Die Vielfalt einer Gesellschaft wie die der Bundesrepublik Deutschland spiegelt sich auf mehreren Ebenen wider. Eine davon ist die Literatur, wie das wachsende Angebot an Migrations- und interkultureller Literatur zeigt. Darunter befindet sich eine Gruppe von Texten, die nicht erst mit der Einwanderung ihrer Autoren nach Deutschland zur Migrations- und interkulturellen Literatur wurde. Gemeint sind die Werke deutschsprachiger Heimatvertriebener und (Spät-)Aussiedler, die bis zu den beiden Weltkriegen im östlichen Europa beheimatet waren. Zu den bekanntesten gehören die Wolgadeutschen im Russischen Reich und der Sowjetunion.
Im Nachgang des 80. Jahrestags ihrer Deportation unter Josef Stalin per Erlass vom 28. August 1941 stellten der Beauftragte für Heimatvertriebene und Spätaussiedler im Freistaat Sachsen, die Technische Universität Chemnitz und die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen das literarische Schaffen der Wolgadeutschen sowie ihrer Nachfahren in der späten Sowjetunion und in der „Berliner Republik“, der sogenannten Russlanddeutschen, in den Fokus einer gemeinsamen Fachtagung, die vom 24. bis 26. März 2022 im Goethe-Institut in Dresden stattfand. Ziel war es, bisher weitgehend unbekannte Themen, Persönlichkeiten, kanonische Werke sowie Zeiträume und Existenzbedingungen eines scheinbar eigenständigen Literaturbetriebs der interessierten Öffentlichkeit vorzustellen.
Zunächst begrüßte Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll von der Technischen Universität Chemnitz die Referenten und Teilnehmer. Anschließend hielten Dr. Jens Baumann, Beauftragter für Vertriebene und Spätaussiedler im Freistaat Sachsen, Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung, und Johann Thießen, Bundesvorsitzender der Landmannschaft der Deutschen aus Russland, Grußworte. Sie alle hoben die Bedeutung und Vielschichtigkeit der Literatur der Wolgadeutschen hervor, machten auf die besonders gelungene Auswahl an Vorträgen aufmerksam und luden zu fruchtbaren Diskussionen und anregenden Gesprächen während und am Rande der Tagung ein. Danach übernahm Tatjana Kohler, Doktorandin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), die Moderation der Veranstaltung.
Dr. Viktor Krieger vom Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland führte mit seinem Vortrag „Entstehung und gewaltsame Auflösung einer eigenständigen nationalen Minderheit: Der Fall Wolgadeutsche“ ins Tagungsthema ein. Er skizzierte die historischen Hintergründe seit der Ansiedlung deutscher Bauern und Handwerker an der Wolga im 18. Jahrhundert und verdeutlichte die Bedingungen, unter denen sich ihre Sprache, Kultur und Literatur bis etwa 1991 entwickeln konnte. Im multiethnischen, multikonfessionellen und multikulturellen Russischen Reich dauerte es nach der erstmaligen Ansiedlung deutscher Kolonisten beinahe ein Jahrhundert, ehe ab dem späten 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert ein nennenswerter Kultur- und Literaturbetrieb entstand. Mit der Gründung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) im Jahr 1924 gelang es, den Kulturbetrieb zu professionalisieren. Neben deutschsprachigen Bildungsanstalten entstanden ein Zentralmuseum, eine Zentralbibliothek, ein Theater und zahlreiche Printmedien. Obwohl diese Errungenschaften in das sozialistische Gesellschaftssystem integriert waren, schufen sie vielfältige Bildungsangebote und verhießen Aufstiegschancen, was in der breiten Bevölkerung der Hauptgrund für die Unterstützung der neuen Machthaber war. Mit der Deportation der Wolgadeutschen nach Sibirien und Kasachstan 1941 fand diese Entwicklung ein jähes Ende. Fortan mussten sie Zwangsarbeit leisten und waren in sogenannten „Sondersiedlungen“ untergebracht. Auch wenn sie 1955 von ihrer Sonderstellung befreit wurden und der sowjetische Staat die Deportation 1964 offiziell als Stalinsche Willkür anerkannte, blieb ihnen eine Rückkehr in die einstige Wolgarepublik verwehrt.
