Biographie

Grau, Peter

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Maler, Zeichner, Grafiker
* 14. November 1928 in Breslau
† 22. Juli 2016 in Leinfelden

Peter Grau wurde als „visionärer Realist“ charakterisiert und künstlerischer Ahne Alfred Kubins genannt (Gall Faltblatt 1988). Zu Peters Graus vielschich­tiger, erlebenstiefer Welt wären auch die Zyklen Max Klingers, die Desastres von Francisco Goya, die Dämonen und Masken von James Ensor, selbstiro­nisch die Radierung Ensor in der Klasse Grau 1981 und die Carceri von Giovanni Piranesi als vorangegangene Deutungen der Welt zu erwähnen.

Sein Vater, Erwin Grau, war Architekt mit Spezialgebiet zoologische Gärten. Peters außergewöhnliche künstlerische Begabung war früh zu erkennen. Eine Zeich­nung von 1933 zeigt Medusa mit dem Schlangenhaupt. Sechs Beine schauen unter dem Rock hervor, „ein für einen Fünfjährigen wahrlich unge­wöhnliches Sujet!“ (Keuerleber Kat. 1998, S. 18). Aus vielem Kranksein, aber auch aus den Umständen der Zeit, ergaben sich Angstzustände und starkes Zu­rückverwiesenseins auf sich selbst, was sich schon in seinen Kinderzeich­nungen widerspiegelte: „Gespenster malen war meine Spezialität“ (Meinen Lehrern, S. 17), so dass er „Gespensterpeter“ genannt wurde. Das „intakte Elternhaus“ und die Mutter (Leonie geb. Müller), „die mit ihrer Liebe zur Kunst für mich sehr wichtig wurde“, schirmten ihn ab (ebda. S. 18).

Professor Johann Drobek, heute noch bekannt als Restaurator der Tiepolo-Fres­ken in der Würzburger Residenz, lud gerne Kinder zu kreativem Tun in sein Atelier ein, wurde ihm mit elf Jahren zum ersten Lehrer. Liebevoll wurde er „Onkel“ genannt. „Ich machte die Laufbahn durch, die er scherzhaft von ‚Stift‘ über ‚Geselle‘ bis ‚Kollege‘ einstufte“ (ebda S. 19). Kollege wurde er durch das erstaunliche Selbstbildnis von 1943 mit Federhut vor Bauern-Breugelschen Szenerien sowie Kreaturen und Architektur des Hieronymus Bosch.

Mit dem letzten Zug, bevor Breslau zur Festung erklärt wurde, konnte Familie Grau die Stadt verlassen. Die Fahrt endete am Bodensee. Im Fluchtgepäck waren eine Mappe mit Zeichnungen und das Selbstbildnis. Aus seinem riesigen geistigen Gepäck sei wenigstens das barocke Breslau genannt, das in der Formensprache, der Fülle und den Jenseitigkeiten, in seinem Werk verblieben ist sowie bittere Erfahrungen von Zerstörung und Entrissensein.

Peter Grau erhielt von Julius Bissier in dem Unteruhldingen benachbarten Hagnau entscheidende künstlerische Anregungen. Auch William Straube wurde ihm bekannt, bei dessen Frau er Geigenunterricht hatte.

Das Selbstbildnis war 1946 in der Bewerbungsmappe für die Klasse Willi Baumeisters an der Stuttgarter Akademie, bei dem er von 1947 bis 1952 stu­dier­te und der ihn einmal als „besten Zeichner der Nachkriegszeit, der ihm begeg­net war“ bezeichnete. Er war sein einziger „gegenständlicher“ Schüler, welcher ja sogar „inhaltlich, literarisch“ arbeitete. Grau war überaus belesen und hochgebildet, von Kindheit an bis ins Alter lebte er in der Literatur, der Musik und in der Kunst mit ihren theoretischen Schriften und Fragen.

Es wird den Schlesiern ja nachgesagt, dass sie zwei immer Dinge könnten, dass sie „getuppelt“ seien, und so studierte er noch von 1950 bis 1955 an der Stuttgarter Musik­hochschule Hauptfach Violine.

Erste künstlerische Erfolge stellten sich ein und trotz aller wirtschaftlicher Schwierigkeiten dieser Zeit blieb er auf seinem Weg und verfiel nicht in „ge­brauchsgraphischen Alltag“, den er als ablenkende Gefahr für künstlerisches Schaffen erkannte. Er heiratete 1959 die Bratschistin Mari­anne geb. Groos, die als Mitglied der Stuttgarter Philharmoniker wesentlich den Unterhalt der Familie bestritt, eine freie Hand für freies Arbeiten er­möglichte. Die Tochter, Angela, ist als Pianistin tätig.

Erste Einzelausstellungen (Stuttgart Württ. Kunstverein 1955, Mannheim Kunstverein 1956) und Beteiligungen an bedeutenden Ausstellungen folgten, seit 1958 auch im Ausland. Auszeichnungen würdigten sein Schaffen: 1954 Kunst­preis der Ju­gend. Das Stipendium der Cité Internationale des Arts ermög­lichte 1965/66 einen Parisaufenthalt. Die Zyklen Le Marais und Le Jardin des Plantes entstanden, die in mehreren Ausstellungen (Paris, Stuttgart) gezeigt, Aufmerksamkeit erregten.

