Biographie

Hasselblatt, Werner

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Jurist, Politiker
* 10. Juni 1890 in Dorpat/Estland
† 24. Januar 1958 in Lüneburg

Am 10. Juni 1890 wurde Werner Hasselblatt in der estländischen Universitätsstadt Dorpat geboren, als Sohn des Journalisten und Historikers Arnold Hasselblatt (1852-1927), der von 1888 bis 1914 verantwortlicher Redakteur der „Neuen Dörptschen" (seit 1897) „Nordlivländischen Zeitung", von 1920 bis 1926 Stadtarchivar in Dorpat und Ehrenmitglied mehrerer gelehrter, historischer und altertumsforschenden Gesellschaften seines Heimatlandes und (mit G. Otto) Herausgeber des „Album Academicum der Kaiserlichen Universität Dorpat" (1889) gewesen war.

Nach dem Besuch von Privatgymnasien in seiner Vaterstadt Dorpat und in Riga studierte Werner Hasselblatt in Dorpat Rechtswissenschaften (1908-1912) und schloß sein Studium mit den beiden Staatsprüfungen ab. Er war von 1912 bis 1914 als Gerichtsamtskandidat in Twer und im polnischen Petrikau tätig. Nachdem er im Jahre 1914 sich als Redakteur an der „Nordlivländischen Zeitung" betätigt hatte, ging er im Jahre 1915 nach Sibirien. Bereits im Frühjahr 1915 hatten Verschickungen von Deutschen nach Sibirien eingesetzt; vielen von ihnen war Jenissejsk als Verbannungsort zugewiesen worden, während eine kleinere Gruppe in das Polargebiet abgezweigt worden war. Diese Landsleute, denen es am Notwendigsten mangelte, zurückzuholen, war Hasselblatt ihnen gefolgt, und es gelang ihm diese Gruppe zu retten und nach Jenissejsk zu bringen. Er selbst trat Anfang Januar 1916 seinen Dienst im Bezirksgericht von Krassnojarsk an und wurde mit der Verwaltung des Friedensgerichts des Bezirks des Kreises Kansk beauftragt, im Juli 1917 zum Friedensrichter des 3. Bezirks des Kreises Atschinsk ernannt, wo er sein letztes Amt im ausländischen Justizdienst versah.

Als im September 1917 Riga von deutschen Truppen besetzt wurde, bat er um Urlaub, aus dem er nicht mehr zurückkehren sollte, und gab sich in seine estländische Heimat, wo er viele Vorzeichen des vorstehenden bolschewistischen Umsturzes erkannte. In Dorpat, wo sich Bürger aller Nationalitäten zu einer Bürgerwehr zusammenschlossen, wurde ihm die Leitung der altstädtischen Stadtteile anvertraut, und er  gründete gemeinsam mit anderen  Balten eine „deutschbaltische Hilfsdienstgesellschaft", deren Aufgabe darin bestand, die Deutsch-Balten in der russländischen Diaspora zwecks Rückkehr in die Heimat zu erfassen und in den estländischen Städten aufzunehmen. Im November 1917 übernahmen in Estland die Bolschewiken die Macht, wobei sie über 300 der verhafteten Deutsch-Balten als Geiseln in Viehwaggons nach Sibirien verschleppten. Werner Hasselblatt befand sich unter ihnen. Dort fanden sie „ausgerechnet in meinem ehemaligen richterlichen Gefängnis in Krassnojarsk eine rauhe, aber nicht unfreundliche Aufnahme"  Im März 1918 wurde in Brest-Litowsk der Friedensvertrag zwischen Rußland und dem Deutschen Reich unterzeichnet; nicht lange darauf erfolgte die Rückführung der Verschleppten in die Heimat. Nach der Rückkehr, während der Zeit der deutschen Besetzung des Landes, war Hasselblatt noch einige Monate im Justizdienst tätig, zog aber dann nach Reval, wo er den Weg in die aktive Politik beschritt, nachdem er den Befreiungskrieg Estlands (1918 bis 1920) in den Reihen des Baltenregiments mitgemacht hatte. Nach der Staatsgründung Estlands, das bereits am 24. Februar 1918 seine Unabhängigkeit proklamiert hatte, gehörte Werner Hasselblatt in den Jahren l von 1923 bis 1932 als deutscher Abgeordneter, Sprecher und Vorsitzender der deutschen Fraktion der 2., 3. und 4. estländischen Staatsversammlung, dem Parlament an. Die bereits im Grundgesetz des Freistaates verankerte Kulturautonomie der nationalen Minderheiten Estlands erhielt durch das Wirken und den Einfluß junger deutscher Politiker, zu denen neben Hasselblatt auch Axel de Vries gehörte, Form und Gestalt. Sie sollte, wie es der Volkstumspolitiker Max Hildebert Boehm einmal formuliert hat, „als Trägerin eines eigenständigen Schul- und Bildungswesens dazu bestimmt sein, der Volksgruppe, der die Verantwortung für das ganze Land entzogen worden war, neue Pflichten und Verantwortungen in einer veränderten staatlichen Umwelt aufzuerlegen und sie dadurch zu einer kollektiven Persönlichkeit zu machen. Sie sollte von Minderwertigkeitsgefühlen bewahrt bleiben, die sich leicht mit dem international garantierten Minderheitenschutz verknüpften, und das Gehäuse einer eigenständigen Existenz im Staat erhalten. Das waren die Grundgedanken, von denen aus Hasselblatt sein wahrhaft staatsmännisches Werk gestaltete."

