Biographie

Goerdeler, Carl Friedrich

Herkunft: Westpreußen
Beruf: Politiker, Widerstandskämpfer
* 31. Juli 1884 in Schneidemühl/Westpr.
† 2. Februar 1945 in Berlin

Carl Goerdeler war nach einer späten Äußerung des ihm im Kampf gegen Hitler verbundenen Rechtsanwalts und Reserveoffiziers Fabian von Schlabrendorff (1907-1980) Herz und Motor der deutschen Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus, die er „durch alle Tiefen der Enttäuschung“ hindurchführte und „über die Berge der Hindernisse hinwegtrug.“ Im übrigen sei er „ein Mann von umfassendem Geist“ gewesen, der „eine gewaltige Kenntnis“ der außenpolitischen Verhältnisse mit einem „verständigen Blick für die innenpolitische Lage“ vereinigt habe. Dazu sei „eine ins Detail gehende Kenntnis der deutschen Wirtschaft“ gekommen. „Alle diese Dinge brachte er auf einen gemeinsamen Nenner. Er war ein politischer Kopf ersten Ranges.“

Goerdeler entstammte einer alten preußischen Beamtenfamilie; sein Vater Julius Goerdeler war Amtsrichter in Marienwerder, später Syndikus der „Westpreußischen Landschaft“ sowie (seit 1899) für die Freikonservative Partei Mitglied des Preußischen Landtags. Nach juristischen Studien in Tübingen und Königsberg, die er mit der Promotion in Göttingen abschloß, und dem Assessorexamen im Jahre 1911 beschritt Carl Goerdeler, der sich im selben Jahre mit der Tochter eines Augenarztes ehelich verbunden hatte, die fünf Kindern das Leben schenken sollte, die kommunale Verwaltungslaufbahn. 1912 wurde er erster Beigeordneter von Solingen und 1920 2. Bürgermeister in Königsberg i. Pr. Nach Jahren der Bewährung im Dienste der Hauptstadt der vom Reiche abgeschnittenen Provinz Ostpreußen sowie hervorragender Mitarbeit im Preußischen und im Deutschen Städtetag erfolgte 1930 seine Wahl zum Oberbürgermeister von Leipzig.

Goerdeler, der am Ersten Weltkrieg als Offizier teilgenommen und sich am politischen Kampf gegen die vom Versailler Friedensvertrag bestimmte Abtretung seiner westpreußischen Heimat an das wiedererstandene Polen beteiligt hatte, war (nicht zuletzt als Korpsstudent) nachhaltig durch die späte Kaiserzeit geprägt worden und schloß sich daher der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) an. Er mißtraute dem Weimarer Parteienstaat und befürwortete vor dem Hintergrund der Not der Weltwirtschaftskrise die mit Hilfe des Notverordnungsrechtes des Reichspräsidenten ermöglichte autoritative Regierungsweise des Reichskanzlers Heinrich Brüning seit 1930. Dieser war von Goerdelers entschlossenem Vorgehen gegen die Arbeitslosigkeit in Leipzig durch eine strikte Sparpolitik so sehr beeindruckt, daß er ihn im Dezember 1931 zum Reichskommissar für Preisüberwachung berief (Amtszeit bis Dezember 1932). In den Spekulationen um die Nachfolge Brünings im Reichskanzleramt tauchte auch sein Name auf. In der Kommunalpolitik war Goerdeler bestrebt, den Einfluß der Parteien zu schmälern und die Befugnisse der Oberbürgermeister bzw. Bürgermeister zu vermehren. Von da aus führte ein gerader Weg zu seiner Mitarbeit an der Deutschen Gemeindeordnung zu Beginn der nationalsozialistischen Zeit (Verkündung am 30. Januar 1935).

