Biographie

Himsel, Gebhard

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Stadtmedicus und -physikus, Festungsbaumeister
* 1. Januar 1603 in Salzwedel
† 7. Januar 1676 in Reval/Estland

Das erste „Fundament der Wissenschaft“ legte Gebhard Himsel(ius) nach eigenem Bekunden in den Schulen der Heimatstadt Salzwedel. Im Anschluß besuchte er unter dem Rektor Sigismund Evenius das Gymnasium in Magdeburg und bezog 1625 die Universität Leipzig, wo er Medizin studierte und durch den Licentiaten Philipp Müller in der Fortifikation unterrichtet wurde. Im Anschluß war er als Konrektor in Tangermünde an der Elbe tätig und lernte hier beim Obristen Lohausen (unter General Fuchs) die Festungsbaukunst. Die erworbenen Kenntnisse erweiterte Himsel u.a. bei der zehnmonatigen Belagerung Magdeburgs und durch Wallensteins Obrist Arnheimb, in Wittenberg unterrichte ihn Ambrosius Rhodius in der Fortifikation. Schließlich nahm er in Helmstedt bei einem Italiener namens Vincentio, der unter Obrist Cereboni diente, Privatunterricht.

Spätestens seit November 1631 hielt er sich in Reval auf und beriet den Rat bei der Befestigung der Stadt. Vermutlich hatte ihn seinehemaliger Lehrer Evenius, der aus dem zerstörten Magdeburg fliehend einem Ruf in das Rektorat am Revaler Gymnasium folgte, zur Mitfahrt nach Livland bewegen können. Obwohl Evenius Reval noch im selben Jahr wieder verließ, blieb Himsel und wurde 1632 als Schreib- und Rechenmeister an das Gymnasium berufen. Bereits im Juni des folgenden Jahres ging er jedoch nach Åbo, um seine medizinischen Kenntnisse zu erweitern und vermutlich den Doktorgrad zu erwerben; schon 1634 war er wieder als Mathematiklehrer (Arithmeticus) am Revaler Gymnasium zu finden, wo er bis mindestens 1648 tätig war. Da er sich aber 1665 und auch in weiteren Jahren bis mindestens 1670 als „Professor honorarius“ für Mathematik bezeichnete, arbeitete er wohl auch weiterhin – zumal nach der verheerenden Pest von 1657 – als Arithmeticus.

Nach seiner Rückkehr 1634 trat Himsel zugleich das vakante Amt des städtischen Medicus und Physicus an, nachdem der vorherige Stadtarzt Johann Andreae die Anstellung aufgekündigt hatte, weil der Rat den wiederholten Bitten um Abstellung der Kurpfuscherei und anderer Mängel im Gesundheitswesen nicht nachgekommen war. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger band Himsel sich durch Eid an die Stadt, wurde Mitglied der Großen Gilde und heiratete am 19. Juni 1637 die Tochter eines Revaler Ratsherrn, Brigitta von Schoten. Nach deren Tod ging Himsel am 18. November 1658 mit Elisabeth Stampeel, der Schwester des Bürgermeisters Andreas Stampeel, die Ehe ein. Wie zahlreiche Eingaben an den Rat belegen, hatte der Medicus unter vielen Unzulänglichkeiten und Verletzungen seiner Privilegien durch Wanderärzte zu leiden. Probleme bereitete darüber hinaus die Apotheke der Stadt, deren Oberaufsicht Himsel nach dem Tod des Apothekers Johann Burchart im Jahre 1636 übernahm, da der vorgesehene Nachfolger und Erbe noch unmündig war. Die Verwaltung führten ehemalige Gesellen, doch da es zum Streit zwischen dem Verwalter und der Witwe Burcharts kam, infolgedessen der Verwalter sein Amt verließ, beschloß der Rat 1638, die Apotheke künftig selbst zu verwalten. Himsel beklagte 1640 jedoch das nicht länger haltbare Fehlen eines Verwalters, so daß der Rat den Arzt Theodor Olitzschius aus Narva berief und mit der Leitung der Apotheke beauftragte. Man gestand diesem zusätzlich die übliche Befreiung von bürgerlichen Abgaben sowie die freie Ausübung von ärztlicher Tätigkeit in Reval zu, was selbstverständlich für Himsel erneute Konkurrenz bedeutete. Olitzschius trat das Apotheker-Amt nicht an, nutzte hingegen die Privilegien bereitwillig. Während er sich – ganz offensichtlich mit Zustimmung des Rates – bis 1646 als Arzt in Reval betätigte, pachtete Himsel nun von 1640 bis 1649 die Apotheke vom Rat und führte sie auf eigene Rechnung.