Von Bedeutung im Leben Werner Hasselblatts war besonders das Jahr 1925, als er die erste Tagung des I. Estländischen Deutschen Kulturrates eröffnete, und er zugleich zu den Mitgründern der in Genf tagenden Europäischen Nationalitätenkongresse (1925 bis 1938) gehörte. Es waren nicht zufällig „Vertreter der in den baltischen Republiken lebenden Minderheiten, die den Anstoß zu dieser Gründung gaben und einen entscheidenden Einfluß auf deren Organisation und theoretische Grundlagenarbeit ausübten. Die liberalen Ansätze in den Grundgesetzen ermöglichten es hier, in Zusammenarbeit mit den Parteien der Mehrheitsvölker die Minderheitenrechte auszubauen, über ausführende Gesetze bis zum Höhepunkt des estländischen Kulturautonomiegesetzes" (Michael Garleff), als dessen eigentlicher Schöpfer Werner Hasselblatt in die Geschichte eingegangen ist.

Werner Hasselblatt war Vorstandsmitglied der Deutsch-baltischen Partei in Estland, von 1928 bis 1931 Mitherausgeber der „Baltischen Monatsschrift", wo er des öfteren zu aktuellen Fragen der Politik in richtungweisenden Artikeln Stellung genommen hat, und 1928-1929 Mitglied der Nationalitäten-Studienkommission der Interparlamentarischen Union.

Acht Jahre vor der großen Umsiedlung der Deutsch-Balten verließ Werner Hasselblatt seine baltische Heimat, um den geschäftsführenden Vorsitz des Verbandes der deutschen Volksgruppen in Europa zu übernehmen. Seit 1932 hatte er seinen Wohnsitz in Berlin. Gleichzeitig wurde ihm die Mitherausgeberschaft der in Wien erscheinenden Zeitschrift „Nation und Staat" anvertraut. Durch seine Tätigkeit stand er in engem Kontakt mit allen Persönlichkeiten, die diesseits und jenseits der Grenzen im Dienste der Volkstumsarbeit standen. Das Kriegsende und die Katastrophe der Vertreibungen zerstörten die Grundlagen, auf denen auch die Arbeit Werner Haselblatts beruht hatten. Aber „unter entscheidender Teilnahme baltischer Minderheitenvertreter waren Modelle erarbeitet worden, auf die sich heute zu besinnen mehr als nur eine historische Reminiszenz bedeutet. Sie könnten formend wirken auf die auch in unserer Zeit noch ungelösten verschiedenartigen europäischen Nationalitätenprobleme" (Michael Garleff).

Seit dem Jahre 1945 lebte Werner Hasselblatt in Lüneburg, wo er am Januar 1958 nach langer Krankheit verstorben ist.

Lit.: E. Maddison: Die nationalen Minderheiten Estlands und ihre Rechte (Reval/Tallinn1930) – Oskar Angelus: Die Kulturautonomie in Estland. Detmold 1951 – Deutsch-baltisches Biographisches Lexikon 1710-1960. Köln/Wien 1970 – Max Hildebert Boehm: Werner Hasselblatt. Dem Andenken an diesen Kämpfer für das Recht der deutschen Minderheit. In: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 1959, Lüneburg 1958 – Dietrich A. Loeber: Werner Hasselblatt (1890-1958) zum Gedächtnis: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 30/1983, Lüneburg 1982 – Michael Garleff: Baltische Minderheitenvertreter auf den Europäischen Nationalitätenkongressen 1925-1938. In: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 33/1986, Lüneburg 1985Michael Garleff: Nationalitätenpolitik zwischen liberalem und völkischem Anspruch. Gleichklang und Spannung bei Paul Schiemann und Werner Hasselblatt. In: Reval und die baltischen Länder. Hrsg. v. Jürgen v. Hehn und Csaba János Kenéz, Maburg/Lahn 1980.