Goerdeler hatte das Zusammengehen des Vorsitzenden der DNVP, Alfred Hugenberg, mit Hitler scharf mißbilligt, war aus der Partei ausgetreten und – trotz Aufforderung durch Hitler – nicht Mitglied der Nazipartei geworden; er sei aber, wie der damalige Finanzminister Graf Schwerin von Krosigk in der Rückschau bemerkt hat, „durchaus nicht blind für gute Gedanken und richtige Ansätze“ gewesen, die das nationalsozialistische Programm enthalten habe. „Aber er sah im Totalitätsanspruch, im Diktatursystem und in der Rassenlehre einen furchtbaren Angriff auf die Grundlagen der deutschen Kultur. Aus diesem Grund war er als Deutscher und als Christ ein unerbittlicher Gegner der Hitlerbewegung.“ Er meinte freilich, so lange in seiner dienstlichen Stellung ausharren zu müssen, wie noch eine Aussicht bestand, dem heraufziehenden Unheil steuern zu können. Und tatsächlich war Leipzig „im banalen Reich Mutschmanns, des Gauleiters und Reichsstatthalters von Sachsen, eines der fanatischsten Gaufürsten“, so Schwerin von Krosigk, „lange Zeit eine Oase.“ Ja, Goerdeler glaubte, noch über die Stadt hinaus auf die Gestaltung der öffentlichen Dinge einwirken zu können.

Anlaß dazu gab ihm seine erneute Berufung zum Reichspreiskommissar am 5. November 1934. Doch nach Äußerung seiner Bedenken gegenüber der nationalsozialistischen Währungs- und Wirtschaftspolitik, die mit ihren rücksichtslosen Autarkiebestrebungen auf eine Kriegsvorbereitung hinsteuerte, und nach seiner Warnung vor der sich verschärfenden Juden- und Kirchenpolitik des Regimes kam es nicht zur Verlängerung seiner am 1. Juli 1935 auslaufenden Amtszeit. Aber auch seine Stellung als Oberbürgermeister erwies sich mehr und mehr als unhaltbar. Der Abriß des Leipziger Mendelssohn-Denkmals während einer seiner Dienstreisen im November 1936 war nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Obwohl Goerdeler gerade für zwölf Jahre wiedergewählt worden war, legte er am 2. Dezember 1936 sein Amt nieder. „Er hatte versucht, Leipzig, der Stadt der Messe, aber auch der Musik und des Buches ihren Charakter zu wahren. Als das nicht mehr möglich war, schied er schweren Herzens aus einer Tätigkeit, an der er mit allen Fasern hing“ (Schwerin von Krosigk).

Nunmehr ohne öffentliches Amt, unternahm Goerdeler (nachdem die Firma Krupp ein Angebot an ihn, in ihr Direktorium einzutreten, nicht aufrechtzuerhalten gewagt hatte) zwischen 1937 und August 1939 auf Kosten des Industriellen Robert Bosch Reisen nach England, Frankreich, Belgien, Kanada, den USA, in die Schweiz, nach Italien, auf den Balkan und in den Orient. Diese Reisen boten ihm einerseits die Möglichkeit, die deutschen Führungskreise (etwa Göring, Hitlers persönlichen Adjutanten Wiedemann, Reichsbankpräsident Schacht, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach sowie die Generalität) auf die Folgen der nationalsozialistischen Politik hinzuweisen; andererseits ging es ihm nach einer Äußerung gegenüber Robert Vansittart, Unterstaatssekretär im Foreign Office, im Sommer 1937 (in dessen Wiedergabe) darum, „dadurch, daß er seine Auffassungen maßgeblichen Politikern des Auslands zur Kenntnis bringe, das nach seiner Befürchtung Deutschland drohende Desaster zu verhüten oder doch zu mildern – was er als seine patriotische Pflicht betrachte.“ In der Zeit der Sudetenkrise 1938 schrieb Goerdeler seinem Gesprächspartner, dem schottischen Industriellen Arthur Primrose Young (der Goerdelers Darlegungen stets an das Foreign Office weitergab), er könne nur hoffen, daß sich der britische Premier Chamberlain „über die moralischen Qualitäten von Herrn H[itler] in keinem Irrtum“ befinde. Andernfalls würde „eine Enttäuschung auf die andere folgen und am Ende eine Katastrophe für uns alle.“ Eine „äußerst entschiedene, feste Haltung“ werde „Hitler stoppen, die gemäßigten Kräfte in Deutschland stärken und einen dauerhaften Frieden anbahnen, indem die Lebensfragen nach den unter Gentlemen gültigen Prinzipien der Gerechtigkeit und der Ehre geregelt werden.“ Mit „Bösewichtern und Wahnsinnigen“ lasse sich keine Vertrauensbasis schaffen. Auf ihn, Goerdeler, könne man jederzeit zählen.

