Biographie

Hess, Johannes

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Theologe
* 23. September 1490 in Nürnberg
† 5. Januar 1547 in Breslau

1534 schrieb Johannes Heß (Hesse, Hessus) zum Entwurf einer neuen evangelischen Kirchenordnung: „Wir Pfarrherren und Prediger sind wie Fuhrleute, die nicht fahren können, wohin sie gern wollten, sondern auf Pferd und Wagen sehen, wie weit sie kommen könnten.“ In diesem realistisch-nüchternen Votum drückt sich die ganze Eigenart jenes Mannes aus, der auf mancherlei Umwegen zu einer der Führungsgestalten der Reformation in Breslau werden und deren Charakter maßgebend bestimmen sollte. Der süddeutsche Patriziersohn studierte in Leipzig (1505/10) und Wittenberg (1510/12) an der artistischen und juristischen Fakultät, gewann Anschluß an den mitteldeutschen Humanismus und 1513 eine erste Position als Notar in der Kanzlei des Breslauer Bischofs Johann Thurzo in Neisse, der ihn bald darauf mit Kanonikaten in Neisse und Brieg auszeichnete. Seit 1514 widmete sich Heß auch der Erziehung des Sohnes Joachim des Herzogs Karl von Münsterberg/Oels, der später als evangelischer Bischof von Brandenburg wirken sollte. Kanonistische und theologische Studien führten Heß 1517 im Anschluß an einen Aufenthalt in Wittenberg nach Bologna und Ferrara, wo ihm, der inzwischen auch ein Kanonikat an der Breslauer Kreuzkirche innehatte, das theologische Doktorat zuteil wurde. Auf der Rückreise von Italien machte Heß zur Jahreswende 1519/20 erneut Station in Wittenberg, wo er mit Luther in nähere Verbindung trat und Melanchthons Freundschaft gewann. Als Heß am 3.6.1520 Breslau ordiniert wurde, waren seine reformatorischen Neigungen bekannt, so daß er nach dem Tod seines Gönners, Bischof Thurzo von Breslau, nach Oels an den Hof des Herzogs auswich, bis ihn am 19.5.1523 der Breslauer Rat aufforderte, eine Predigerstelle an der Stadtkirche St. Maria Magdalena zu übernehmen. Trotz des Widerstandes des Breslauer Bischofs, Johann von Salza, konnte Heß am 21.10.1523 als Prediger durch den Rat, der damit entscheidenden Schritt für die Durchsetzung der Reformation in Stadt wagte, installiert werden. Als Heß im Februar 1524 seine „Axiomata“ über das Wort Gottes im Gegensatz zu Menschensatzungen, Christi Priestertum im Gegensatz zum Meßopfer und die göttliche Einsetzung des Ehestandes im Gegensatz zum Zölibat erscheinen ließ, wurde damit die endgültige Durchsetzung der Reformation in Breslau eingeleitet. Im Ergebnis der in der Breslauer Dorotheenkirche vom 20. bis zum 22.4. abgehaltenen feierlich-akademischen Disputation über die „Axiomata“ beschied der Rat die breslauer Prediger, sie hätten in der Evangeliumspredigt sich an dem Vorbild von Heß zu orientieren, nur durch die Schrift Belegtes vorragen und deshalb alle menschlichen Traditionen und Auslegungen der Kirchenväter fortzulassen. In der Folgezeit bemühte sich Heß konsequent – unter fortdauernder Anerkennung der Jurisdiktion des nicht zur Reformation übergegangenen Bischofs – um die Erneuerung des städtischen Kirchen- und Schulwesens. In Liturgie und kirchlichen Gebräuchen wurden nur die unbedingt erforderlichen Änderungen vorgenommen. Mustergültig war Heß‘ Einsatz für die Verbesserung des Sozialwesens in Breslau. Als der Rat hierbei zögerte, soll Heß in einen Predigtstreik getreten sein und erklärt haben, er wolle nicht „über seinen lieben Herrn Christum, der vor den Kirchenthüren liege, hinüberschreiten“. Daraufhin wurde am 7.5.1525 eine Armenordnung erlassen, durch die dem Straßenbettel abgeholfen wurde. Im gleichen Jahr noch entstand als schönstes Denkmal für die soziale Gesinnung der reformatorisch gesinnten Kräfte das Breslauer Allerheiligenhospital (heute: Wojewodschaftskrankenhaus „J. Babiński“). Heß, der zweimal verheiratet war, blieb sein ganzes Leben Pfarrer an St. Maria Magdalena, „nahm aber faktisch die Rolle des leitenden Geistlichen des reformatorisch gewordenen Territoriums wahr“ (Seils). Am 5.1.1547 starb er, den man nicht ohne weiteres als „Reformator“ Breslaus oder gar Schlesiens bezeichnen darf, würde man damit doch den Charakter der Breslauer Kirchenerneuerung, an deren Zustandekommen etwa auch der Rat so entscheidenden Anteil hatte, verzeichnen. In gelehrten Studien beschäftigte sich Heß insbesondere mit dem Alten Testament, den Kirchenvätern, der Territorialgeschichte und der Archäologie unter Einschluß der Numismatik. Zu größeren und weiterwirkenden Veröffentlichungen hat es der hochgebildete und über weitreichende wissenschaftliche Beziehungen verfügende Humanist jedoch nicht gebracht. Seine Geschichtsdarstellung „Silesia magna“ blieb ungedruckt und ist seit langem verschollen. Weithin noch ungenutzt sind die – allerdings weit verstreuten – Heß-Briefe, aus denen die Eigenart ihres Verfassers genauer zu erfahren wäre. Ebenfalls noch nicht gründlich ausgewertet worden ist die Bibliothek von Heß, deren Bestände – mit vielen Marginalien von seiner Hand – hauptsächlich in Dresden und Ottobeuren erhalten geblieben sind.