Den zweiten Vortrag des ersten Tagungstages hielt Prof. em. Dr. Annelore Engel von der Christian-Albrechts-Universität Kiel zum Thema „Literarisierte Wirklichkeit. Leben an Wolga und nördlicher Schwarzmeerküste in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg“. Sie nahm sich dabei der Behauptung von Alexander Barta auf dem ersten sowjetischen Schriftstellerkongress in Moskau 1934 an, wonach es „eine bedeutende deutsche Literatur in Russland vor der Oktoberrevolution nicht gegeben [habe]“; lediglich eine „epigonenhafte Kulaken- und Pfaffenliteratur“ habe Barta zufolge „neben der Einfuhr aus dem wilhelminischen Deutschland“ existiert. Zunächst legte Engel dar, dass der Ausdruck „Kulaken- und Pfaffenliteratur“ wohl auf ein Agitationsgedicht von Alexander Wulf aus dem Jahr 1916 zurückgeht, und erklärte, dass mit „Einfuhr aus dem wilhelminischen Deutschland“ nicht der Import von Gustav Freytag, Theodor Fontane oder Theodor Storm gemeint sei, sondern Werke von in Russland geborenen, über Russland auf Deutsch schreibenden Autoren, die im Wilhelminischen Kaiserreich publizierten. Im Laufe ihrer weiteren Ausführungen zeichnete sie anhand zahlreicher Beispiele ein vielschichtiges Bild des damaligen literarischen Schaffens. Zugleich gab sie zu Bedenken, dass viele vor dem Ersten Weltkrieg in Russland verfasste Werke nicht gedruckt, sondern mündlich tradiert wurden, darunter Lieder, Rätsel, Märchen, Sagen und Schwänke in zahlreichen Dialekten. Daraus entwickelte sich laut Engel eine erzählende Literatur, beispielsweise das Werk „Schön Ammi von Marienthal und der Kirgisenmichel“, das Friedrich Dsirne 1861 niedergeschrieben hatte. Abschließend merkte sie an, dass sich heute nicht mehr rekonstruieren lasse, welche Literatur aus dem wilhelminischen Deutschland in Russland vor der Oktoberrevolution gelesen wurde.
Den Auftakt des zweiten Tagungstages machte Prof. Dr. Carsten Gansel von der Justus-Liebig-Universität Gießen mit einem Vortrag zu „Gerhard Sawatzkys Roman ‚Wir selbst‘ (1938/2020) und die Wolgadeutsche Republik“. Gerhard Sawatzky (1901-1944), der als einer der führenden Intellektuellen der wolgadeutschen Republik galt, suchte mit seinem Romanepos „Wir selbst“ das Schicksal der Russlanddeutschen, ausgehend von der Oktoberrevolution bis etwa 1935/36, zu erzählen. In chronologischer Abfolge entfaltet Sawatzky das Panorama des Alltagslebens in der Wolgaregion, wobei alle Schichten der Bevölkerung in den Blick geraten: Vertreter der Bourgeoisie und der Intelligenzija ebenso wie Kulaken, einfache Bauern und Arbeiter. Gansel charakterisiert das Werk als Produktionsroman, in dem nicht nur das Bild des sozialistischen Aufbruchs, sondern auch der radikalen Zerstörung des Alten geschildert wird. Wie er demonstrierte, knüpfte Sawatzky an die Traditionen der russischen/sowjetischen Avantgarde an, verband individuelle und kollektive Erfahrung, schuf damit die Voraussetzung zur Erinnerung und war stark auf die Darstellung der Wirklichkeit bedacht. So zeichnete Sawatzky ein genaues Bild der Hungersnot von 1922 in der Wolgaregion und thematisierte sogar den von offizieller sowjetischer Seite tabuisierten, jedoch nicht seltenen Kannibalismus. Hierin dürfte Gansel zufolge auch einer der Gründe dafür gelegen haben, weshalb der Roman noch vor seiner Auslieferung 1938 verboten, der Autor Gerhard Sawatzky verhaftet und zur Zwangsarbeit im Gulag verurteilt wurde, wo er 1944 verstarb. Erst im Zuge der Perestroika Ende der 1980er Jahre konnten Auszüge von Sawatzkys Roman veröffentlicht werden. Nachdem es Carsten Gansel gelungen war, das Urmanuskript des Romans aufzuspüren, konnte das Werk, das den wichtigsten Roman der Wolgadeutschen in der Zwischenkriegszeit darstellt, 2020 erstmals als Buch erscheinen.
