Biographie

Ratza, Odo

Herkunft: Westpreußen
Beruf: Brigadegeneral, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen
* 26. März 1916 in Stuhm/Westpreußen
† 13. August 2002 in Siegburg

Die Kreisstadt Stuhm liegt an der Straße von Marienwerder auf halbem Wege nach Marienburg an der Nogat. Alle drei Städte sind Gründungen des Deutschen Ordens, dem früheren Landesherrn im Preußenland. Die Erinnerung an jene Zeit hatte in diesen Städten nie aufgehört. Odo Ratza, der Sohn eines Stuhmer Lehrers, besuchte in seiner Geburtsstadt die Grundschule und wechselte anschließend auf das humanistische Gymnasium in Marienburg. Die im Schatten der mächtigen Hochmeisterresidenz gelegene Schule war nach dem bedeutenden im 14. Jahrhundert 30 Jahre regierenden Hochmeister Winrich von Kniprode benannt. Auf der Fahrt mit der Eisenbahn von Stuhm nach Marienburg wurde der Fahrschüler Odo Ratza täglich mit der Ordens- und Landesgeschichte konfrontiert. Das alles prägte ihn nachhaltig, bestimmte sein Verantwortungsbewusstsein und förderte die Liebe zur Heimat.

Nach dem Abitur 1935 rief ihn ein Jahr später der Reichsarbeitsdienst in den Nachbarkreis Elbing. Dort wartete die Aufgabe, in den Nogathaffkampen neues „Land zu gewinnen“, Randteile des Frischen Haffs trocken zu legen, um landwirtschaftliche Siedlerstellen und kleine Bauernhöfe zu schaffen. Odo Ratza erinnerte sich noch nach Jahrzehnten an diese schwere Arbeit mit dem Spaten. An die Arbeitsdienstzeit schloss sich der Wehrdienst an. Odo Ratza, der bereits als Jugendlicher dem Grenzschutz in seiner Heimatstadt angehört hatte, wollte schon immer Soldat werden. Jetzt entschloss er sich Berufsoffizier zu werden. Er kam zur Artillerie. Die Ausbildung erfolgte in Königsberg Pr., Insterburg und Dessau/ Anhalt. Genau ein Jahr vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde er am 1. September 1938 zum Leutnant ernannt und damit aktiver Heeresoffizier. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Frontsoldat Odo Ratza im Osten und im Westen eingesetzt. Als Hauptmann, ausgezeichnet mit dem EK I und EK II, geriet er 1945 bis 1946 in britische Gefangenschaft. In Schleswig-Holstein fand der gelernte Soldat ein Unterkommen, gründete eine Familie, wurde Geschäftsführer eines Verbandes und war anschließend Landesangestellter. Ab 1950 betätigte er sich in Ahrensburg acht Jahre kommunalpolitisch u.a. als Kreisausschussmitglied des Kreises Storman.

Im Jahre 1958 konnte der Westpreuße Odo Ratza wieder das sein, was er gelernt hatte: Soldat. Der Artillerist trat als Generalstabsoffizier in die Luftwaffe der Bundeswehr ein, wurde in das Bundesverteidigungsministerium berufen und später Stabsabteilungsleiter im Führungsstab der Luftwaffe. Zuletzt war er bis zur altersbedingten Versetzung in den vorläufigen Ruhestand im Frühjahr 1976 als Brigadegeneral Kommandeur der Schule für das Nachrichtenwesen der Bundeswehr in Bad Ems. Seinen Altersruhesitz schuf er sich in Meckenheim-Merl bei Bonn.

Als Brigadegeneral Ratza 1976 aus dem aktiven militärischen Dienst verabschiedet wurde, wünschte ihm Generalleutnant Wust einen guten Übergang in den Ruhestand. Zugleich hatte er aber hinzugefügt: „Ich bin sicher, dass es sich dabei für Sie um keinen Ruhestand, sondern nur um eine neue Aufgabe in neuem Status handeln wird.“ Diese Vorhersage traf völlig zu.