Goerdeler, der nunmehr das hohe Risiko einer gegen die eigene Regierung gerichteten Konspiration einging, hatte erkannt, daß Hitler auf Krieg ausging, und wußte, daß auch ein kurzer Krieg, wie er Young im Gespräch erklärte, die Stimmung in der Welt derartig gegen das deutsche Volk aufbringen würde, daß selbst für eine „liberale und verständige neue Regierung“ keine Möglichkeit bestünde, eine „gerechte und angemessene Lösung“ der deutschen Lebensfragen zu erreichen. Und in einer Denkschrift vom Frühjahr 1938 schrieb er: „Führt Deutschland einen unglücklichen Krieg, so sind Ostpreußen und das deutsche Gebiet östlich der Oder verloren …“ England und Frankreich würden „auf das Vorgehen Deutschlands gegen die Juden hinweisen und den Deutschen dieser Gebiete anheimstellen, auszuwandern.“

Mit dem Kriegsausbruch mußte für Goerdeler demnach das Spiel als verloren gelten. Und doch hat er die Kraft aufgebracht, der große Organisator und Programmatiker des deutschen Widerstandes zu werden. „Endlich einmal ein Mann“, notierte der frühere deutsche Botschafter in Rom, Ulrich von Hassell, nach einem Treffen mit ihm Mitte August 1939 in Berlin in sein Tagebuch. „Frisch, klar, aktiv. Vielleicht ein bißchen sanguinisch; … Auf alle Fälle eine Wohltat, einmal mit solchem Mann zu sprechen, der nicht ‚meckert‘, sondern handeln will.“ Neben zu von Hassell (über ihn OGT 1994, S. 155-160) trat er zu dem früheren Generalstabchef Ludwig Beck sowie zu den Gewerkschaftlern Jakob Kaiser und Wilhelm Leuschner in ein enges Verhältnis. Unter bestmöglicher Aufrechterhaltung seiner Beziehungen ins Ausland (und seiner Hoffnung auf eine Verständigung mit England) suchte er, die gegen den Nationalsozialismus mobilisierbaren Kräfte (mit Ausnahme der Kommunisten) zu aktivieren und zu sammeln, namentlich die der Generalität, um die unentbehrliche Hilfe des Waffenträgers der Nation zu gewinnen.

