Biographie

Oesterreich, Traugott Konstantin

Herkunft: Pommern
Beruf: Philosoph
* 15. September 1880 in Stettin/Pommern
† 28. Juli 1949 in Tübingen

Trotz seiner Wertschätzung als Philosophiehistoriker und als Verfasser der bis heute gründlichsten (gelegentlich sogar als “klassisch” bezeichneten) Studie über die Phänomene der Besessenheit in Geschichte und Gegenwart ist Traugott Konstantin Oesterreich weitgehend vergessen. Er studierte nach dem Abitur in Berlin Mathematik, Physik, Astronomie und später auch Philosophie, das Fach, in dem er 1905 in Berlin bei Friedrich Paulsen und Carl Stumpf mit einer Dissertation über Kant und die Metaphysik den Doktorgrad und 1916 in Tübingen die akademische Lehrbefugnis erwarb.

Die Universitätslaufbahn des 1916/17 zum außerplanmäßigen Professor und 1922/23 zum planmäßigen Extraordinarius für Philosophie und Psychologie ernannten Gelehrten wurde 1933 abrupt unterbrochen, als er aufgrund des später berüchtigten“Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums”amtsenthoben wurde. Neben dem primären Grund, der 1912 geschlossenen Ehe mit der russischen Jüdin Maria Raich, spielte auch die in zwei Schriften von 1919 dargelegte Staatsauffassung Oesterreichs eine Rolle. Nach seiner Ansicht hatte die materialistische Weltsicht auf politisch-moralischem Gebiet eine “ideenlose reine Machtpolitik mit ihrem realpolitischen Machiavellismus” zur Folge gehabt und zum Ersten Weltkrieg und der deutschen Niederlage entscheidend beigetragen; aus der von Oesterreich entwickelten neuen theoretischen Weltansicht sollte als neuer politischer Standpunkt “die Kulturidee des Staates und der Gedanke einer höheren Lebensordnung der Völker” hervorgehen (Das Weltbild der Gegenwart, Berlin 1920, Vorwort). Verbittert hat Oesterreich später von seiner “leider irrtümlichen” Hoffnung gesprochen, die Lenker der Weimarer Republik strebten höheren Idealen zu; den ihnen folgenden Machthabern des sogenannten Dritten Reiches mußte er jedoch sogar als Staatsfeind erscheinen, der nach seiner Zwangspensionierung froh sein konnte, mit dem Leben davonzukommen. 1945 in sein Amt wieder eingesetzt und mit einem “persönlichen Ordinariat” bedacht, wurde Oesterreich gegen seinen Willen zum April 1947 endgültig in den Ruhestand versetzt. Nach schwerer Krankheit starb er im Alter von knapp 69 Jahren als gebrochener Mann.

Wertvolle systematische Beiträge lieferte Oesterreich zur Religionsphilosophie und zur philosophischen Bewußtseinsforschung. Vor allem aber hat er sich bleibende Verdienste um die Philosophiegeschichte durch die Neubearbeitung der 11. und 12. Auflage des berühmten “Ueberweg” erworben, der umfassendsten und zum Standardwerk gewordenen Darstellung der Geschichte der Philosophie von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, mit einem ganz von Oesterreich verfaßten reichhaltigen Teil über die Philosophie der (damaligen) Gegenwart.

Die Auflage von 1923 führt mit dem Hinweis auf das “am Horizont aufsteigende” neue Problemgebiet Parapsychologie auf das von Oesterreich am intensivsten gepflegte (und von der Fachwelt am umfassendsten rezipierte) seiner Arbeitsgebiete an den Grenzen zwischen Psychologie, Psychopathologie und Philosophie. Hatte sich Oesterreich schon 1910 mit Erscheinungen der Ich-Identität und der sogenannten Persönlichkeits-Spaltung auseinandergesetzt, so wandte er sich 1915 den aus primitiven Gesellschaften und im Abendland aus Antike, Mittelalter und Neuzeit dokumentierten Fällen von “Besessenheit” zu, die er als wesensverwandt mit Phänomenen im zeitgenössischen Hypnotismus und Okkultismus erkannte und als Auftreten eines zweiten Persönlichkeitssystems in den betroffenen Individuen diagnostizierte, welches deren Handeln und Verhalten gegen ihren Willen steuert. Oesterreichs eingangs erwähnte Bearbeitung dieses Problemkreises von 1921 fand international große Beachtung, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und noch 1988 als bislang unübertroffene Beschreibung von Besessenheit und exorzistischen Praktiken zu ihrer Beseitigung charakterisiert.

