Rose Ausländer, die Tochter des Czernowitzer Kaufmanns Siegmund Scherzer und der Etie, geb. Binder, wuchs in der Hauptstadt der Bukowina auf, war mehrfach gezwungen, ihre Geburtsstadt zu verlassen, kehrte bis 1945 immer wieder dorthin zurück und lebte danach, zwischen Europa und Amerika, in Bukarest, in New York und in Düsseldorf.
Das sind zunächst nur Orientierungspunkte, denn Ortswechsel, Flucht vor politischen Veränderungen, Versuche einer Rück- oder Heimkehr gehörten zum Lebensalltag der Dichterin. 1916–1918 war die Familie gezwungen, sich in Wien aufzuhalten, während Czernowitz heftig umkämpft war. Nach 1918 wurde die seit 1774 österreichische Bukowina eine rumänische Provinz. Rose Scherzers Vater starb 1920, aber ihre Ausreise in die USA – gemeinsam mit Ignaz Ausländer – war Teil einer jüdischen Abwanderung, die von der Furcht vor den neuen Machthabern genährt wurde. In New York heiratete Rose Scherzer Ignaz Ausländer 1923, aber schon 1926 trennte sie sich von ihm. 1927 und 1928 war sie in Europa, pflegte die Mutter und war in Berlin, um den Philosophen Constantin Brunner zu besuchen, zu dessen New Yorker-Anhängerschaft sie gehörte. Der Graphologe Helios Hecht, ihr neuer Lebensgefährte, war ein begeisterter Brunner-Anhänger und linksgerichteter Sozialanarchist. 1931 kehrte Rose Ausländer wieder nach Czernowitz zurück und war bis 1935 als freie Journalistin bei der Tageszeitung „Der Tag“ tätig, deren Linie Helios Hecht bis 1934 entscheidend mitbestimmte. Nach der Trennung von Hecht führte Rose Ausländer von 1935 bis 1940 ein unstetes Leben. Beruflich war sie als Sekretärin – wie früher in New York –, als Übersetzerin und als Fremdsprachenkorrespondentin tätig und hielt sich abwechselnd in Czernowitz und Bukarest auf, wo sie von zahlreichen Freunden zu neuen dichterischen Versuchen angeregt wurde (u.a. von Ludwig Berghoff, Ewald Ruprecht Korn, Ury Benador). 1941–1944, als Czernowitz – nach einem Jahr sowjetischer Besetzung – wieder zu Rumänien gehörte und auch von deutschen Truppen besetzt war, fristete die Dichterin ihr Leben im Ghetto und konnte erst aufatmen, als durch den Rückzug der deutschen Wehrmacht der Holocaust in der Bukowina endgültig aufhörte.
Vor der kommunistischen Diktatur in der ukrainischen Bukowina flüchtete sie nach Bukarest, vor den rumänischen Kommunisten in die USA, und von 1949 bis 1956 publizierte sie fast ausschließlich englischsprachige Gedichte. Die Rückkehr in eine deutsche Sprachumgebung vollzog sie spät. Nach Reisen durch Westeuropa (1957), Österreich (1963) und Israel (1964) übersiedelte Rose Ausländer 1965 nach Düsseldorf. Ihr erstes Gedichtbuch nach 1939 erschien in Wien, dem früheren Zentrum der Doppelmonarchie. 1966 erhielt Rose Ausländer eine Rente und Entschädigung als Verfolgte des Nazi-Regimes. Bis zu ihrem Lebensende lebte sie im Nelly-Sachs-Haus der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf. Die literarische Anerkennung im bundesrepublikanischen Literaturbetrieb erfolgte im Zeitlupentempo, aber zuletzt hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß Rose Ausländer – nach Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs – eine weitere bedeutende deutsche Lyrikerin jüdischer Herkunft ist.
Man kann die dichterische Entwicklung der Rose Ausländer in Abhängigkeit von ihren Erlebnissen in mindestens drei große Perioden gliedern: bis 1946, von 1946 bis 1957 und von 1957 bis 1988.