Im Ruhestand nahm Odo Ratza seine landsmannschaftliche Arbeit auf. Er wurde Mitarbeiter im Kreisausschuss seines Heimatkreises Stuhm, 1977 Beisitzer im Bundesvorstand der Landsmannschaft Westpreußen und 1978 gewählt zum Bundessprecher als Nachfolger des damals erkrankten Bundessprechers Botschafter a. D. Dr. Felician Prill. Viele Aufgaben übernahm Odo Ratza in der Folgezeit. Er wurde 1979 Ständiger Beauftragter des Vorstandes und 1980 (bis 1993) geschäftsführender Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Bonn. Die Kulturstiftung der Landsmannschaft Westpreußen, die Erik-von-Witzleben-Stiftung, wählte ihn zum Vorsitzenden des Stiftungsrates. In diesem Amt begleitete er einsatzfreudig die Arbeit des 1975 gegründeten Westpreußischen Landesmuseums in Münster-Wolbeck. Seit 1980 war Odo Ratza Mitglied des Vorstandes, seit 1985 Vizepräsident des Ost-West-Kulturwerkes in Bonn. Dem Bundesbeirat für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen beim Bundesinnenministerium gehörte er 16 Jahre an und war in dieser Zeit Vorsitzender des Kulturausschusses. Ferner gehörte der General von 1981 bis 1994 dem Präsidium des Bundes der Vertriebenen (BdV) an, seit 1982 als Vizepräsident. Die Landsmannschaften wählten Odo Ratza zum Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft der Landsmannschaften im BdV, ein Amt, das er 15 Jahre bis 1994 ausübte. Er gehörte auch dem Stiftungsbeirat und seit 1983 dem Stiftungsrat des Ostdeutschen Kulturrates an. Elf Jahre, von 1979 bis 1990, leitete Odo Ratza die Sektion Bonn der Gesellschaft für Wehrkunde.

Diese Ämter und die damit verbundenen Aufgaben nahm der Westpreuße aus Stuhm sehr ernst. Vor allem waren es die Pflichten als Bundessprecher der Landsmannschaft Westpreußen und in der Kulturstiftung der Vertriebenen, die seine Zeit, sein Führungstalent, seine durchsetzungsfähige, zielstrebige und zugleich seine ausgleichende Geschicklichkeit in den damals politisch eher angespannten Jahren in Anspruch nahmen.

Bundessprecher Odo Ratza war die Aktivität einer leistungsfähigen Landsmannschaft Westpreußen sehr wichtig. Er besuchte die Veranstaltungen der Landesgruppen und die Treffen der Heimatkreise. Auch folgte er den zahlreichen Einladungen von Orts- und Kreisgruppen. In seiner bis 1999 andauernden langen Amtszeit – 21 Jahre – fanden zehn Bundestreffen in Hannover, Münster, Kiel, Braunschweig und Bielefeld statt und in jedem zweiten Jahr ein Kulturkongress neben alljährlich mehreren anderen Veranstaltungen, wie Heimat- und deutschlandpolischen Seminaren und kleineren Tagungen verschiedener Arbeitsgruppen.

Die Vereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit Mitteldeutschland und die politische Wende in Polen 1989/90 veränderten auch die Aufgabenfelder der Landsmannschaft Westpreußen und die ihres Bundessprechers. Sie brachten vor allem eine völlig andere Rechtslage. Dazu befragte ihn die Bonner Rundschau (Ausgabe Rhein-Sieg-Kreis) und schrieb am 26. März 1996: „Mit Enttäuschung, das gibt Ratza offen zu, hat er die Festschreibung der polnisch-deutschen Grenze im Zwei-plus-Vier-Vertrag hingenommen. ‚Das Ergebnis steht fest, auf dieser Basis müssen wir den Nachbarschaftsvertrag mit Polen mit Leben erfüllen‘, so Ratza sachlich.“

Und er tat alles, was in seiner Macht lag, um dieses „mit Leben erfüllen“ zu verwirklichen. In Mitteldeutschland wurden lands­mannschaftliche Strukturen aufgebaut und im Heimatgebiet an der unteren Weichsel Kontakte zu den wenigen dort verbliebenen Deutschen auf- und ausgebaut. Der Westpreußensprecher reiste in jedem Jahr in die Heimat und oft mehrmals. Er besuchte das Land zwischen Danzig und Bromberg, zwischen Thorn und Elbing und immer wieder Marienburg und Stuhm. Es gelang ihm, Kontakte zu polnischen Behörden, Institutionen und zu den Kaschuben herzustellen. Begegnungs- und Informationstagungen fanden im Heimatland und auch in Deutschland statt. Für die junge Generation wurden besondere Wochenendveranstaltungen durchgeführt. Ab 1992 nahmen Delegationen der in der Heimat verbliebenen und zu einer kleinen Minderheit gewordenen Landsleute an den Bundestreffen der Landsmannschaft Westpreußen und an deren anderen Veranstaltungen teil. Der enge Kontakt der Landsmannschaft Westpreußen zu diesen Menschen, die Begegnungen der Landsleute untereinander im Heimatland sowie die Pflege der deutschen Muttersprache waren ihm sehr wichtig.