Die Bedeutung, die der Nürnberger Johann Heß für Breslau und darüber hinaus dann auch für Schlesien gewann, kann nicht überschätzt werden. Er vereinigte Klarheit in der Sache mit dem entschiedenen Willen zum Ausgleich, wie schon aus seinem Antwortschreiben an den Breslauer Rat hervorgeht, mit dem der 1523 auf dessen Berufung reagierte: „Das Amt eines Predigers des Kreuzes Christi, nicht des Ruhmes der Welt ist es, nicht sich selbst zu predigen und das Seine zu suchen, sondern das, was zum Heile der Glaubenden dient.“ Und weiter: „Am meisten muß man sich davor hüten, daß nicht aus dem Evangelium des Friedens durch unsere Schuld uns eines der Zwietracht wird.“ So rasch sich auch der Einfluß Luthers in Schlesien bemerkbar gemacht hatte, so sehr muß doch auch die Eigenständigkeit der schlesischen Entwicklung betont werden. Typisch dafür ist etwa die Anweisung des Breslauer Rats an seine Vertreter auf dem Grottkauer Fürstentag 1524: „Würde Luthers und seiner Bücher gedacht, so sei zu antworten, man habe damit nichts zu schaffen. Schreibe aber Luther dem Worte Gottes gemäß, so habe man das Wort Gottes angenommen, nicht die Person.“ Die „Kleinstaaterei“ im Schlesien des 16. Jahrhunderts verhinderte die Etablierung einer zentralen Reformatorengestalt. Und das – zutiefst humanistisch motivierte – Insistieren auf dem Wort Gottes allein, ohne alle Bindung an Führungspersönlichkeiten nach dem Schlage Luthers, beförderte eine „schonsam-konservative Form“ der Reformation, „die keine neue Unordnung aufkommen ließ“ (Kretschmar), ermöglichte es, daß Obrigkeit und Bevölkerung gemeinsam für die Erneuerung der Kirche wirkten.

Gewiß hat Heß nicht von der existenziellen Sünden- und Rechtfertigungserfahrung Luthers her Theologie getrieben, ihm öffnete sich der Zugang zu dem „reinen Wort Gottes“ auf jenen Wegen, die der Humanismus geebnet hatte. Daß die Reformation in Breslau und Schlesien trotz ihres vermittelnden und ausgeglichenen Charakters in Stadt und Land, im Adel, bei Bürgern und Bauern wirklich heimisch geworden war, sollte sich in den Stürmen der Gegenreformation zeigen, in denen das schlesische Luthertum seine härteste Bewährungsprobe durchzustehen hatte.

Lit.: Werner Bellardi: Johann Heß, in: Schlesische Lebensbilder 4, Sigmaringen 1985 (l2. Aufl.), S. 29-39; Kurt Engelbert: Die Anfänge der lutherischen Bewegung in Breslau und Schlesien, in: Archiv f. Schlesische Kirchengeschichte 18, 1960, S. 121-207; 19, 1961, S. 165-232; 20, 1962, S. 291-372; 21, 1963, S. 133-214; 22, 1964, S. 177-250; Manfred P. Fleischer: Späthumanismus in Schlesien. Ausgewählte Aufsätze = Silesia 32, München 1984; Johannes Köstlin: Art.: Heß, Johann, in: Realencykloplädie für protestantische Theologie und Kirche 7, Leipzig 1899 (3. Aufl.), S. 787-793; Georg Kretschmar: Die Reformation in Breslau I. Ausgewählte Texte = Quellenhefte zur ostdeutschen und osteuropäischen Kirchengeschichte 3/4,Ulm 1960; Werner Laug: Johannes Heß und die Disputation in Breslau von 1524, in: Jb. für Schlesische Kirchengeschichte NF 37,1958, S. 23-33; Peter Maser: Die Reformation in den ostdeutschen Ländern, in: Deutsche Ostkunde 29, S. 59-73, bes.S. 67 ff; Martin Seils: Art.: Heß, Johannes, in: Theologische Realenzyklopädie 15, Berlin/ New York 1986, S. 260-263 (Lit.).