Biographie

Polke, Sigmar

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Maler, Fotograf
* 23. März 1941 in Oels/Schlesien
† 11. Juni 2010 in Köln

Als einer der bedeutendsten Vertreter der deutschen Gegenwartskunst wurde der am 11. Juni 2010 verstorbene Sigmar Polke in zahlreichen Nachrufen gewürdigt. Mit Begriffen wie „Alchemist“, „Forscher“,„Ironiker“, „Politkünstler ohne Mission“, aber auch „Meister des Stilpluralismus“, „Staatskünstler“ und „Kunst-Markt-Heroe“ trachtete man sich dem Maler und Fotografen zu nähern, der zeitlebens auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen und -mitteln blieb, dessen umfangreiches Werk sich jeder Zuordnung zu gängigen „Ismen“ verweigerte, der sich für keine Weltanschauung oder gar Ideologie vereinnahmen ließ.

Je mehr sich der Ruhm des Malers steigerte, je mehr seine Arbeiten in zahlreichen Ausstellungen präsentiert, mit einer Fülle nationaler und internationaler Auszeichnungen bedacht wurden und auf dem Kunstmarkt Höchstpreise erzielten, desto stärker zog sich Sigmar Polke in sein Atelier in einem ehemaligen Kölner Fabrikgebäude zurück, wurde er schließlich für die Medien und die neugierige Öffentlichkeit beinahe unsichtbar. Den spektakulären Auftritt überließ er allein den Werken. Über das Privatleben des als humorvoll und neugierig beschriebenen Mannes wurde weniges preisgegeben, die Angaben über seine Vita sind dementsprechend karg und äußerlich.

Fluchterfahrungen prägten jedoch die Kindheit von Sigmar Polke. Seinen Geburtsort, das niederschlesische Oels, musste die Familie 1945 verlassen, als der Junge kaum vier Jahre alt war. Die weiteren Kinderjahre verbrachte Polke in Thüringen, bevor man sich 1953 entschloss, in den Westen, d.h. zunächst nach West-Berlin zu fliehen. Der junge Polke nahm dann 1959 bei der renommierten Werkstätte Derix in Düsseldorf-Kaiserswerth eine Glasmalerlehre auf.

Von 1961 bis 1967 schloss sich das Studium an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf an, vor allem bei Gerhard Hoehme und Karl Otto Goetz, jedoch auch bei Joseph Beuys. Bereits 1963 machte Polke gemeinsam mit Konrad Lueg, Gerhard Richter und Manfred Kuttner mit der Düsseldorfer Aktion Leben mit Pop – eine Demonstration für den Kapitalistischen Realismus auf sich aufmerksam: Eine deutsche Antwort auf die angesagte amerikanische Pop-Art. Gegenstände der Warenwelt wurden in karikierender Weise mit kunstgeschichtlichen Elementen zusammengebracht, dies unter Verwendung von allerhand banalen Materialien wie Wolldecken und Tapeten. Es war dies eine Persiflage auf die konsumorientierte Alltagskultur der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft und im Titel gleichzeitig auf den „Sozialistischen Realismus“, die offiziöse Kunstrichtung der DDR. Bereits hier zeigte sich, was ein Grundzug des weiteren Wirkens Polkes sein sollte: Die Abkehr von jedweder Ideologie oder Utopie, die kritische Hinterfragung der Vorgegebenen mit Mitteln, die von feiner Ironie bis zu sarkastischem Humor reichen. Polke erschuf dabei ästhetisch überzeugende Bildwelten, die ebenso irritieren wie faszinieren, und welche die aktuellen Diskussionen, wie seinerzeit um Informel oder Gegenständlichkeit, als belanglos erscheinen lassen.

Aufsehen erregten bald ebenso Polkes Rasterbilder mit Motiven der Alltags- und Warenästhetik wie Werbung, Comic oder Film, auch hier auf europäische Weise Anregungen amerikanischer Popkünstler wie Robert Rauschenberg, Roy Lichtenstein oder Andy Warhol weiterführend. Aus überdimensionalen farbigen Rasterpunkten zusammengesetzt wirken die Darstellungen wie Markroaufnahmen billiger Vierfarbendrucke aus Illustrierten und Zeitungen. Phantasievoll ergänzt werden sie mit malerischen und zeichnerischen Mitteln. Auch hier ist der verwendete Bildträger – ob Plüschdecke, Dekorationsstoff oder Plastikfolie – Material und Bedeutungsträger zugleich.