Als Odo Ratza 1979 Ständiger Beauftragter und ein knappes Jahr später für 14 Jahre Vorstandsvorsitzender der 1974 errichteten Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen geworden war, bestand die Stiftung lediglich aus zwei kleinen Büros in Bonn und Stuttgart. Doch von da an ging es mit staatlicher Förderung stetig aufwärts. In einem Nachruf aus dem Jahre 2003 ist überliefert, dass es dem 1980 neuen Vorstandsvorsitzenden Ratza „auf Grund seines ungeheuren organisatorischen Geschicks und der vertieften Kenntnis behördlicher Entscheidungsabläufe“ gelang, die „Stiftung in Bonn zu einer veritablen Kulturinstitution“ auszubauen. Es konnte Personal eingestellt und z.B. Referate gebildet werden für Zeitgeschichte und politische Wissenschaften, für Öffentlichkeitsarbeit und Kunstgeschichte und für Lektorat und Periodika. Bis zu 16 Vollzeitkräfte waren in jenen Jahren tätig, darunter bis zu acht Wissenschaftler. Die 1965 vom BdV begründete Schriftenreihe Ostdeutsche Gedenktage wurde fortgesetzt und zu einer ansprechenden Buchreihe erweitert. Diese Buchreihe erscheint noch immer, ist vielen in der Kulturarbeit stehenden Mitarbeitern und besonders auch kleineren Zeitungsredaktionen eine wertvolle Quelle. Ein wichtiger Aufgabenzweig der Stiftung war die Studiengruppe für Politik und Völkerrecht mit ihren zwei wissenschaftlichen Buchreihen. Insgesamt erschienen während der Dienstzeit von Odo Ratza rd. 130 Buchpublikationen. Der Studiengruppe gehörten zahlreihe Universitätsprofessoren an, die Odo Ratza schätzten und mit ihm gerne zusammenarbeiten wollten. Der Göttinger Völkerrechtler Prof. Dr. Gottfried Zieger formulierte dies einmal so: „Manchmal habe ich mir nach einem solchen Gespräch gesagt: General Ratza – das ist ein Generalist, der den Überblick sehr genau im Kopfe hat und zahlreiche Register zu bedienen weiß, der es versteht, das Spezielle zu dem Politischen zusammenzubinden. Für den Wissenschaftler ist es dabei besonders vergnüglich, zu erleben, wie unser General inzwischen auch zu einem Völkerrechtler geworden ist.“

Eine so vielseitig tätige Persönlichkeit erhält auch Dank und findet Anerkennung. Odo Ratza erhielt zahlreiche Ehrungen wie nach 1945 u.a. diese: das spanische Luftfahrtverdienstkreuz I. Kl., die Westpreußenmedaille der Landsmannschaft Westpreußen, die Wenzel-Jaksch-Medaille des BdV. Bereits 1971 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz I. Kl. verliehen und am 15. Januar 1987 überreichte ihm Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann das vom Bundespräsidenten verliehene Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Dabei sagte der Minister u.a.: „Mit dem Verdienstorden werden nunmehr Ihre großen Leistungen auf dem Gebiet der Vertriebenenarbeit gewürdigt. Sie haben sich einer Aufgabe verschrieben, die Überzeugung, Weitsicht, Tatkraft und auch Mut erfordert, um unserem Vaterland auf diesem schwierigen Feld deutschlandpolitischer und kulturpolitischer Arbeit zu dienen. Dies sind Tugenden, die wahren Bürgersinn auszeichnen und ihrerseits eine Auszeichnung verdienen.“

Quellen und Lit.: Porträtarchiv Westpreußen, Münster. – Archivunterlagen der Kulturstiftung der Vertriebenen, Bonn. – Hans-Jürgen Schuch: Odo Ratza, in: 50 Jahre Landsmannschaft Westpreußen, Münster 1999. – Hans-Günter Parplies (Hrsg.), Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, 40 Jahre Erhaltung, Pflege und Weiterentwicklung des deutschen Kulturerbes, Bonn 2015. – Notizen des Autors.

Bild: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen

Hans-Jürgen Schuch, 2017