Auch die Tätigkeit als Ingenieur für den städtischen Festungsbau führte Himsel fort. 1636 fertigte er ein Gutachten über die Stadtmauer zwischen der Lehm- und der Schmiedepforte an, seit 1637 leitete er dann die Arbeiten an der Stadtbefestigung, die allerdings aufgrund unterschiedlicher Probleme immer wieder für längere Zeit unterbrochen wurden. Im Jahre 1647 erschien in Reval Himsels „Florilegium Fortificatorium tripartitum“, eine mit zahlreichen Kupfertafeln ausgestattete deutsche Anleitung zur Kriegsbaukunst. Daraufhin wurde Himsel im August des Jahres mit dem Entwurf und der Durchführung eines Verteidigungswerkes vor der Großen Strandpforte beauftragt,gleichzeitig verpflichtete man ihn als städtischen Ingenieur, wofür er ab 1651 ein jährliches Gehalt von 200 Reichstalern erhielt. Obwohl aus Bemerkungen des schwedischen Reichsschatzmeisters de la Gardie von 1658 hervorgeht, daß Himsel bei der Konstruktion der Wallanlage Fehler gemacht hatte, arbeitete dieser bis in die siebziger Jahre an den Befestigungsanlagen der Stadt mit.

Schon bald nach seiner Ankunft in Estland muß Himsel außerdem mit der Herstellung von Kalendern begonnen haben, so daß imJuni 1637 in einem Hochzeitsgedicht schon von einem „jährlichen Calender-Buch“ gesprochen werden konnte. Nachweisbar sind einzelne Exemplare von kleinen und großen „Schreib-Kalendern“, ein „Tage-Büchlein oder Kleiner Kalender“ auf 1671 und ein schwedischsprachiger „Almanach“ auf dasselbe Jahr. Ein „Calendarium perpetuum“ (ca. 1645) in Kupfer ist nur dem Titel nach bekannt. Die Vielseitigkeit wurde Himsel in Reval nicht nur positiv angerechnet. So warfen ihm Widersacher 1638 vor, er sei „nur ein Kalendermacher und kein rechter Medicus“. Gleichwohl führte er diese Tätigkeit fort und bemühte sich im Jahre 1642, unterstützt von etlichen Personen aus Stadt und Land, insbesondere guten Freunden unter den Landräten und aus der Ritterschaft, beim Revaler Rat sogar um ein Privileg zum alleinigen Vertrieb von Kalendern. Es ist nicht bekannt, ob diese Supplikation beim Rat Erfolg hatte, mußte sie doch erbitterten Widerstand bei Buchbindern und Krämern auslösen, die fortan keine Kalender mehr verkaufen sollten.

Der astronomischen Beschäftigung Himsels entsprang zudem eine 1665 in Hamburg gedruckte „Cometologia oder Anmerckung und Natürliche Muthmassung von den Cometen“, die den Bürgermeistern und dem Rat der Stadt Reval gewidmet ist. Mit dieser deutschen Abhandlung reagierte Himsel auf die Erscheinung eines Kometen im Dezember des Jahres 1664 und präsentierte nicht nur akkurat die astronomischen Beobachtungen und Berechnungen des Ereignisses, sondern behandelte vor allem drei konkrete Fragestellungen, die auf dem Titelblatt genannt sind. Eine solche ausgesprochen wissenschaftliche Schrift stellt innerhalb der Revaler Literatur jener Zeit eine Seltenheit dar. An der städtischen Gelegenheitsdichtung beteiligte sich der exponierte Gelehrte indessen nur selten, bekannt sind lediglich drei Hochzeitsgedichte, die Himsel 1640 auf seinen Schwager Benedikt von Schoten verfaßte.