1968 wurde ihm die Hans-Thoma-Medaille verlie­hen und im selben Jahr folgte der Ruf an die Stuttgarter Akademie, auf die Pro­fessur „Allgemeine künstleri­sche Ausbildung“. Immer wieder belegten Klas­senausstellungen seiner Studen­ten Graus pädagogisches Geschick. „Die sukzes­sive Schärfung der visuellen Wahrnehmung und der Gestaltungsfähigkeit in größtmöglicher Freiheit der schöpferischen Phantasie“ (Akademie Stuttgart 1988, S. 42) war eine wesentli­che Maxime seines Unter­richts. Vieles dieser an­regenden Lehrtätigkeit findet sich in seinem Werk, so der Zyklus Bleistiftzeich­nungen Kuriosa oder die Radierungen Die Höfe der Akademie (1972), gezeigt 1973 in der Einzelausstel­lung der Ostdeutschen Galerie Regensburg. Große Anerkennung fanden auf Exkursionen entstandene Zyklen, wie Blumenstudenten (1981), prall von Grau­schem Humor, das Blatt Rast zeigt ein Selbstbildnis mit blumenumkränztem Haupt, oder der vielgerühmte Zyklus Vézelay (1979) und Der einsame Hof (1980). 1974 erhielt er die Ehrengabe des erstmals verliehenen Lovis-Corinth-Preises der Künstlergilde. Seine jahrelangen Straßenbahn­fahrten zur „Aka“ waren eine Fahrt durch die Realität (Stadtbahn U 5, 1991), welche er in sein Schaffen ein­brachte, Typen wie Nasenringe (1975), Edelpun­ker (1988), Roter Jäger (1997), Harpyie (1989), Frau mit Gesichtsschmuck (1993), Moham­medanerin mit Henkelkorb (1999) sowie die Verwahrlosung und der Verfall am Wegesrand, wie Villa (1987), Unbewohn­bares Haus (1996), Verwilderter Garten (1981 u. 1997) u.v.a.m. 1994 erfolgte seine Emeritierung.

Die Radierung musste er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Von der do­minierenden Schwarz-Weiß-Kunst wandte er sich zu einer dezenten Farbigkeit. Dies war schon in den 1980er Jahren zu bemerken, wohl auch dem sich abzeich­nenden Gegentrend zur Druckgraphik zu entgehen. Seine Farben, Aquarell und Gouache, sind von kostbarem Valeur, die an William Turner erinnern, auch an die zarte Farbgebung ostasiatischer Kunst. Es sind virtuose Pinselzeichnungen großen Formats auf Satin und Batist. Im Spätwerk, das in die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts hinein­reicht, ist eine Verdichtung der ahnungsvollen Themen auszumachen. „Kein Wun­der, dass Peter Grau in dem Moment seine künstleri­sche Kraft einbüßte, als seine Ängste, seine Traumata offen zutage traten“ (Davidis), die ihn ans Krankenlager fesselten.

Die Musik war auch in seinem Schaffen ein wesentliches Element. In seiner Bilddramaturgie bezeichnete er das Wichtige als „Solist“, der eine besondere Platzierung erhält, jedoch nicht unbedingt auf den ersten Blick auffallen muss. Formal war das Zyklische von großer Bedeutung, in differenzierter Mehr­sätzig­keit, vom Diptychon Heilige (1984) bis zu ausgreifenden Folgen, über Viersätzigkeit wie der Zyklus Nordsee (1975/76) und mehrteilige Suiten wie Apokalypse (1963), 7 Illustrationen zu Kafkas Tage­büchern (1966/67), zu groß angelegten gezeichneten Folgen, wie die 19 Regensbur­ger Blätter. Ein weiteres formal-musikalisches Prinzip ist die Varia­tion, z.B. 5 Federzeich­nungen Der brennende Berg oder die Tuschezeichnungen auf Dop­pelblättern Invasion (1985). Auch innerhalb eines Zyklus wie in den Re­gens­burger Blättern finden sich gelegentlich Variationssätze, so Kirchhof I-II oder Wintergewitter I-III.