Indem er mit seinen Raster-, Stoff-, Wolldecken-, Streifen- und Reihenbildern der sechziger Jahre die klassische Malerei mit unkonventionellen Materialien und Techniken in Frage stellte, ihr damit gleichzeitig neue Möglichkeiten eröffnete, fand Polke rasch Anerkennung. So wurde ihm bereits 1966 der Kunstpreis der deutschen Jugend in Baden-Baden verliehen. Damals begann die Reihe jährlicher Einzelausstellungen sowie die rege Beteiligung Polkes an Gemeinschaftsausstellungen.

Polkes Kunst wurde gegen Ende der 1960er Jahre zunehmend experimenteller, zugleich nahm sie gewisse esoterische Züge an. So hielt Polke telepathische Sitzungen ab, in denen er Kontakt mit verstorbenen Künstlern aufzunehmen trachtete. Vielbeachteten Ausdruck fand dies in der im Jahre 1968 vorgelegten Mappe mit Zeichnungen und Arbeiten in Mischtechnik Höhere Wesen befehlen, in der er z.B. die sein Wesen offenbarenden Möglichkeitsformen einer Palme demonstrierte. Dass Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!, so der Titel eines von Polkes bekanntesten Gemälden dieser Zeit, verweist indes gleichzeitig auf ironische Distanz, lässt sich dieser Befehl doch als Zerstückelung des Schwarzen Quadrats Malewitschs, als humorvolle Attacke aufden radikalen Minimalismus interpretieren. Der Minimalismus war indes nur eine der vielen Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts, über die sich Polke zitierend mokierte.

Von 1970 bis 1971 wirkte Polke als Gastprofessor an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, an der er gleichfalls von 1977 bis 1979 unterrichten sollte, bevor er dort 1989 eine Professur erlangte. 1972 erfolgte ein Umzug in den Gaspelshof bei Willich am Niederrhein, bevor Polke 1978 nach Köln übersiedelte. Gleichwohl zog es ihn immer wieder in die Welt hinaus. So unternahm er ausgedehnte Reisen nach Pakistan und Afghanistan, nach Mexiko, später nach Südostasien, Papua-Neuguinea und Australien, stets auf der Suche nach neuen Mythen und Motiven, die er mit der Kamera einzufangen suchte, um sie anschließend zu verarbeiten.

Dreimal, in den Jahren 1972, 1979 und 1982, nahm er an der Kasseler documenta teil, beim erstenmal bezeichnenderweise in der Abteilung „Individuelle Mythologien“. Als einen Höhepunkt seines Schaffens wertete man das Schaupiel der wärmeempfindlichen, je nach Tagestemperatur in anderen Farben leuchtenden Bilder, die er 1986 für den deutschen Pavillon auf der 42. Biennale in Venedig schuf, und die mit dem „Goldenen Löwen“ für die beste künstlerische Leistung ausgezeichnet wurden. Auch diese Arbeit war das Ergebnis eines unermüdlichen, geradezu alchemistisch anmutenden Experimentierens mit unterschiedlichsten Materialien, von Silbernitrat und Grünspan bis Arsen und Eisenglimmer, mit Lacken und Harzen, manches hiervon seine Gesundheit angreifend.

Von den weiteren Ausstellungen seiner Werke der 1970er und 1980er Jahre seien hier nur genannt die 13. Biennale São Paulo 1975, die Ausstellung „Remingtons Museums-Traum ist des Besuchers Schaum“ im Bonner Kunstmuseum 1979, die Berliner Gruppenausstellung „Zeitgeist“ 1982, die Ausstellung „Von hier aus – Zwei Monate deutsche Kunst in Düsseldorf“ 1984, die Ausstellung „Made in Cologne“ 1988. Nationale und internationale Kunstpreise häuften sich: Will-Grohmann-Preis der Stadt Berlin 1982, Kurt-Schwitters-Preis Hannover 1984, Lichtwark-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg 1987, Internationaler Preis des Landes Baden-Württemberg für Bildende Kunst 1988. Es folgten der Lowis-Corinth-Preis der Künstlergilde Esslingen 1993, der Erasmus-Preis 1994, der Carnegie-Preis in Pittsburgh/ Pennsylvania 1995, der Kaiserring der Stadt Goslar 2000.