Im Anschluss referierte Nina Paulsen, Publizistin, Literaturkritikerin und Redakteurin bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, zum Thema „‚Sowjetdeutsche‘ Literatur der Nachkriegszeit: Zwischen dem ‚Großen Schweigen‘ und dem Ausgang in die historische Heimat“. Ihr Vortrag vermittelte einen Einblick in den Literaturbetrieb der Nachkriegszeit von etwa 1941 bis zum Beginn der 1990er Jahre. Dabei machte sie deutlich, dass die Deportation 1941 nicht nur verheerende Folgen für alle Deutschen in der Sowjetunion, sondern auch für das deutschsprachige Schrifttum besaß. Deutsch lesen konnte nur, wer seine Sprachkenntnisse bereits vor dem Krieg erworben hatte. Doch auch diese Personen verfügten jahrelang über keinen Zugang zu deutschsprachiger Literatur. Erst ab 1955 konnten wieder die ersten deutschsprachigen Zeitungen erscheinen, die auch die deutsche literarische Bewegung wiederbelebten. Sowjetdeutsche Schriftsteller wie Dominik Hollmann, Victor Klein, Johann Warkentin, Woldemar Ekkert und Hugo Wormsbecher publizierten im Almanach „Heimatliche Welten“. In den Regionen Altai und Krasnojarsk fanden seit dem Ende der 1950er Jahre erste Abende in deutscher Sprache und Lesekonferenzen statt. Unmittelbar nach dem ersten Unionsseminar der deutschen Schriftsteller in Moskau 1968 wurde eine Kommission für sowjetdeutsche Literatur gegründet. Allerdings konnten Tabu-Themen wie das Kriegsfolgenschicksal erst im Zuge der Perestroika Ende der 1980er Jahre literarisch verarbeitet werden. Mit der verstärkten Ausreise in den 1990er Jahren verlagerte sich das literarische Schaffen auf die historische Heimat Deutschland. Abschließend konstatierte Paulsen, dass die sowjet- bzw. russlanddeutsche Literatur nach 1941 zwar verkümmerte. Nichtsdestotrotz stellte sie für die Deutschen in der Sowjetunion einen „nicht zu unterschätzenden Wert im Bemühen um ihre sprachlich-kulturelle und historische Identität“ dar.
Den dritten Vortrag des Tages bestritt Agnes Gossen-Giesbrecht, Schriftstellerin, Übersetzerin und ehemalige Vorsitzende des Literaturkreises der Deutschen aus Russland e.V. In ihrem Referat informierte sie über die Tätigkeiten des Literaturkreises, insbesondere über seine Entstehung und seine Aktivitäten, über die Zusammenarbeit mit Verlegern und die Förderung junger Autoren. Im Oktober 1995 wurde besagter Literaturkreis in Bonn gegründet. Sein Ziel bestand darin, das kulturelle Vakuum der russlanddeutschen Schreibenden zu füllen, sie mit Gleichgesinnten in Kontakt zu bringen und ihnen die Integration in Deutschland zu erleichtern. Zwar verfügte der Verein anfangs über keinerlei finanzielle Mittel. Nichtsdestotrotz machte es der Enthusiasmus seiner Mitglieder möglich, über literarische Werke zu diskutieren, Lesungen zu organisieren, Informationen auszutauschen und gemeinsam Verleger zu finden. In Bonn initiierte der Verein ein Literaturcafé, in das einmal im Monat Autoren zu Lesungen eingeladen wurden. Bis heute konnten Gossen-Giesbrecht zufolge etwa 155 Werke publiziert werden, darunter Bücher, Literaturkalender, Almanache und Anthologien. Da sich in den letzten Jahren aufgrund der Möglichkeiten des Internets der Informationsaustausch erheblich verbessert hat, der Verein über eine eigene Webseite verfügt, in den sozialen Netzwerk präsent ist und an verschiedenen literarischen Wettbewerben teilnimmt, konnten er und seine Autoren den Bekanntheitsgrad deutlich steigern.