Bis 1946: Die frühesten Gedichte erschienen in den USA, wo Rose Ausländer in der „New Yorker Volkszeitung“ und im „Vorwärts“ publizierte. Nach der Rückkehr in die Bukowina war die junge Autorin Teil der dortigen Literaturszene: 1932 nahm Alfred Klug von ihr verfaßte Gedichte in die Anthologie „Buchenblätter“ auf; auch die angesehene Kronstädter Monatsschrift „Klingsor“ veröffentlichte Verse der jungen Dichterin. Die meisten dieser Versuche aber erschienen in der Czernowitzer Tageszeitung „Der Tag“. 1939 kam der erste Gedichtband Rose Ausländers: „Der Regenbogen“ heraus. Im gleichen Jahr wurden von ihr verfasste Gedichte von Enric Furtună (in den Zeitschriften „Cultura“, „Infratireă“) und Mihai Gresian (in „Glasul Bucovinei“) ins Rumänische übersetzt. Im Jahrbuch 1939/1940 der „Hasmonea“ wurden „Überraschungen in der neuen Lyrik“ vermeldet: „Sie gehört zu uns (jeder Dichter gehört zu uns), denn sie kommt aus unseren Reihen und hat ihre Sensibilität an unserer Seite verfeinert“, war dort über Rose Ausländer zu lesen. Ein Jahr später trat Rose Ausländer in einer Czernowitz-Episode des Romans „Groteskes Finale“ von Ury Benador als eine Romanfigur in Erscheinung.
Zwei Schwerpunkte sind in dieser Periode festzustellen: Großstadtvisionen, die vor allem auf Erlebnisse aus New York zurückgreifen, und eine formstrenge Liebeslyrik, die vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Katastrophen, der Kriege, des Genozids, sich besonders eindrucksvoll abheben. New York wird in reportagehaften Montagen nach dem Vorbild der expressionistischen Großstadtdichtung gestaltet, eine bedrückende Wirrnis mit wenig Spielraum für das Individuum. Dieses lebt sich in Versen der Leidenschaft aus, wie sie vor allem der Gedichtband „Der Regenbogen“ enthält. Das Ausgesetztsein, die Bedrohung des Ich macht sich allerdings schon bemerkbar in den kontrastreichen Metapherngefügen. Auch Widmungsgedichte für Itzig Manger und Elieser Steinbarg bestätigen die Suche nach einem geistigen und einem Gefühlsdialog. Trakl und Rilke sind die Modellgeber vieler dieser frühen Versuche.
Von 1946–1957: In den USA schrieb Rose Ausländer mehrheitlich englischsprachige Verse. Die meisten dieser Gedichte sind bis heute nicht erschlossen. Was bekannt ist, verweist auf eine Stimmungsdichtung in der Tradition des Jahrhundertanfangs, auf eine unaufwendige Gelegenheitslyrik.
Nach 1957: Rose Ausländer entdeckte das Deutsche wieder – Begegnungen mit Paul Celan bestärken sie darin, neuromantische oder Fin-de-siècle-Positionen zugunsten eines bewußten Modernismus aufzugeben. Die Diskrepanz zwischen Alltagsbeschäftigung und elitärer Kulturbeflissenheit wird darin aufgehoben, die existentiell notwendigen Fragen nach Ursachen und Hintergründen können und müssen dabei gestellt werden. Die Bilder leben in ihrem eigenen Rhythmus, und die traditionelle Formenkonvention wird endgültig aufgegeben.
Die Gedichte, oft schon in den USA konzipiert, werden ein Denkmal für die jüdischen Leiden während des Holocaust und im Laufe ihrer europäischen Geschichte: Else Lasker-Schüler, Karl Kraus, Constantin Brunner werden zu Vor- und Leitbildern, denen die einfache Gestik des Sprechens für sich selbst und für andere zum Kommunikationsmedium gedeiht.
