Im Nachgang des 80. Jahrestags der Deportation der Deutschen in der Sowjetunion 1941 stellten der Beauftragte für Heimatvertriebene und Spätaussiedler im Freistaat Sachsen, die Technische Universität Chemnitz und die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen das literarische Schaffen der Wolgadeutschen sowie ihrer Nachfahren in den Fokus einer gemeinsamen Fachtagung, die den Titel „Die Literatur der Wolgadeutschen – Geschichte, Werke, Menschen“ trug. Vom 24. bis 26. März 2022 kamen im Goethe-Institut in Dresden Referenten, Autoren, Zeitzeugen und Multiplikatoren zusammen, um bisher weitgehend unbekannte Themen, Persönlichkeiten, kanonische Werke sowie Zeiträume und Existenzbedingungen eines scheinbar eigenständigen Literaturbetriebs vorzustellen.
Zu Beginn hielten Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll von der Technischen Universität Chemnitz, Dr. Jens Baumann, Beauftragter für Vertriebene und Spätaussiedler im Freistaat Sachsen, Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung, und Johann Thießen, Bundesvorsitzender der Landmannschaft der Deutschen aus Russland, Grußworte. Sie alle hoben die Bedeutung und Vielschichtigkeit der Literatur der Wolgadeutschen hervor und luden zu anregenden Diskussionen und Gesprächen ein. Danach führte Tatjana Kohler, Doktorandin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), ins Tagungsprogramm ein und übernahm die Moderation der Veranstaltung.
Zum Auftakt führte Dr. Viktor Krieger vom Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland mit seinem Vortrag „Entstehung und gewaltsame Auflösung einer eigenständigen nationalen Minderheit: Der Fall Wolgadeutsche“ ins Tagungsthema ein. Er skizzierte die historischen Hintergründe seit der Ansiedlung deutscher Bauern und Handwerker an der Wolga im 18. Jahrhundert und verdeutlichte die Bedingungen, unter denen sich ihre Sprache, Kultur und Literatur bis zum Beginn der 1990er Jahre entwickeln konnte.
Den zweiten Vortrag des ersten Tagungstages hielt Prof. em. Dr. Annelore Engel von der Christian-Albrechts-Universität Kiel zum Thema „Literarisierte Wirklichkeit. Leben an Wolga und nördlicher Schwarzmeerküste in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg“. Sie setzte sich kritisch mit einer Behauptung von Alexander Barta aus dem Jahr 1934, wonach die Russlanddeutschen vor der Oktoberrevolution lediglich eine „epigonenhafte Kulaken- und Pfaffenliteratur“ besaßen, auseinander.
Den Auftakt des zweiten Tagungstages machte Prof. Dr. Carsten Gansel von der Justus-Liebig-Universität Gießen mit einem Vortrag zu „Gerhard Sawatzkys Roman ‚Wir selbst‘ (1938) und die Wolgadeutsche Republik“. Darin analysierte er die Stärken und Schwächen von „Wir selbst“, der als bedeutendster Roman der Wolgadeutschen in der Zwischenkriegszeit gelten kann.
Im Anschluss referierte Nina Paulsen, Publizistin, Literaturkritikerin und Redakteurin bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, zum Thema „‚Sowjetdeutsche‘ Literatur der Nachkriegszeit: Zwischen dem ‚Großen Schweigen‘ und dem Ausgang in die historische Heimat“. In ihrem Vortrag vermittelte sie Einblicke in den Literaturbetrieb der Nachkriegszeit von etwa 1941 bis zum Beginn der 1990er Jahre. Dabei machte sie deutlich, dass die Deportation 1941 zwar verheerende Folgen für das deutschsprachige Schrifttum besaß, dieses für die Deutschen in der Sowjetunion aber nichtsdestotrotz einen hohen Wert im Bemühen um ihre sprachlich-kulturelle und historische Identität darstellte.
Den dritten Vortrag des Tages bestritt Agnes Gossen-Giesbrecht, Schriftstellerin, Übersetzerin und ehemalige Vorsitzende des Literaturkreises der Deutschen aus Russland e.V. In ihrem Referat informierte sie über die Tätigkeiten des Literaturkreises, insbesondere über seine Entstehung und seine Aktivitäten, über die Zusammenarbeit mit Verlegern und die Förderung junger Autoren.
Am Nachmittag des zweiten Tagungstages stellte zunächst Dietmar Schulmeister von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Nordrhein-Westfalen die „Russlanddeutschen Kulturtage“, die seit 2018 alljährlich zwischen September und November stattfinden, vor. Danach präsentierte Artur Böpple vom Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland in Nürnberg die Projekte seiner Einrichtung, die sich als Begegnungs- und Veranstaltungsort, als Zentrum zur Geschichts- und Kulturvermittlung sowie als Forschungs- und Bildungseinrichtung versteht.
