Fremde wieder zur Heimat werden ließ. Der Glaube an Gott ließ uns erkennen, dass der Himmel über der Fremde derselbe Himmel ist, der auch die heimatliche Landschaft überwölbte. Dass die Erde, die uns

in der Fremde trägt, die gleiche ist, die uns auch in der Heimat getragen hat. Der Glaube an Gott hat uns gezeigt, dass unser Gott der Gott der wandernden Völker ist. Der mitgezogen ist mit seinem. Volk von Ur in Chaldäa nach Ägypten; von Ägypten durch die Wüste ins Gelobte Land; vom Gelobten Land ins babylonische Exil und wieder zurück. Sein Sohn, Jesus Christus, schickte die Jünger in alle Welt, um die Frohe Botschaft auszurichten, dass er bei uns ist alle Tage und aller Orte bis zur Vollendung der Welt (vgl. Mt 28,20). Darum hat der Christ eine letzte Beheimatung in Gott. Wer nicht gottlos geworden ist, kann eigentlich auch nicht mehr heimatlos werden.

Wir brauchen um der Zukunft unserer selbst und um der Zukunft unseres Volkes willen unsere Herkunft. Das ist unsere Heimat: Ostpreußen, Schlesien, Westpreußen, Danzig, das Sudetenland und die anderen Landschaften, aus denen Deutsche 1945 und danach vertrieben worden sind. Wir wollen und müssen um unserer Identität willen sagen dürfen: Das dort ist unser Zuhause“, ohne dass wir zunächst damit politische Ambitionen verbinden. Und deshalb dürfen wir keinen Schlussstrich unter das Problem der Heimatvertriebenen ziehen, zunächst nicht aus politischen Gründen, sondern aus menschlichen Rücksichten, weil man keinen Menschen von seiner Herkunft abschneiden darf. Aber auch aus einem anderen Grund darf Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihren östlichen Heimatgebieten nicht in Vergessenheit geraten, damit die Mahnung, die dahinter steht, nicht verlorengeht, um ein gleiches Schicksal anderen zu ersparen. Nur der weiß, welches unendliche Leid damit verbunden ist, wenn Menschen aus ihrer Heimat verjagt werden, der selbst vertrieben wurde. Er wird alles daran setzen, dass so etwas – wer auch immer die Betroffenen sein mögen – nie wieder geschieht. Nicht an der Klagemauer ließen sich die Heimatvertriebenen nieder, sondern sie ließen sich auf das Feld der Bewährung stellen und nahmen Neuland unter den Pflug, und ich meine, sie haben ihre Arbeit gut gemacht.

Die Überlebenden der schrecklichen Vertreibung haben in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten Bewundernswertes vollbracht. Sie haben nicht nur ihr eigenes persönliches, tragisches Geschick gemeistert, sondern haben auch das zerstörte westliche Deutschland aus Trümmern, Schutt und Asche mit aufgebaut. Das nach dem Krieg wiedererstandene Deutschland ist auch ihr Werk. Darüber hinaus wussten sie sich dem Gebot Christi verpflichtet und haben ihre Hand den östlichen Nachbarvölkern zur Versöhnung ausgestreckt, und sie wurde inzwischen auch ergriffen. Viele unserer östlichen Nachbarn sind auch zu Heimatvertriebenen geworden. Schon 1950, wo noch alle Wunden bluteten, wo die schrecklichen Erinnerungen noch nicht vom lindernden Schleier des Vergessens gnädig zugedeckt, waren, haben die Heimatvertriebenen in der denkwürdigen Charta von Stuttgart ausdrücklich auf „Rache und Vergeltung“ verzichtet. Nicht das „Auge um Auge“, „Zahn für Zahn“ bestimmte das Handeln der deutschen Vertriebenen, sondern die uns in der Taufe eingestiftete Versöhnungswirklichkeit. Dafür ist unseren Heimatvertriebenen nur zu danken. Auf dieser Grundlage geschah damals während des 2. Vatikanischen Konzils der Austausch der Versöhnungsbotschaften zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen.

Im Zentrum Europas kommt dem deutschen, dem französischen, dem polnischen und dem tschechischen Volk eine zentrale Sendung für Gesamteuropa zu. Was niemand für möglich gehalten hat, ist im Westen gelungen. Friede und Freundschaft mit dem früheren Erzfeind- Frankreich. Nun ist Friede und Freundschaft geboten mit den östlichen Nachbarn! Und hier bilden gleichsam die Heimatvertriebenen ein Scharnier. Die meisten von ihnen haben ihre angestammte Heimat in den jetzigen östlichen Nachbarländern und ihre erworbene Heimat im heutigen Deutschland. Sie bilden gleichsam durch ihr Lebensschicksal die natürliche Brücke nach dem Osten hin. Auf einer Brücke treten zwar alle herum, aber nur dadurch ereignet sich Begegnung und Versöhnung. Das ist unsere Berufung, unter der wir stehen. Vielleicht ist das der verborgene Wille Gottes, wenn man so sagen darf, der die furchtbaren Ereignisse von 1944 bis 1947 zuließ. Wir sollten zum harten Kern der Versöhnungsbewegung mit dem Osten werden, damit ein starkes, geeintes West- und Mitteleuropa zum harten Kern für ein geeintes, befriedetes und christliches Gesamteuropa werden kann-. Das ist die geschichtliche Stunde, in der wir stehen und das ist unsere einmalige Berufung, die vielleicht nur wir zugunsten eines neuen Europas erfüllen sollen. Sorgen wir mit, dass das Blut, die Tränen, die Schmerzen und Leiden unserer Landsleute nicht umsonst waren. Vor uns im Hohen Chor

des Kölner Domes ruhen im kostbaren Schrein die Gebeine der Heiligen Drei Könige, die über die Straßen der Welt unter dein Zeichen des Sternes zu Christus gepilgert sind. Sie sollen unsere Vorläufer sein, dass auch wir unter dem Stern unseres Heimatglaubens zu Christus gelangen, der unser aller Ziel ist.  Amen.

+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln