Biographie

Grass, Günter

Herkunft: Danzig
Beruf: Schriftsteller
* 16. Oktober 1927 in Danzig

Kein anderer deutscher Autor der Bundesrepublik hat so viele und so tief greifende Literaturskandale hervorgerufen wie der am 16. Oktober 1927 in Danzig geborene Günter Grass. Zuletzt durch seine AutobiografieBeim Schälen der Zwiebeln 2006, die weltweit ein literarisches Erdbeben hervorrief, da der bisherige „staatliche“ Moralist der Bundesrepublik eine frühe Mitgliedschaft als 17-Jähriger im Frühjahr 1945 in der Waffen-SS schildert. Obwohl er zuvor – eher allgemein – diese kurzfristige Mitgliedschaft keineswegs „verheimlichte“, wurde ihm die als zu spät empfundene „klarstellende“ Wiederholung schlichtweg als Pharisäertum angekreidet und jeder deutschsprachige Intellektuelle, der noch ein politisches oder literarisches Hühnchen mit ihm zu rupfen hatte, versuchte nun political correct sein Mütchen zu kühlen bis hin zu der von Neid gebeutelten Forderung, er solle den 1999 erhaltenen Nobelpreis schleunigst „anständigerweise“ zurückgeben.

Eigentlich nichts Neues für Günter Grass, denn schon sein erster und bester Roman, die 1959 erschieneneBlechtrommel – die Grundlage seines Nobelpreises 40 Jahre später – veranlasste den Literaturskandal des Jahres 1960. Der Bremer Senat vermeinte, in der Blechtrommel jugendgefährdende Stellen entdecken zu müssen, machte von seinem Vetorecht Gebrauch und sprach ihm den Bremer Literaturpreis wieder ab.

Weder in seiner schrillen Lyrik wie Die Vorzüge der Windhühner (1956) oderGleisdreieck (1960), noch in seinen absurden Theaterstücken wie Onkel, Onkel (1958) oderDie Plebejer proben den Aufstand (1966), wo er immerhin Brechts zwiespältige Haltung beim Aufstand 1953 behandelt, konnte Grass den Nerv der Zeit so gut treffen wie in seiner Prosa. Neben der Blechtrommel bilden die Novellen Katz und Maus (1967) und der Roman Hundejahre (1963) dieDanziger Triologie, die ihn auch in Polen zu einem landesweit bekannten und bewunderten Autor machten. Zu seinen kritischen ProsabändenDer Butt (1977), Das Treffen in Telgte (1979), Die Rättin (1986), Unkenrufe (1992) undEin weites Feld (1995) gesellte sich 2002 die Erzählung (für eine Novelle ist sie zu wenig formal gegliedert)Im Krebsgang, die ebenfalls ein bis heute andauerndes literarisches Beben verursachte.

Im Krebsgang ist ein Musterbeispiel dafür, wie ein genialer Autor ein verdrängtes und ideologisiertes Thema einmal von einer ganz anderen Perspektive aus betrachtet. Dieses relativ schmale Buch fand so viel Aufmerksamkeit, weil man es als einen Tabubruch empfand: Erstmals schrieb ein bekannter Autor der progressiven Literaturszene offen über das Leid der Vertriebenen. Grass stellte den Untergang der „Wilhelm Gustloff“ mit fast 10.000 Toten, die meisten davon Frauen, fast 4.500 Kinder, in den Mittelpunkt seiner Handlung, besser gesagt Handlungen. Damit intensiviert Grass – in dessen zahlreichen tagespolitischen Stellungsnahmen die Vertriebenenverbände keineswegs sonderlich gut abschnitten – die längst fällige Debatte über eine angemessene Berücksichtigung auch dieser bisher im allgemeinen Gedenken vernachlässigten letzten, dabei sehr großen, 14 Millionen zählenden Opfergruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen vor und nach 1945. Standen bisher ausschließlich die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges im Blickfeld dieses Literaturmilieus der ernsten und renommierten kritischen Nachkriegsautoren, so war der Grund hierfür die Angst vor dem Beifall von der falschen Seite, besonders nach der neuen Ostpolitik Willi Brandts zu Beginn der 1970er Jahre. Die Grausamkeiten, die bei der Vertreibung geschahen, wurden lange Zeit von Autoren, aber auch Politikern nicht entsprechend beachtet, um nicht die vom Dritten Reich verursachten Verbrechen zu „relativieren“, als ob man eine Untat mit einer anderen aufwiegen könnte.

Es gab allerdings schon vor dieser Erzählung über 50 Romane und andere Publikationen, die sich mit dem Schicksal der Vertriebenen auseinandersetzen. Erwähnenswert ist dabei z.B. Helga Hirschs DokumentationDie Rache der Opfer, in der die Verfasserin es versteht, auch den Schmerz der deutschen Opfer der Vertreibung und Enteignung wahrzunehmen und zu akzeptieren, ohne die Hintergründe des Zweiten Weltkrieges mit seinen vielen Opfern in ganz Europa aus den Auge zu verlieren. Hirschs Vorwurf, geäußert auf der 3Sat-Diskussion zur Leipziger Messe, Günter Grass halte sich das Schicksal der Betroffenen vom Leibe, da er die sehr unterkühlte Variante gewählt habe, einen Protagonisten im Internet sich alles heraussuchen oder herausstellen zu lassen, während der Schmerz der Leute nicht behandelt werde, verwundert. Diese Kritik ist zu kurz gegriffen, da Günter Grass die Zivilcourage hatte, den Untergang der Wilhelm Gustloff mit vielen Einzelheiten aus gründlichen Recherchen in den Mittelpunkt seiner Handlungsstränge zu stellen. Gerade diese zum Teil schon akribische Genauigkeit der Schilderung macht das Ungeheuerliche der Katastrophe in ihrer unfassbaren Dimension erst erahnbar.

Dabei geht Günter Grass den Schicksalswegen seiner sehr unterschiedlichen Protagonisten nach und bricht dabei wiederholt Tabus. So zeigt er am Schicksal des Namensgebers des ehemaligen Kraft-durch-Freude-Dampfers, des NS-Funktionärs Wilhelm Gustloff, wie ein ehemaliger„sozial“ engagierter Faschist, ein Protegierter des in der Röhmaffäre 1934 ermordeten Hitlerkonkurenten Gregor Strasser, sich den neuen Gegebenheiten anpasst und erst durch seinen Tod bei einem Attentat etwas „Besonderes“ wird. Auch das Schicksal des Attentäters David Frankfurter wird bis zu dessen Ende mit 81 Jahren im israelischen Kriegsministerium verfolgt. Ausführlich wird auch das Schicksal des Kommandanten des sowjetischen U-Bootes Alexander Marinesko, ursprünglich Alexandru Marinescu, eines rumänischstämmigen Sowjetbürgers, geschildert, der nicht zuletzt aus Angst vor der sowjetischen Geheimpolizei – ihm drohte nach dem schrecklichen Exempel seiner liquidierten Landsleute in der Führungsspitze der Roten Armee die „etnische Sippenhaft“ als unzuverässiger Rumäne – auf der Jagd nach „Erfolg“ ist.

Familie Pokriefke ist in einem gewissen Sinne der kollektive Hauptheld dieser Erzählung, da ihre Schicksale so eng miteinander verknüpft sind, dass sie nur im Gesamtzusammenhang zu entwirren sind. Großmutter Ulla Pokriefke gebiert ihren Sohn Paul Pokriefke gerade in der Nacht des Untergangs der Gustloff als eine der wenigen Geretteten. Paul Pokriefke, der Ich-Erzähler, eher ein Antiheld in seinem Bemühen, als Reporterüber die Runden zu kommen, ist ein bildungsbürgerlicher Versager. Erst studentenrevoltiert, dann Springerpresse-Mitarbeiter, vorübergehend Alternativer, zuletzt halblarmoyanter Dauerbeobachter. Sein Sohn Konrad Pokriefke, der Enkel Ulla Pokriefkes, driftet in die rechte Szene ab, auch weil die Ehe Pauls mit seiner Frau Gabi, einer 68-erin, in die Brüche geht. Der „intellektuelle“ Rechtsextremist Konny findet schon im jugendlichen Alter von 14/15 Jahren seine Zuflucht im Surfen im Internet „weg von der linkslastig mütterlichen Dauerbelegung“.Auch vom Vater hat er wenig zu erwarten, da dieser sich kaum um ihn kümmert. So bleibt ihm eigentlich zum Schluss nur die Großmutter Ulla Pokriefke, die ihr Trauma, den Untergang der Wilhelm Gustloff, an dem vereinsamten Enkel Konny abarbeitet, dem sie es in allen Einzelheiten immer wieder berichtet, bis dieser es zu einem festen Bestandteil seiner rechten Vorstellungswelt macht.

Bei der Porträtierung der Großmutter, die als SED-Genossin in Schwerin lebt, benutzt Grass schwarzen Humor. Der Untergang der Gustloff war ein Tabuthema in der DDR, das Ulla Pokriefke immer wieder bricht, da sie es nicht lassen kann, darüber zu berichten. Befragt nach ihrem weißen Haar in noch relativ jungem Alter, erzählt sie gerne ausführlich wie sie es innerhalb einer halben Stunde bekommen hat, als sie sah, wie viele der Kinder einfach kopfüber ins Wasser stürzten, als die Gustloff torpediert wurde. Den Kommandanten und seine Männer des Torpedobootes nennt sie dabei als brave SED-Genossin„die uns Werktätigen freundschaftlich verbundenen Helden von der Sowjetmarine“.

So rankt sich diese Erzählung an die größte Schiffskatastrophe der Weltgeschichte mit besonderer Berücksichtigung des totalitären historischen Hintergrundes was den Nationalsozialismus Hitlers wie auch den nationalistisch extremistischen Stalinismus anbelangt. Bei der Betrachtung auch der chauvinistisch gespeisten Unmenschlichkeit des Stalinismus – sei es in der Angstpsychose des sowjetrumänischen U-Boot Kommandanten, der auf Vernichtungserfolg, ohne Rücksicht auf Opfer in der Zivilbevölkerung, angewiesen war, oder der Erwähnung von Ilja Ehrenburgs Mordaufruf„Töte“, der auch die Ermordung von Frauen und Kindern der „Deutschen“, nicht der „Faschisten“ forderte, gelingt es Grass ohne erhobenen Zeigefinger ideologiekritisch literarisch zu veranschaulichen.

Das Hauptverdienst dieser Erzählung ist die nicht neue, aber hier zivilcouragierte auf dem historischen Hintergrund der Vertreibung veranschaulichte Erkenntnis, dass die Unmenschlichkeit nicht halbiert werden kann in schlechte Unmenschlichkeit – die reaktionäre faschistische – und gute Unmenschlichkeit – die vorgeblich progressiv stalinistisch-antifaschistische. Auch die Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung und der Zivilbevölkerung der mit dem Dritten Reich verbündeten Länder ist nicht hinnehmbar – schon gar nicht ideologisch legitimiert, da jede Ideologisierung eine Einschränkung ist und, wie auch diese Erzählung dem Leser anschaulich vor Augen führt, letztendlich immer auch eine Einschränkung, ja mituntersogar Aufgabe der Humanität.

Die political correctness wird nicht bedient, bis zum Ende der Geschichte. Der rechtsextremistische Jugendliche erschießt einen demokratischen, die verbrecherische Vergangenheit bis zur Identifikation mit den Opfern verinnerlichenden Gleichaltrigen. Beim darauf folgenden Prozess allerdings wird die Mutter als Prototyp der ganzen 68er-Generation vorgeführt. Sie konnte ihrem Sohn nie eine Gesprächspartnerin sein wegen ihrer ideologischen Voreingenommenheit, da sie von vornherein sich auf Andersdenkende gar nicht einzulassen imstande war. Die Verweigerung der Trauer für die deutschen Opfer, um nicht die Leiden der anderen Opfer zu verdrängen, machte sie, als nur zu „ideologisch fortschrittlichem“ Mitleid fähig, für ihre Kinder unglaubwürdig und überließ diese somit den „politisch Unkorrekten“. Peter Schneider, selbst ehemaliger 68-er, schlussfolgert in seiner StellungsnahmeGünter Grass, 68 und die Vertriebenen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26. März 2002: „In den wilden Jahren der Republikwurde der Begriff ‚Faschismus‘ auf beiden Seiten der Barrikaden hauptsächlich zur Denunziation aktueller politischer Feinde verwandt, vergleichsweise selten zur Auseinandersetzung mit der Epoche, die er bezeichnet“.

Dies Buch widerlegt die im linken, betont progressiven Milieu bisher vertretene Ansicht, Vertriebene dürften als minderschwere Opfer des Totalitarismus marginalisiert, ja sogar unbeachtet bleiben. Gerade durch das Ausmaß der geschilderten menschlichen Tragödie mit fast 10.000 Opfern wird die Unmenschlichkeit der Geiselnahme der Zivilbevölkerung zur Unterstützung militärischer Aktivitäten dem Leser anschaulich vor Augen geführt. Selbst Marcel Reich-Ranicki, der „Papst“ der bundesdeutschen Literaturkritik, gestand nach der Lektüre dieses Buches: „Ich habe geweint und ich weine nicht unter meinem Niveau.“

: Kulturstiftung.Ingmar Brantsch