Ihr Vater, Graf Hermann zu Stolberg-Wernigerode, starb, als sie sechs Jahre alt war. Trotzdem hat Eleonore ihre Kindheit in Ilsenburg am Harz, wo die Familie seit 1838 das Schloß bewohnte, immer als besonders glücklich in Erinnerung behalten. Dabei war die Beziehung zu Marie Nathusius von prägender Bedeutung, und zwar sowohl im Blick auf ihre christlich-soziale Einstellung als auch im Blick auf ihre schriftstellerische Berufung. Marie Nathusius war die Frau des Begründers der Anstalten der Inneren Mission im nahe gelegenen Neinstedt. Sie war aber auch Schriftstellerin. Die junge Gräfin zu Stolberg-Wernigerode nahm sie zum Vorbild für die Hauptfigur ihrer Erzählung „Das Baragekleid“ (1854), in der sie die Begegnung von Theodora mit einem sehr viel älteren Grafen Walther schildert. Diese Erzählung fiel in die Hände des verwitweten Fürsten Heinrich LXXIV. Reuss, jüngere Linie, der sich daraufhin um die Bekanntschaft mit der jungen Frau bemühte. Im Winter 1855 verlobte sich Eleonore mit dem 37 Jahre älteren Fürsten. Sie folgte ihm auf dessen heimatliches Gut Jänkendorf, nicht weit von Niesky in der schlesischen Oberlausitz gelegen.
Ganz ohne Spannungen verlief das Leben in der neuen Umgebung nicht. Die Kinder des Fürsten aus erster Ehe fühlten sich durch die Hinwendung des Vaters zu seiner jungen Frau zurückgesetzt. Die Erbberechtigung blieb ihnen aber erhalten. Dies bedeutete, daß Eleonore und ihre Kinder von der Erbfolge ausgeschlossen waren. Eleonore selbst hat über die folgenden 31 Ehejahre einmal gesagt: „In Jänkendorf wurden Kinder und Lieder geboren.“
Kurz vor Weihnachten 1857 starb Marie Nathusius. Für Eleonore war das ein großer Verlust. Ihrer Trauer und ihrem Gottvertrauen gab sie Ausdruck in dem Silvesterlied „Das Jahr geht still zu Ende, nun sei auch still, mein Herz“, gesungen nach der Melodie „Befiehl du deine Wege“. Durch Aufnahme in das Schlesische Gesangbuch fand es weite Verbreitung. Noch heute gehört es (im Evangelischen Gesangbuch Nr. 63) zu den bekanntesten Kirchenliedern zum Jahreswechsel.
1876 starb Helene, eines von den fünf Kindern aus der Ehe von Eleonore und Heinrich LXXIV. Reuss, im Alter von elf Jahren. Diesen Schicksalsschlag nahm Eleonore zum Anlaß, sich in Zukunft verstärkt um die Jänkendorfer Kinder zu kümmern. Jede Wöchnerin erhielt eine Erstausstattung an Windeln und Kinderkleidung. Der Kirchengemeinde schenkte sie ein altes Knechtshaus mit der Auflage, es in eine Kleinkinderschule, eine Vorform unserer heutigen Kindergärten, umzubauen. Als Erzieherinnen wurden Diakonissen aus Biesnitz bei Görlitz verpflichtet. In der Schule von Jänkendorf richtete sie jährliche Weihnachtsfeiern mit einer Bescherung für die Schuljugend ein. Traugott Bachmann, später ein bekannter Missionar der Herrnhuter Brüdergemeine, hat darüber in seinen Lebenserinnerungen berichtet und festgehalten: „Diese Weihnachtsfeiern in der Schule von Jänkendorf sind der hellste Lichtblick meiner Kinderzeit.“
Anläßlich der Silberhochzeit rief das Ehepaar Reuss eine Brautbibelstiftung ins Leben, aus der jede Braut in Jänkendorf zur Hochzeit eine Bibel geschenkt bekam. Zu den großen Festen auf dem Schloß wurde das ganze Dorf eingeladen. Bedürftige konnten sich aus einer im Schloß eingerichteten Suppenküche täglich eine warme Mahlzeit abholen.