Am Nachmittag des zweiten Tagungstages stellten Dietmar Schulmeister von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland Nordrhein-Westfalen und Artur Böpple vom Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland ihre Projekte vor. Dietmar Schulmeister informierte über die „Russlanddeutschen Kulturtage“, die seit 2018 alljährlich zwischen September und November stattfinden und sich nicht nur mit der Geschichte und Kultur der Deutschen aus Russland, sondern auch mit den politischen Ereignissen der Gegenwart auseinandersetzen. Zum Veranstaltungsrepertoire gehören Lesungen, theatralische und musikalische Beiträge, Ausstellungen, Filmtage oder auch Happenings mit russlanddeutschen Künstlern. Artur Böpple stellte im Anschluss das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR) vor, das im Januar 2019 gegründet wurde und seinen Sitz in Nürnberg hat. Das BKDR versteht sich als Begegnungs- und Veranstaltungsort, als Zentrum zur Geschichts- und Kulturvermittlung sowie als Forschungs- und Bildungseinrichtung. Im Rahmen dessen führt das BKDR Konzerte, Lesungen, Vorträge, Zeitzeugengespräche und Wettbewerbe durch, veranstaltet wissenschaftliche Seminare und Tagungen, gibt Publikationen heraus, berät Kulturschaffende und fördert Projekte und initiiert Ausstellungen, Stadtführungen sowie Bildungsreisen. Wie Dietmar Schulmeister und Artur Böpple darlegten, finden viele Veranstaltungen auch im Online-Format statt.
Danach hielt Julia Podelo, Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Humboldt-Universität zu Berlin und Doktorandin an der Universität Bayreuth, einen Vortrag mit dem Titel „Russlanddeutsche Literatur im Rahmen eines diversitätssensiblen Literaturunterrichts“. Hierbei nahm sie den Roman „tschick“ von Wolfgang Herrendorf zum Ausgangspunkt. Podelo zufolge fassten Vertreter der Literaturdidaktik das Buch zwar überwiegend positiv auf. Dennoch existieren auch kritische Stimmen, die seinem Verfasser vorwerfen, rassistische Vorurteile, Stereotype und Klischees zu bedienen, etwa indem er die Hauptfigur Tschick als „besoffenen Russen“ und „Asi“ charakterisiert. Podelo hegte daher Zweifel daran, dass „tschick“ ein Buch sein kann, um Schülern die Dimensionen des „Russlanddeutsch-Seins“ zu vermitteln. Stattdessen sprach sie sich dafür aus, Werke anderer Schriftsteller heranzuziehen, beispielsweise jene von Klaus Beese, Gusel Jachina, Eleonora Hummel, Elina Penner oder Viktor Funk, da diese komplexere russlanddeutsche Protagonisten aufweisen, die die mannigfaltigen Lebenswege der Russlanddeutschen besser abbilden. Ziel müsse es Podelo zufolge sein, Schüler für ein „Deutsch-Sein“ unter verschiedenen Bedingungen zu sensibilisieren.
Als nächstes präsentierte Jan Pöhlking, Student an der Ruhr-Universität Bochum, seine Masterarbeit mit dem Titel „Das Theater der deutschsprachigen Minderheit in der Sowjetunion: Zwischen Emanzipation und Abhängigkeit“. Im Zentrum seiner Betrachtungen steht das 1980 gegründete deutschsprachige Theater in der kasachischen Stadt Temirtau, anhand dessen er eruieren will, inwieweit es in der spätsowjetischen Zeit eigenständig agieren konnte. Pöhlking interessiert in diesem Zusammenhang, welche Rolle und Bedeutung das Theater für die deutsche Minderheit in der Sowjetunion besaß und inwieweit es dazu beitrug, spezifisch sowjetdeutsche Diskurse zu reflektieren, zu verhandeln und anzustoßen. Dabei fragt er zugleich nach sich ergebenden Diskrepanzen zwischen dem offiziellem staatlichen Kulturauftrag des Theaters, seiner Eigenständigkeit und der Herausbildung eines Zielgruppenbewusstseins. Zudem will er herausfinden, inwieweit es dem Theater gelang, kulturelle Leerstellen zu füllen, die die fast 40-jährige Marginalisierung sowjet- bzw. russlanddeutscher Geschichte und Kultur in der Sowjetunion hinterlassen hat. Pöhlking geht es somit weniger um die künstlerisch-ästhetischen Aspekte als vielmehr um die grundsätzlichen Entscheidungen, die die Theaterleute getroffen haben, und die Implikationen, die sich daraus für die Deutschen in der Sowjetunion ergaben. In seiner Masterarbeit möchte Pöhlking aufzeigen, dass das Theater in erster Linie zu einem Ort kultureller Repräsentation avancierte und die Rolle eine Kulturvermittlers einnahm. Im Wechselspiel mit dem Publikum und der Beschäftigung mit der eigenen Geschichte verstand es sich zusehends als eine Institution, deren Bedeutung über die eines gewöhnlichen Theaters hinausging.