Himsel verstarb am 7. Januar 1676 und hinterließ vier Söhne und mindestens eine Tochter. Sein gleichnamiger Sohn, der bis 1692 Medicus et Physicus in Reval war und 1704 als Kronsarzt in Riga starb, begründete die Rigaer Linie der Familie. Die Sammlungen dessen 1764 in Riga als Arzt verstorbenen Enkels Nikolai Himsel bildeten den Grundstock des Rigaer städtischen Museums und der medizinischen Abteilung der Stadtbibliothek. Bücher aus dem Besitz Gebhards d.Ä. befinden sich heute noch in Tallinn.

Lit.:Recke/Napiersky: Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon II, 1829, S. 309. – Napiersky/Beise: Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon, Nachträge und Fortsetzungen I, 1859, S. 272. – A. J. Berting (Hrsg.): Lehrer-Album des Revalschen Gymnasiums 1631-1862. – Programm des Gymnasiums Reval 1862, S. 8f. – J. W. Dehio: Mitteilungen über die Medicinalverhältnisse Alt-Reval [und] Berichtigungen und Nachträge, in: Beiträge zur Kunde Ehst-, Liv- u. Kurlands 4 (1894), S. 219-294 und 439-449. – E. Seuberlich: Die ältesten Apotheken Liv- und Estlands II., in: Sitzungsberichte der Ges. f. Gesch. u. Altertumskunde d. Ostseeprovinzen Rußlands aus dem Jahre 1912 (1914), S. 205-345. – J. Brennsohn: Die Klageschrift des Stadtphysikus Gebhard Himsel an den Rat in Reval gegen einen Wanderarzt (1638), in: Sitzungsberichte der Ges. f. Gesch. u. Altertumskunde d. Ostseeprovinzen Rußlands aus dem Jahre 1914 (1914-20), S. 31-37. – I. Brennsohn: Die Aerzte Estlands. Riga 1922, S. 210f. – G. Adelheim: Revaler Ahnentafeln. Tallinn 1935, S. 237, 239, 259f. – E. Gierlich: Reval 1621 bis 1645. Bonn 1991, passim. – A. Weinmann: Reval 1646 bis 1672. Bonn 1991, S. 50-58. – T. Reimo: Gebhard Himseli raamatuannetus Tallinna raamatukogule Oleviste kiriku juures, in: Raamatukogu (2002) Nr. 2, S. 34-35. – M. Klöker: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jh. Tübingen 2005, S. 226-333 und 681f.

Werke:Hochzeitsschrift auf Benedikt von Schoten u. Elisabeth Grote, Reval 1640. – Calendarium perpetuum, Reval [um 1645]. – Grosser Schreib-Calender auff das M.DC.XLVI. Jahr [inkl. Prognosticum], Reval 1645. – Florilegium fortificatorium tripartitum oder kurtze leichte jedoch gründliche vnd richtige Anweisung zu der jetzigen Zeit üblichen Krieges-Baw-Kunst, Reval 1647. – Alter und newer Schreib-Calender auf das … M.DC.XXXV. Jahr [inkl. Prognosticum], Berlin 1634 – Alter und Newer Schreib-Calender auff das … M.DC.L. Jahr [inkl. Prognosticum], Lübeck 1649. – Kleiner Schreib-Calender auff das … M.DC.L. Jahr, Reval 1649. – Cometologia oder Anmerckung und Natürliche Muthmassung von den Cometen. Jn dreyen Fragen … vorgestellet, Hamburg 1665. – Jahr-Buch Oder Schreib-Calender … Auff dass … M.DC.LXVII. Jahr [inkl. Prognosticum], Reval 1666. – Tage-Büchlein Oder Kleiner Calender auf das … M.DC.LXXI. Jahr, Reval 1670. – Almanach På thet Åhret … M.DC.LXXI, Linköping 1670.

Bild:Privatarchiv des Autors

Martin Klöker