Freilich stieß Goerdeler auch auf Reserven; sein Glauben an die Kraft guter Argumente, an „das Gute“, sein Optimismus, sein Idealismus waren Kraftquell und der Ursprung von Fehlurteilen zugleich. Ja, seine Absicht, für das Deutschland nach Hitler politisch, sozial und wirtschaftlich an der Weimarer Ordnung anzuknüpfen, setzte ihn (insbesondere bei dem mit sozialistischen Gedanken umgehenden Kreisauer Kreis) dem Vorwurf aus, „reaktionär“ zu sein. Dabei fanden die mit der Wendung gegen eine drohende Massendemokratie von ihm erstrebte Beschränkung des Parlamentarismus und der von ihm vertretene (fast manchesterhafte) Wirtschaftsliberalismus in einer strengen Rechtsstaatlichkeit und dem Prinzip der sozialen Verantwortung (das seiner Ansicht nach eine starke Gewerkschaftsbewegung notwendig machte) ein Gegengewicht. Außenpolitisch stand dem von ihm für Deutschland festgehaltenen Großmachtgedanken immerhin das Vorhaben einer europäischen Wirtschaftsunion gegenüber. Doch wie er einst die Leipziger Parteigewaltigen durch seine gewinnende Liebenswürdigkeit, Offenheit, Beherrschtheit und menschliche wie fachliche Souveränität überspielt hatte, konnten auch die von Vorbehalten gegen ihn erfüllten Mitglieder des Kreisauer Kreises sich seiner Kunst der Menschenbehandlung nicht entziehen. Den Tyrannenmord und ein Attentat auf Hitler hat Goerdeler – da der Neuanfang nicht mit einer Mordtat belastet werden dürfe und das Entstehen einer neuen Dolchstoßlegende vermieden werden müsse – abgelehnt. Dadurch wie durch die naturgemäß steigende Bedeutung der militärischen Verschwörer (der Obristen wie vor allem Henning von Tresckow, nicht der Feldmarschälle, um die Goerdeler letztlich vergebens geworben hatte) ist sein Gewicht in der Widerstandsbewegung zuletzt geschwunden. Dennoch ist er, „der immer ungestüme Dränger“ (von Hassell), deren Kandidat für die Kanzlerschaft geblieben.

Am Tage des Attentats, dem 20. Juli 1944, mußte sich Goerdeler bereits im Verborgenen halten, da am 17. Juli ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war. Am 12. August wurde er im Kreis Stuhm in Westpreußen auf die Anzeige einer Wehrmachtshelferin hin verhaftet und am 8. September vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt. Noch Monate lang hat er auf die Vollstreckung des Urteils warten müssen. Er hat nicht von der Hoffnung gelassen, durch seine Aussagen den Machthabern den Aufstand eines gequälten Volkes vor Augen führen zu können und sie so zur Umkehr zu bewegen. Er verfaßte in jenen Monaten vor allem sein Politisches Testament und mehrere Denkschriften. „Ich habe seit 1933“, so schrieb er im November 1944 in einem Brief, „jeden Versuch gemacht, mitarbeitend und Widerstand sammelnd, schon im Interesse der eigenen Kinder, dieses System eines perversen, zerstörenden Fanatismus, dem jedes Mittel recht ist, frühzeitig unschädlich zu machen. Es war nicht möglich, ich büße den Kampf gegen den Satan mit dem Tode. Und doch glaube ich an den Sieg des Guten und Gottes gerechtes Gericht.“

Nachlaß:Bundesarchiv Koblenz und Familienbesitz. <p >Quellen:Beck und Goerdeler. Gemeinschaftsdokumente für den Frieden, hrsg. und erl. von Wilhelm Ritter von Schramm, München 1965. – A. P. Young: Die ‚X‘-Dokumente. Die geheimen Kontakte Carl Goerdelers mit der britischen Regierung 1938/1939, hrsg. von Sidney Aster, deutsche Ausgabe von Helmut Krausnick, München 1989 (engl. Originalausgabe 1974).

Lit.: Gerhard Ritter: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954 u.ö. – Paul Kluke: Carl Friedrich Goerdeler, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 6 (1964). – Marianne Meyer-Krahmer: Carl Goerdeler und sein Weg in den Widerstand. Eine Reise in die Welt meines Vaters, Freiburg i.Br. 1989. – Helmut Krausnick: Goerdeler und Großbritannien (= Nachwort zu A.. P. Young, s.o.). – Hans-Ulrich Thamer: Carl Friedrich Goerdeler – Der Motor des konservativ-bürgerlichen Widerstandes, in: „Für Deutschland“. Die Männer des 20. Juli, hrsg. von Klemens von Klemperer, Enrico Syring und Rainer Zitelmann, Frankfurt a.M./Berlin 1994 (dort weitere Literatur).

Bild: privat.

Peter Mast