Fragen und Aspekte rund um das wolga- bzw. russlanddeutsche Theater in der Sowjetunion waren auch Gegenstand des Vortrags von Edwin Warkentin, Kulturreferat für Russlanddeutsche am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, der den Titel „Von ‚Der eigene Herd‘ bis ‚Die Kist´ von der Wolga‘: Inszenierungen wolgadeutscher Texte im Kontext der Zeit“ trug. Warkentin schlug hierzu einen Bogen vom wolgadeutschen Staatstheater in Engels zwischen 1931 bis 1941 über das deutsche Theater im kasachischen Temirtau in den 1980er Jahren bis hin zum russlanddeutschen Theater in Niederstetten im Jahr 2018. Dabei verdeutlichte er, mit welchen Inhalten, Motiven und Herausforderungen die Intendanten und Schauspieler an den drei Standorten konfrontiert waren und wie sie die wolgadeutsche Literatur rezipierten. So stand das Theater in Engels im Zeichen der sowjetischen Nationalitätenpolitik. Mit Hilfe des Stücks „Der eigene Herd“ sollte zum einen eine Nationalkultur entwickelt und die deutsche Sprache gefördert werden. Zum anderen sollte es dazu beitragen, den Mythos, wonach die Wolgadeutschen selbst sozialistisches Ideen- und Gedankengut in ihre Kolonien eingebracht hätten, aufzubauen. In Temirtau standen die beteiligten Akteure vor der Herausforderung, einen nahezu unmöglichen Spagat leisten zu müssen: Gemäß seines offiziellen Auftrags musste das dortige Theater nämlich nicht nur deutsche Klassik in deutscher Sprache spielen, sondern auch zur sozialistischen Erbauung der Sowjetdeutschen beitragen, ihre Kultur und Sprache vermitteln und erhalten. Dem Regisseur Bolat Atabaew ist dies mit einer Aufführung von „Der eigene Herd“ im Jahr 1986 gelungen, indem er das Stück so inszenierte, dass es zu den Realitäten seiner Zeit passte, etwa im Hinblick auf die Aufarbeitung der Repressionen. Anliegen des gegenwärtigen russlanddeutschen Theaters in Niederstetten wiederum ist es, der breiten Öffentlichkeit die Geschichte der Russlanddeutschen zu vermitteln.
Den Höhepunkt der Veranstaltung bildete ein kulturelles Abendprogramm am zweiten Tagungstag. Hierzu referierte zunächst die Bloggerin Melitta L. Roth, die sich mit Fragen und Aspekten rund um Identität, Mehrkulturalität und der transgenerationellen Übergabe von Traumata beschäftigt. In ihrem Vortrag, der den Titel „Vom Erinnern und den Lücken dazwischen“ trug, verdeutlichte sie ihr Anliegen, die gesammelten Scherben der Erinnerung zu einem Mosaik zusammenfügen zu wollen. Ihr zufolge hat sich bis heute keine vielstimmige Erinnerungskultur zu den Russlanddeutschen gebildet. Stattdessen kursieren viele Stereotype und verzerrte Darstellungen. Ursächlich hierfür ist laut Roth nicht nur ein Mangel an Quellen, sondern auch das bewusste Verschweigen bestimmter historischer Ereignisse durch einzelne Menschen und Gruppen. Problematisch ist dabei vor allem, dass nur das Positive erinnert wird. Starke Stimmen und Heldengeschichten geben zwar Hoffnung, bilden, wie Roth ausführt, aber das Leid nicht ab und verkommen somit zu ritualisierten Erzählungen. Vieles bleibt dadurch Unsagbar. Roth zufolge entstehen daraus Leerstellen, die ein Eigenleben entwickeln und ans Licht drängen. Die große Frage, die die Bloggerin umtreibt, zielt darauf ab, wie auch das Negative und die schwachen Stimmen literarisch verarbeitet werden können. Um ihre Überlegungen um die Zeitzeugenperspektive des russlanddeutschen Kriegsfolgenschicksals zu bereichern, las Melitta L. Roth die Kurzgeschichte „Von wegen – früher!“ aus ihrem Erstlingswerk „Gesammelte Scherben“ (2020): Darin geht es um ein vom Leben gezeichnetes Großmütterchen, das die immer wieder an die Oberfläche drängenden Erinnerungen unterdrückt und so immer verbitterter wird.
