Den Schriftsteller und Naturphilosophen Wilhelm Bölsche könnte man als einen Theoretiker des deutschen Naturalismus, einer „auf Wissenschaft, das heißt auf Naturwissenschaft sich berufenden Beobachtungs- und Beschreibungskunst“, eines „modernen aufklärenden Realismus“ (H. Schwerte), bezeichnen. In seinen „Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik“ von 1887 schrieb er: „Die Basis unseres gesammten modernen Denkens bilden die Naturwissenschaften. Wir hören täglich mehr auf, die Welt und die Menschen nach metaphysischen Gesichtspuncten zu betrachten, die Erscheinungen der Natur selbst haben uns allmählich das Bild einer unerschütterlichen Gesetzmässigkeit alles kosmischen Geschehens eingeprägt, dessen letzte Gründe wir nicht kennen, von dessen lebendiger Bethätigung wir aber unausgesetzt Zeuge sind. … Ein … Gebiet…, das … [hier] wesentlich in Frage kommt, ist die Poesie. Welche besondern Zwecke diese auch immer verfolgen mag und wie sehr sie inihrem innersten Wesen sich von den exacten Naturwissenschaften unterscheiden mag … – ganz unbezweifelbar hat sie unausgesetzt, um zu ihren besondern Zielen zu gelangen, mit Menschen und Naturerscheinungen zu thun und zwar, so fern sie im Geringsten gewissenhafte Poesie … und nicht ein Fabuliren für Kindersein will, mit eben denselben Menschen und Naturerscheinungen, von denen die Wissenschaft uns gegenwärtig jenen Schatz sicherer Erkenntnisse darbietet.“
Am 2. Januar 1861 als Sohn eines Zeitungsredakteurs und einer Mainzer Buchhändlerstochter in Köln geboren, war Bölsche nach Studien der Philosophie und der Kunstgeschichte in Bonn und Paris 1885 nach Berlin gekommen. In der Absicht, sich hier, unter der Wirkung des „Experimentalromans“ Zolas stehend, eine schriftstellerische Existenz zu begründen, hatte er 1887 Aufnahme in den literarischen Verein „Durch“ und dort Anschluß an die Brüder Heinrich und Julius Hart sowie an Bruno Wille gefunden. Diesem verdankte er die Bekanntschaft mit Gerhart Hauptmann, mit dem er eine Freundschaft fürs Leben schloß. 1890 war er an der Gründung der „Freien Volksbühne“ beteiligt, die die breiten arbeitenden Schichten für das Theater aufschließen wollte. Zudem wurde er Redakteur der „Neuen Rundschau“.
Bölsche und seine Gesinnungsfreunde hatten sich in Berlin zusammengefunden, um die soziale Frage zu studieren und so die Hand am Puls der Zeit zu halten; die Stadt übte auf sie als die, wie er formulierte, „ungeheuere Retorte, wo die Giganten-Chemie eines neuen Weltalters ihre Experimente macht“, eine große Faszination aus. Aber bald bemächtigte sich der von der Großstadt magisch Angezogenen ein „Gefühl des Sinkens, bei dem die eigentliche Persönlichkeit bald ganz in rohen Massengefühlen zerschwand“. Aus diesem Grunde zog Bölsche noch 1890 nach dem östlich von Berlin am Müggelsee gelegenen Friedrichshagen, „hinter die Weltstadt“, und machte sich „Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur“ (so ein Buchtitel Bölsches von 1901). Seine Wohnung in Friedrichshagen, das heute zu Berlin gehört und dessen Hauptstraße Bölschestraße heißt, wurde der Ort eines literarischen Kreises, in dem nach der Erinnerung Max Halbes „bei belegten Stullen und Lagerbier immer eine gehobene Stimmung herrschte“. In Friedrichshagen schrieb Bölsche seinen zweibändigen Roman „Die Mittagsgöttin“ (1891), in dem er die Großstadt (Berlin) und die Natur (den Spreewald) kontrastreich gegeneinanderstellte. Schriftstellerischen Erfolg hatte Bölsche, der auch als Vortragender in Arbeiterbildungsvereinen auftrat, mit in poetischer Sprache abgefaßten populärwissenschaftlichen Schriften in der Nachfolge Ernst Haeckels. Am bekanntesten wurde sein dreibändiges „Liebesleben in der Natur“, das zwischen 1898 und 1902 erschien. Bölsche vertrat einen Evolutionismus, der sich mehr und mehr von einer materialistischen Auffassung entfernte. Im Jahre 1918 verließ Bölsche mit seiner zweiten Frau Friedrichshagen und siedelte nach Oberschreiberhau im Riesengebirge über, wo er am 31. August 1939, also am letzten Friedenstag, starb.
Lit.: Fritz Bolle, Neue Deutsche Biographie, Bd. 2 (1955). – Klaus Günther Just, Von der Gründerzeit bis zur Gegenwart. Geschichte der deutschen Literatur seit 1871 (1973), insb. S. 174ff. – Wolfram Hamacher: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bölsche. (= Epistemata; Reihe Literaturwissenschaft; 99). Königshausen und Neumann, Würzburg 1993.
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_B%C3%B6lsche
Peter Mast