Neben Polkes oft großformatigen malerischen Arbeiten und Installationen sind – als keineswegs zweitrangige Werke – seine zahlreichen „Editionen“ hervorzuheben, die im Verlauf von mehr als 40 Jahren entstanden, meist Arbeiten auf Papier und Karton als Drucke, Fotografien, Fotokopien, Übermalungen etc. Mehr als 200 von ihnen gelangten als Schenkung des Sammlers Ulrich Reininghaus in die Bestände des Kölner Museum Ludwig, das sie im Jahre 2009 umfassend präsentierte.

Die 2000er Jahre waren von Überblicksausstellungen der Werke Polkes geprägt, z.T. aus den Beständen seiner eifrigen Sammler Josef Froehlich und Rainer Speck sowie vor allem Frieder Burda stammend, dessen Museum ihm 2007 eine Retrospektive widmete. Die prominenten Sammler trugen in nicht geringem Maße dazu bei, dass Polkes Arbeiten auf dem Kunstmarkt schließlich Preise im sechs- und siebenstelligen Euro-Bereich erzielten, er gemeinsam mit Gerhard Richter in den Kunst-Rankings Spitzenpositionen einnahm. Der Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen 2001, der Cologne Fine Art-Preis und der Praemium Imperiale Award in Tokyo 2002 bestätigten Polkes Geltung, zuletzt noch 2010 der Roswitha-Haftmann-Preis für sein Gesamtwerk in der Schweiz.

Der Kunstkritiker Laszlo Glozer, ein langjähriger Freund, urteilte über Polke: Was Kunst in einer plötzlich als utopielos begriffenen Zeit mitzuteilen vermag, hat Polke zielsicher formuliert.“ Dass Polke indes mehr war als ein charakteristischer Vertreter der Postmoderne, als ein alles ironisierender Dada-Erbe ohne bleibende Botschaft, zeigt sein letztes wirklich großes Werk, das er 2006 begann und 2009 bereits schwer erkrankt vollendete: Die Erneuerung der Glasfenster des Zürcher Grossmünsters. Die fünf figürlich gestalteten Glas- und sieben ornamental gehaltenen Achatfenster der evangelisch-reformierten Kirche, in denen Polkes gesamte Welt- und Lebenserfahrung, sein ganzes technisches Können aufscheinen, zeigen ein tiefgründiges christologisches Bildprogramm. Hier kehrt der Künstler gereift zu seinen Anfängen als Glasmaler zurück.

Lit.: Martin Hentschel, Die Ordnung des Heterogenen. Sigmar Polkes Werk bis 1986, Darmstadt 1991. – Russell Ferguson (Hrsg.), Sigmar Polke. Photoworks. When pictures vanish, Ausst.-Kat. Museum of Contemporary Art, Los Angeles, Zürich u.a. 1995. – David Thistlewood (Hrsg.), Sigmar Polke. Back to Postmodernity/ Tate Gallery Liverpool. Tate Gallery Liverpool critical forum series Bd. 4, Liverpool 1996. – Sigmar Polke. Die drei Lügen der Malerei, Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1997. – Anita Shah, Die Dinge sehen wie sie sind. Zu Sigmar Polkes malerischem Werk seit 1981, Weimar 2002. – Götz Adriani, Polke. Eine Retrospektive. Die Sammlungen Frieder Burda, Josef Froehlich, Reiner Speck, Ostfildern 2007. – Sigmar Polke, Editionen, hrsg. von Julia Friedrich, mit einem Text von Ulli Seegers, Museum Ludwig, Köln 2009.

Bild: Sigmar Polke, Ausschnitt aus dem Fenster der Vision des Propheten Ezechiel, Grossmünster Zürich, 2009.

Ernst Gierlich