Im Anschluss las die Schriftstellerin Eleonora Hummel mehrere kurze Auszüge aus ihrem Buch „Die Wandelbaren“ (2019), in dem sie Begebenheiten um das deutsche Theater im kasachischen Temirtau, das dort von 1980 bis 1989 existierte, schildert. Im Fokus steht weniger das Theater selbst als vielmehr seine Schauspieler, die den Mut hatten, ein Stück über die Deportation der Wolgadeutschen 1941 aufzuführen. Hummel zeigt, welche Hoffnungen und Träume die Protagonisten mit dem Theater verbanden – in einer Zeit, die von politischen Umbrüchen in der Sowjetunion geprägt war und Anfang der 1990er Jahre zu ihrer Ausreise nach Deutschland führte. Zum Abschluss trug Melitta L. Roth eine bislang unveröffentlichte Kurzgeschichte mit dem Titel „Babulja haut ab“ vor, worin die physische Gefahr von verdrängten Erinnerungen geschildert wird, die droht, sobald sich die geistigen Leistungen betagter Menschen anfangen zu verschlechtern.
Am dritten und letzten Tagungstag referierte Dr. Lilli Gebhard, freie Mitarbeiterin am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, zum Thema „Religiöse Weltsicht und literarische Verarbeitung von Migration am Beispiel der russlanddeutschen Mennoniten“. Für ihre Untersuchung zog sie die Literatur russlanddeutscher Mennoniten in Deutschland heran, darunter sowohl unveröffentlichte und im Selbstverlag erschienene als auch bei Verlagen publizierte Texte. Wie Gebhard demonstrierte, suchen fast alle literarischen Texte russlanddeutscher Mennoniten einen roten Faden in den individuellen und kollektiven Erfahrungen zu finden, der ihrer Geschichte einen Sinn gibt. In diesen übergeordneten Sinn werden alle Erlebnisse und Erfahrungen eingebettet. Enteignung, Deportation, Diskriminierung und schließlich die Umsiedelung nach Deutschland waren historische Erfahrungen, die sich in der Literatur widerspiegeln. Ihre Religiosität war für die Identität russlanddeutscher Mennoniten die Rettung. Sie half ihnen, die potenziell traumatisierenden Ereignisse zu verkraften und zu verarbeiten. Auch die Umsiedelung nach Deutschland wurde und wird in diese spezifische religiöse Weltsicht eingeordnet. Abschließend regte Gebhard dazu an, künftig stärker die Unterschiede der russlanddeutschen Literatur herauszuarbeiten, verschiedene Diskursstränge und Sprecherpositionen zu analysieren. Entsprechende literarische Vergleiche können abbilden, inwieweit sich Werte und Vorstellungen in unterschiedlichen Räumen und Zeiten wandeln.
In der Abschlussdiskussion fassten Tatjana Kohler, Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll und Dr. Jens Baumann die Ergebnisse der Vorträge zusammen. Die Tagung hat ihnen zufolge deutlich gemacht, dass es in der Literatur der Wolgadeutschen nach wie vor Leerstellen und Desiderate gibt, derer sich künftige Forschergenerationen annehmen sollten. Um den bisherigen und auf der Tagung präsentierten Wissensstand zu sichern, ist ein Sammelband geplant, der die einzelnen Vorträge zusammenführt.
- Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen / (kabe)
Die Aufzeichnung der Konferenz ist auf dem YouTube-Kanal der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen abrufbar: www.bit.ly/kulturstiftungvideo