Bedeutsam die 30 Kohlezeichnungen Der Maurische Garten 1974, des bota­nisch-zoologischen Gartens Wilhelma in Stuttgart, ausgestellt 1976 im Stutt­garter Kunstgebäude, heute im Verwaltungsgebäude der Wilhelma. Über alle Anteilnahme an den diffizilen, künstlerischen Aspekten hinaus erregten sich die Gemüter am vernachlässigten baulichen Zustand des Ensembles, welchen der Zyklus auch artikulierte. Besonders gefährdet war das Wilhelma-Theater, dessen Abriss von kulturfernen Ba­nau­sen gar in die Diskussion gebracht wurde, neben manchen modernistischen Veränderungen. Grau hatte mit dem Zyklus einen doppelten, nachhaltigen Effekt erzielt, jenseits aller botanisch-zoolo­gisch-menschlichen Inhalte seiner großartigen Kunst. Das für König Wilhelm I. 1842 bis 1850 erbaute maurische Märchenrefugium wurde von dem Breslauer Architekten Richard Zanth aufgeführt. 1944 haben alliierte Bomben das En­semble zerstört und die folgende Umnutzung als botanisch-zoologischer Garten war ruinös. Grau hat durch seinen Zyklus auf die lä­dierten, restlichen Bauten seines Landsmannes Zanth aufmerksam gemacht, mit allem Verständnis eines Architektensohns für zoologische Gärten, auch mit der Radierung Zum Geden­ken an die im Krieg zerstörten zoologischen Gärten (1983). Das Wilhelma-Theater wurde Podium „seiner“ Staatlichen Hoch­schule für Musik und Darstel­lende Kunst, zur unverzichtbaren Kulturstätte für Studentengenerationen vom ersten Betreten der Bretter, die die Welt bedeuten. Dies ist ein Beispiel für die große Wirkung seines Darstellungsvermögens, das geradezu ein Hineinstürzen des Betrachters in unausweichbares Nachdenken hervorruft.

Oft wurde sein Schaffen als grotesk interpretiert, aber der große Hintersinn liegt in der Vorahnung, was ihn, um bei schlesischen Künstlern zu bleiben, in die Reihe von Wilhelm Doms und Ludwig Meidner stellt. „Sein Schaffen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, war in unseren Breiten eine Periode des Friedens und des Wohlstands. Wie brüchig diese scheinbar heile Welt immer gewesen ist, wurde erst nach der Jahrtausendwende so recht deut­lich und wird es täglich mehr. Die Schrecknisse, die sich unter einer scheinbar ruhigen Oberfläche verbargen, schon damals dargestellt zu haben, ist Peter Graus bleibende Leistung“ (Davidis).

Beim Besuch im Atelier war ein hochformatiges Aquarell auf der Staf­felei, ein Kriegsschiff in diagonaler Fahrt, im Dazwischen von rauchenden Schloten und überziehender Vegetation, aus der auch etwas „kreatürliche Materie“ hervor­schaute. Peter Grau meinte, auf die leere Wasserfläche im linken Vordergrund zeigend, dass dort auch ein Kriegsschiff gewesen sei, das er jedoch übermalt hätte. „Wenn man es auch nicht mehr sieht, da ist es ja trotz­dem.“ Vielleicht wäre in dem Satz auch ein Schlüssel aus seinem riesigen Schlüsselbund zu sei­nem vielschichtigen Werk zu finden: Das Sicht­bare unsichtbar zu machen, um dadurch das Unsichtbare sichtbar zu machen. Werke kamen in mehrere Sammlungen, u.a. Staatsgalerie Stuttgart, Galerie der Stadt Stuttgart, Ostdeutsche Galerie Regensburg, Städtische Galerie Albstadt, Schiller-National­mu­seum Marbach.

Lit.: Peter Grau, Meinen Lehrern – Johann Drobek, Julius Bis­sier, Willi Baumeister, Waib­lingen usw. 1998. – Schwäbisches Künstlerlexikon. – AKL. – Kataloge der gen. Ausstellungen. – Zeitge­nössische Kunst des deutschen Ostens, Kat. Ausst. der Künst­ler­gilde Esslingen Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden 1954. – Günther Grundmann, Erlebter Jahre Wider­schein, München 1972 S. 209f. – Kat. Peter Grau, Der Maurische Garten. Zeichnungen und Skizzen, Galerie der Stadt Stutt­gart 1976, hrsg. v. Eugen Keuerleber. – Kat. Peter Grau, Der einsame Hof, Kunst­verein Ulm 1980, Vorwort von Ernst Schremmer. – Kat. Peter Grau, Regensburger Blätter, Ost­deutsche Galerie Regensburg 1982, hrsg. v. Werner Timm/Ruppert Schreiner. – Kat. Peter Grau, Neue Zeich­nungen, Galerie Rat­hausplatz Sindelfingen 1988, Vorwort von Günther Wirth. – Peter Grau, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart – Eine Selbstdarstellung, 1988 Stuttgart usw. S. 42. – Peter Grau – Graphiken und farbige Zeichnungen der 80er Jahre, Wilhelm Gall Falt­blatt Städtische Galerie Filderhalle Leinfel­den-Echterdingen 1988. – Ernst Schremmer, Peter Grau, Real – irreal. Aus Tradition am Puls der Zeit, in: Standorte, Künstlergilde Esslingen 1992 S. 73 ff. – Peter Grau 1933-1998, Radierungen, Neuere Arbeiten, Hans Thoma-Gesellschaft, Kunstverein Reutlingen 1998. – Michael Davidis, Peter Grau zum Gedenken, Leinfelden/Marbach a.N. 2016. – Marianne Grau Mitteilungen a. d. Verf. 2017.

Bild: Faltblatt Réminiscenses Parisiennes, Peter Grau, Neue Zeichnungen, Stuttgart 1973.

Helmut Scheunchen, 2017