Die von Oesterreich erkannte Verwandtschaft dieser Erscheinungen mit “okkulten” (insbesondere spiritistischen) und in Hypnose auftretenden Phänomenen führte ihn zur persönlichen Beteiligung an der Untersuchung sogenannter Medien und zur Analyse entsprechender Berichte anderer. Aufgrund dieser Erfahrungen und Studien (die ihm durchaus auch die Häufigkeit betrügerischer Manipulationen auf diesem Gebiet klarmachten) vertrat Oesterreich die Auffassung von der realen Existenz paranormaler Phänomene und empfahl deren wissenschaftliche Untersuchung. Um die hierfür unentbehrliche präzisere Begriffsbildung bemühte er sich ebenso wie um Kriterien für die “Echtheit” paranormaler Phänomene; die von ihm 1921 angeregte Gründung eines (der bekannten englischen “Society for Psychical Research” entsprechenden) “Deutschen Zentralinstituts für Parapsychologie” scheiterte trotz der Unterstützung durch Forscher wie Rudolf Tischner und Hans Driesch nicht zuletzt am Rückzug potentieller Geldgeber nach der Weltwirtschaftskrise 1929. Auf die Bedeutung paranormaler Phänomene für die Philosophie hat Oesterreich zeitlebens hingewiesen; seine Einschätzung ist erst in den siebziger Jahren im akademischen Philosophieunterricht in Großbritannien und in den USA wieder aufgegriffen worden.

Werke: Kant und die Metaphysik, Berlin 1906. – Die Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen. Band I. Das Ich und das Selbstbewußtsein. Die scheinbare Spaltung des Ich, Leipzig 1910. – Die religiöse Erfahrung als philosophisches Problem, Berlin 1915. – Neubearbeitung von: Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, 11. Auflage, Berlin 1916, 12. Auflage Berlin 1923,21928, repr. als 13. Auflage Tübingen 1951, mit separatem Band: Die Philosophie des Auslandes, repr. Tübingen 1953. – Die Staatsidee des neuen Deutschland. Prolegomena zu einer neuen Staatsphilosophie, Leipzig o.J. (1919). – Vom Machtideal zum Kulturideal. Worte deutscher Selbstbesinnung, Charlottenburg 1919. – Die Besessenheit, Langensalza 1921 (französische Übersetzung Paris 1927, englische Übersetzungen London und New York 1930 und Chicago 1935). – Der Okkultismus im modernen Weltbild, Dresden 1921 (mit 2. Auflage im selben Jahr; englische Übersetzung London und New York 1923), 31923 (ungarische Übersetzung Budapest 1925). – Grundbegriffe der Parapsychologie. Eine philosophische Studie, Pfullingen 1921. – Die philosophische Bedeutung der mediumistischen Phänomene, Stuttgart 1924. – Jeanne d’Arc im Lichte der modernen Forschung, Universitas 1 (1948).

Lit.: Maria Oesterreich: Traugott Konstantin Oesterreich. “Ich”-Forscher und Gottsucher. Lebenswerk und Lebensschicksal, Stuttgart 1954.– Eberhard Bauer: T.K. Oesterreich, Neue Deutsche Biographie, Band 19 (im Erscheinen).

Bild: Archiv des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Freiburg i.Br., hier abgedruckt nach der Wiedergabe in Maria Oesterreich 1954 (s. Lit.).

 

Christian Thiel