PM: Deutsch-Polnische Literaturbeziehungen im Fokus einer interdisziplinären Fachtagung der Kulturstiftung

Am 20. Mai 2021 hätte Karl Dedecius, der große Übersetzer polnischer Literatur und verdiente Vermittler zwischen Deutschland und Polen, seinen 100. Geburtstag gefeiert. Aus diesem Anlass richtete die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen eine interdisziplinäre Fachtagung mit dem Titel „Verstehen und Verständigung: Deutsch-Polnische Literaturbeziehungen im 20./21. Jahrhundert“ aus.

Vom 8. bis 10. September 2021 kamen Referentinnen und Referenten, Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland und Polen im Collegium Polonicum in Słubice zusammen, um sich gemeinsam über die historischen und gegenwärtigen literarischen Beziehungen beider Länder auszutauschen und zu eruieren, inwieweit die Vermittlung von Sprache und Literatur dazu beitragen kann, ein gegenseitiges Verstehen und eine gemeinsame Verständigung herzustellen.

Zunächst begrüßte Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung, die Referentinnen und Referenten, Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Er hob Karl Dedecius‘ Bemühungen um Verstehen und Verständigung hervor und dankte dem Collegium Polonicum dafür, dass die Fachtagung in Słubice, einem Ort, der wie kein anderer für den grenzüberschreitenden Austausch zwischen Deutschland und Polen steht, stattfinden kann. Anschließend hielten Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung, und Dr. Krzysztof Wojciechowski, Verwaltungsdirektor des Collegium Polonicum, Grußworte.  Danach übernahm Dr. Kathleen Beger, wissenschaftliche Referentin für Geschichte, Staats- und Völkerrecht sowie Literatur bei der Kulturstiftung, die Moderation der Tagung.

Prof. Dr. Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, führte mit einem Grundsatzreferat zum Leben und Wirken von Karl Dedecius in die Thematik ein. Seinen Vortrag untermauerte er mit kritischen persönlichen Einblicken. Dabei machte er deutlich, wie sich seine Einstellung zur Person Karl Dedecius im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere veränderte. Auch wenn Loew zu Beginn seiner Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut die oftmals grenzenlose Bewunderung für Karl Dedecius für ein seltsames Gebaren hielt und mit Skepsis verfolgte, so misst er dem wichtigen Übersetzer heute doch große Bedeutung bei. Dedecius habe nicht nur die deutsch-polnischen Literaturbeziehungen nach 1945 maßgeblich mitgeprägt, sondern das deutsch-polnische Verhältnis insgesamt und werde künftig die Wissenschaft als Schlüsselfigur des Kulturaustausches weiter beschäftigen.

Sprachkorrekturen und Identitätsverständnis

Der zweite Tagungstag begann mit dem Panel „Raum“. Prof. Dr. Paweł Bąk von der Universität Rzeszów (Resche) widmete seinen Vortrag der Frage nach der Korrektur der Sprache und der Pragmatisierung von Metaphern beim Übersetzen. Er zeigte auf, dass es Bildgemeinschaften gibt und Kulturkreise über gemeinsame sprachliche Weltbilder verfügen, weshalb Metaphern gefahrlos in Nachbarsprachen übersetzt werden können.

Den zweiten Vortrag hielt Prof. Dr. Renata Makarska von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Am Beispiel des Autors Matthias Nawrat, der zur zweiten Nachkriegsgeneration aus Polen stammender Schriftsteller und Schriftstellerinnen in Deutschland gehört, stellte sie neue Tendenzen in der Migrations- bzw. transkulturellen Literatur vor. Nawrats Werke lösen sich Prof. Makarska zufolge vom Fokus auf die Nation und das „Polnische“, auch wenn die Texte nach wie vor polnischsprachige Einsprengsel und Passagen enthalten.

Das zweite Panel war der „Identität“ gewidmet. Den ersten Vortrag, der sich mit Identitätsfragen in den Texten von Karl Dedecius beschäftigte, hielt Prof. Dr. Bożena Chołuj von der Europa-Universität Viadrina. Wie sie darlegte, schrieb Dedecius zwar in keinem seiner Texte über Identitätsfragen. Nichtsdestotrotz arbeitete er als Übersetzer für polnische Literatur an seinem Selbstbild als Vermittler zwischen Deutschland und Polen. Er suchte sich als Europäer aus Łódź darzustellen, verschränkte sich mit der Geschichte seiner Geburtsstadt, die bis 1938 eine multikulturelle Stadt war, und platzierte sich zwischen den Nationen. Diese Rolle geriet im Laufe der Zeit zu einer Mission.

Der zweite Vortrag des Panels widmete sich dem Schaffen und dem Heimatbegriff von Ilse Langner, einer bisher wenig beachteten Schriftstellerin aus Schlesien. Dr. Aleksandra Nadkierniczna-Stasik von der Universität Wrocław zeigte auf, dass Ilse Langner ihr ganzes Leben lang dafür gekämpft hat, verstanden zu werden, ihre Stimme aber lange überhört wurde. Die 1899 in Breslau (Wrocław) geborene Autorin engagierte sich für die Verständigung zwischen den Völkern sowie zwischen Frauen und Männern. Charakteristisch für ihr Werk waren nicht zuletzt ihre Kindheitserinnerungen an Schlesien und seine unversehrte Natur. Ihr Bekenntnis zur Heimat stand allerdings nicht für sich allein, denn Langner bettete ihre Erlebnisse in Schlesien, positive wie negative, stets in einen breiteren Kontext ein.