In den sechziger und siebziger Jahren entstehen auch weitere Vergangenheitskonzepte: die Bukowina und Czernowitz werden in Bildern einer Märchen- und Traumszenerie beschworen. Glanz und Licht überstrahlen die Schattenseiten des Daseins, und der Versuch, Leid und Schmerz durch diese Welt bilderreicher Harmonien zu ersetzen, wirkt sich aus. Die Sprachenvielfalt, die menschliche Glaubwürdigkeit in der Bukowina, werden in Gedichtzyklen neu gedeutet, die Sprache erhält dort neue Ausdrucksqualitäten, die von der Exotik des Rumänischen, Ruthenischen, Jiddischen gespeist sind. Das Motiv des Lebens als Traum, diese Entdeckung der barocken Verunsicherung, wird in sehr vielen Facetten nachgebildet. Auch als Epitaph wünschte sich die Dichterin: „Der Traum/ lebt / mein Leben / zu Ende“ (Gib auf).
Das Fremdsein erscheint nicht allein in den pittoresken Exotismen der Bukowina sondern ebenso in den nach Seinsgewißheiten und Erkenntnismöglichkeiten suchenden Weltanschauungsgedichten, in denen von Spinoza bis Brunner Vordenker zitiert und fortgesetzt werden. Die Ich-Verunsicherungen spielen bei den Versuchen nach besserem Wissen eine Rolle, die Einsamkeit der Alternden lässt Skepsis und Resignation mit einfließen.
Die Distanz zum Dargestellten, die Entfernung von den Ursprüngen und Ausgangspunkten kennzeichnen das Spätwerk, durch das Rose Ausländer eine feste Größe in der zeitgenössischen bundesdeutschen Lyrik wurde. Ihre wenigen Kurzprosatexte sind Beiträge zu dem erwähnten Czernowitz-Mythos, zu dem auch die Interviews und die Deutungen von Paul Celan, Moses Rosenkranz und Alfred Kittner beigetragen haben: eine Traumstadt, die in ihrer unendlichen Vielfalt alle Wünsche erfüllen, aber auch alle Fragen offen lassen kann. Das Kreisen um die Traumstadt und -zuflucht, um die individuelle Freiheit in der Geborgenheit und Schönheit sind die Stimulantien des bilderreichen Gesprächs über das Ich und die anderen.
Lit.: Glenn, John: Blumenworte/Kriegsgestammel.The Poetry of Rose Ausländer.In: Modern Australian Literature, 1979, H. 3–4, S. 127–146. – Wallmann, Jürgen Peter: „Ich will wohnen im Menschenwort“. Die Lyrik von Rose Ausländer. In: Literatur und Kritik, 1980, H. 15, S. 73–78. – Braun, Helmut (Hrsg.): Rose Ausländer. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt/M. 1991. – Ich fliege auf der Luftschaukel Europa-Amerika-Europa. Rose Ausländer in Czernowitz und New York. Üxheim/Eifel 1994 (= Schriftenreihe der Rose-Ausländer-Gesellschaft; 3). – Helfrich, Cilly: „Es ist ein Aschensommer in der Welt“. Rose Ausländer. Biographie. Weinheim, Berlin: Quadriga 1995.
Werke: Der Regenbogen. Gedichte. Czernowitz 1939. – Blinder Sommer. Gedichte. Wien 1965. – 36 Gerechte. Gedichte. Hamburg 1967. – Inventar. Gedichte. Duisburg 1972. – Ohne Visum. Gedichte und Kurzprosa. Krefeld 1974. – Gesammelte Gedichte. Leverkusen 1976. – Mutterland. Gedichte. Köln 1979. – Gesammelte Gedichte. Hrsg. von Helmut Braun. Frankfurt/M. 1985–1988, I-VII.
Bild: Ich fliege auf der Luftschaukel Europa-Amerika-Europa. Rose Ausländer in Czernowitz und New York, Üxheim/Eifel 1994.
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Rose_Ausl%C3%A4nder
Horst Fassel