In der Folge hielt Julia Podelo von der Humboldt-Universität zu Berlin/Universität Bayreuth einen Vortrag mit dem Titel „Russlanddeutsche Literatur im Rahmen eines diversitätssensiblen Literaturunterrichts“. Sie setzte sich kritisch mit dem Roman „tschick“ von Wolfgang Herrendorf auseinander und plädierte dafür, an Schulen Werke heranzuziehen, die die mannigfaltigen Lebenswege der Russlanddeutschen besser abbilden und stärker für ein „Deutsch-Sein“ unter verschiedenen Bedingungen sensibilisieren.
Als nächstes präsentierte Jan Pöhlking von der Ruhr-Universität Bochum seine Masterarbeit mit dem Titel „Das Theater der deutschsprachigen Minderheit in der Sowjetunion: Zwischen Emanzipation und Abhängigkeit“. Anhand des 1980 gegründeten deutschsprachigen Theaters im kasachischen Temirtau fragte er nach der Bedeutung, die das Theater für die deutsche Minderheit in der Sowjetunion besaß und suchte zu eruieren, inwieweit es dazu beitrug, spezifisch sowjetdeutsche Diskurse zu reflektieren, zu verhandeln und anzustoßen.
Dem wolga- bzw. russlanddeutschen Theater in der Sowjetunion widmete sich auch der Vortrag von Edwin Warkentin, Kulturreferat für Russlanddeutsche am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, mit dem Titel „Von ‚Der eigene Herd‘ bis ‚Die Kist´ von der Wolga‘: Inszenierungen wolgadeutscher Texte im Kontext der Zeit“. Warkentin schlug einen Bogen vom wolgadeutschen Staatstheater in Engels zwischen 1931 bis 1941 über das deutsche Theater in Temirtau in den 1980er Jahren bis hin zum russlanddeutschen Theater in Niederstetten im Jahr 2018. Dabei verdeutlichte er, mit welchen Inhalten, Motiven und Herausforderungen die Intendanten und Schauspieler an den drei Standorten konfrontiert waren und wie sie die wolgadeutsche Literatur rezipierten.
Den Höhepunkt der Veranstaltung bildete ein kulturelles Abendprogramm am zweiten Tagungstag. Hierzu referierte zunächst die Bloggerin Melitta L. Roth zum Thema „Vom Erinnern und den Lücken dazwischen“ und verlieh damit ihrem Anliegen, die gesammelten Scherben der Erinnerung zu einem Mosaik zusammenfügen zu wollen, Ausdruck. Um die Zeitzeugenperspektive des russlanddeutschen Kriegsfolgenschicksals zu integrieren, las sie die Kurzgeschichte „Von wegen – früher!“ aus ihrem Erstlingswerk „Gesammelte Scherben“ (2020). Im Anschluss las die Schriftstellerin Eleonora Hummel aus ihrem Buch „Die Wandelbaren“ (2019), das Begebenheiten um das deutsche Theater in Temirtau schildert. Im Fokus des Romans steht weniger das Theater selbst als vielmehr seine Schauspieler, ihre Hoffnungen und Träume. Zum Abschluss las Melitta L. Roth die bislang unveröffentlichte Kurzgeschichte „Babulja haut ab“ vor.
Am dritten und letzten Tagungstag hielt Dr. Lilli Gebhard, freie Mitarbeiterin am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, einen Vortrag mit dem Titel „Religiöse Weltsicht und literarische Verarbeitung von Migration am Beispiel der russlanddeutschen Mennoniten“. Darin demonstrierte sie, dass die Religiosität für die Identität russlanddeutscher Mennoniten sehr bedeutend war, da sie ihnen half, die traumatisierenden Ereignisse zu verkraften und zu verarbeiten.
In der Abschlussdiskussion fassten Tatjana Kohler, Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll und Dr. Jens Baumann die Ergebnisse der Vorträge zusammen. Die Tagung hat ihnen zufolge deutlich gemacht, dass es in der Literatur der Wolgadeutschen nach wie vor Leerstellen und Desiderate gibt, derer sich künftige Forschergenerationen annehmen sollten. Ein Sammelband mit Aufsätzen zu den einzelnen Vorträgen ist geplant.
- Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen / (kabe)
Text der Pressemitteilung als pdf:
2022-04-08-KS-09-Literatur-der-Wolgadeutschen
Die Tagung ist als Aufzeichnung auf dem YouTube-Kanal der Kulturstiftung abrufbar: www.bit.ly/kulturstiftungvideo
Ein ausführlicher Tagungsbericht ist auf der Webseite der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen abrufbar unter: www.kulturstiftung.org
(direkter Link: https://kulturstiftung.org/beitraege/allgemein/fachtagung-der-kulturstiftung-widmet-sich-der-literatur-der-wolgadeutschen)