Der Nachmittag des zweiten Tagungstages war der Vorstellung des Karl Dedecius Archivs und der Karl Dedecius Stiftung gewidmet. Dr. Agnieszka Brockmann, Leiterin des Archivs, gab zunächst einen Einblick in die Besonderheiten der Bestände. So hatte die Gründung des Archivs im Jahr 2001 einen Paradigmenwechsel zur Folge, da hier nicht die Untersuchung der Texte, sondern ihrer Agenten und Agentinnen, die am Übersetzungsprozess beteiligt waren, im Vordergrund steht. Anschließend stellte Dr. Ilona Czechowska die Arbeit der Karl Dedecius Stiftung vor. Diese wurde 2013 mit dem Ziel gegründet, den literarischen und geistigen Nachlass von Karl Dedecius zu verwalten. Zu ihren Hauptaufgaben gehört die Erforschung der Rezeption polnischer Literatur im deutschen Sprachraum sowie die Förderung von Austausch, Begegnung und Zusammenarbeit deutsch-polnischer und polnisch-deutscher Übersetzer und Übersetzerinnen.

Anlässlich seines 100. Geburtstages hat Dr. Ilona Czechowska zusammen mit Dr. Ernest Kuczyński von der Universität Łódź eine Monografie mit dem Titel „Karl Dedecius. Inter verba – inter gentes“ veröffentlicht. Das zweisprachige Buch richtet den Fokus auf die Städte Łódź, Darmstadt und Frankfurt (Oder), da diese im Leben von Dedecius eine bedeutende Rolle gespielt haben, lässt Personen zu Wort kommen und stellt Perspektiven vor, die bisher wenig Beachtung gefunden haben.

Den Abschluss des zweiten Tagungstages bildete eine Podiumsdiskussion, an der der berühmte polnische Gegenwartsautor und Literaturhistoriker Prof. Dr. Stefan Chwin aus Gdańsk (Danzig), Prof. Dr. Karol Sauerland von der Universität Toruń (Thorn) und der Übersetzer und Karl-Dedecius-Preisträger Bernhard Hartmann teilnahmen. Einleitend las Prof. Chwin einen kurzen polnischsprachigen Auszug aus seinem Buch „Der Tod in Danzig“ (polnischer Originaltitel: „Hanemann“), den Matthias Lempart von der Kulturstiftung fortsetzte, indem er die darauffolgende Passage in deutscher Übersetzung vorlas. Gemeinsam diskutierten sie über die historischen und gegenwärtigen deutsch-polnischen Literaturbeziehungen und die Rolle, die Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Übersetzer und Übersetzerinnen aus den beiden Ländern dabei spielen bzw. spielten.

Erinnerungsorte

Der letzte Tagungstag begann mit dem Panel „Erinnerung“, im Rahmen dessen Dr. Joanna Bednarska-Kociołek von der Universität Łódź einen Vortrag zur Bedeutung der Stadt Danzig/Gdańsk als Erinnerungsort in der deutschen und polnischen Gegenwartsprosa hielt. Wie Bednarska-Kociołek demonstrierte, ist die Stadt ein wichtiger Begegnungsort für Polen und Deutsche. Zugleich ist sie ein hybrider Ort, der sowohl Schauplatz von Auseinandersetzungen und Konflikten als auch Quelle einer reichen Kulturmischung und sprachlich kultureller Heterogenität sein kann.

Den Abschluss der Tagung bildete ein Stadtrundgang, den Karl-Konrad Tschäpe vom Viadrina Museum Frankfurt (Oder) leitete. Er nahm die Teilnehmer und Teilnehmerinnen mit an den westlichen Stadtrand und besuchte mit ihnen die Ausstellung „Willkommen in der Heimat“ zur Heimkehr Kriegsgefangener und Zivilinternierter über das Entlassungslager Frankfurt (Oder) in den Jahren zwischen 1945 und 1950. Die Stadt ist unmittelbar nach Kriegsende zu einem gewaltigen Umschlagplatz geworden, den täglich Tausende passierten. Die Ausstellung in der Hornkaserne ist der Beschreibung der Schicksale dieser Menschen und der Stadt zu dieser Zeit gewidmet.

  • Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen / (kabe) & (tra)

Text der Pressemitteilung als pdf:
2021-10-07-KS-22-Dedecius-Tagung_aktualisiert

Ein ausführlicher Tagungsbericht ist auf der Webseite der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen abrufbar unter: https://kulturstiftung.org/beitraege/allgemein/fachtagung-der-kulturstiftung-nahm-deutsch-polnische-literaturbeziehungen-in-den-fokus

Foto: Tagungsraum mit Tagungsteilnehmern
Die Fachtagung fand im Tagungsraum des Collegium Polonicum in Słubice statt.
Foto: Dr. Brockmann zeigt ein Buch aus dem Dedecius Archiv
Dr. Agnieszka Brockmann präsentiert die Schätze des Karl Dedecius Archivs
Foto: Dr. Stefan Chwin am Rednerpult bei seiner Lesung
Der berühmte polnische Gegenwartsautor Prof. Dr. Stefan Chwin las einen Auszug aus seinem Buch ‚Der Tod in Danzig
Foto: Karl-Konrad Tschäpe in den Räumen der Ausstellung "Willkommen in der Heimat"
Karl-Konrad Tschäpe vom Viadrina Museum stellte die Ausstellung ‚Willkommen in der Heimat‘ zur Heimkehr Kriegsgefangener und Zivilinternierter vor