Während sich der Fürst in der Schlesischen Genossenschaft des Johanniterordens engagierte, lag die Pflege der Patronatsverpflichtungen gegenüber der Kirchengemeinde und den Gemeindepfarrern weitgehend in den Händen der Fürstin. Die sonntäglich genutzte Loge in der Ullersdorfer Kirche ist heute noch zu besichtigen. Zugleich ist es sicher kein Zufall, daß zu den Gästen des Ehepaares Reuss auch die Erbauungsschriftstellerin und Gründerin der oberschlesischen Diakonissenschwesternschaft Friedenshort, Eva von Tiele-Winckler (1866-1930), gehört hat.
1886 starb Fürst Reuss und fand sein heute noch vorhandenes Grab in Jänkendorf. Eleonore zog sich indes nach Ilsenburg, nunmehr ihr Witwensitz, zurück. Jänkendorf hat sie nie mehr besucht. Sie veröffentlichte weiterhin christliche Gedichte und Lieder, aber auch Biographisches. Ihre Lieder waren vor allem im Pietismus beziehungsweise in der Gemeinschaftsbewegung geschätzt. Gern gesungen wurden: „Ich bin durch die Welt gegangen“, „Heimgehen, selig werden, o wunderbares Wort!“, „Es ist vollbracht! Das Leiden ist erfüllt“, „Es geht so leicht durchs Erdenleben“ und „Nun hab ich dich, hier hast du mich“. In Ilsenburg ist Eleonore Fürstin von Reuss im Alter von 68 Jahren gestorben und unter großer Beteiligung der Bevölkerung auch beigesetzt worden.
Lit.: HEKG II/1 S. 286. – NDB 4, S. 438. – DLL 3. Aufl. 12, Sp. 1060. – DBE 3, S. 83 f. – DBA, Blatt 1026, Nr. 1. – Arno Büchner: Das Kirchenlied in Schlesien und der Oberlausitz (Das Evangelische Schlesien VI/1), Düsseldorf 1971, S. 259 f. – Friedrich Wilhelm Bautz: BBKL I (1975), Sp. 1485-1486. – Gunter Kennel: HEG 2: Komponisten und Liederdichter, Göttingen 1999, S. 252 f. – Wilhelm Nelle: Art. Eleonore Fürstin Reuß, in: Fürstliche Sängerinnen, in: Unsere Kirchenlieder, Hamburg 1905, S. 635-640. – Elisabeth Friedrichs: Die deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1981, S. 249. – Esther v. Kirchbach: Eleonore Fürstin Reuß, in: Begegnungen 3, Stuttgart 1940, S. 5-35. – Nachdruck: Andreas Holzhey (Hrsg): Geschichte und Geschichten aus dem Kirchenkreis Niesky 5, 2002. – Andreas Holzhey: Dichtung und soziales Engagement. Eleonore, Fürstin Reuß, in: JSKG 75/1996 S. 85-92. – Christian-Erdmann Schott: Wiederherstellung und Wirken des Johanniterordens in Schlesien 1852 bis 1926, in: Ders. (Hrsg.): Festschrift zum 150jährigen Jubiläum der Schlesischen Genossenschaft des Johanniterordens, Würzburg 2003, S. 75.
Werke: Gesammelte Blätter von El, Gedichte 1. Sammlung, Berlin 1867, 2. Aufl. Berlin 1882 – 2. Sammlung, Berlin 1880 . – Die sieben Sendschreiben. Sanct Johannis des Theologen siebenfarbiger Regenbogen, wie er sich abspiegelt im Thau auf den Blumen und Halmen der Au, Lieder, Berlin 1870, 2. Aufl. Kaiserswerth 1904 – Friederike, Gräfin von Reden, geb. Freiin von Riedesel zu Eisenbach. Ein Lebensbild nach Briefen und Tagbüchern, 2 Bde., Berlin 1888, 2. Aufl. Berlin 1897 – A pietist of the Napoleonic wars and after. The life of Countess von Reden, London 1905 – Adolf von Thadden-Trieglaff, Ein Lebensbild gezeichnet nach Erinnerungen seiner Kinder und Freunde, Berlin 1890, 2. Aufl. Berlin 1894 – Philipp Nathusius’ Jugendjahre. Nach Briefen und Tagebüchern, Berlin 1896 – Phillipp von Nathusius, Das Leben und Wirken des Volksblattschreibers, Neinstedt a.H. 1900 – Aus herbstlicher Zeit, Gedichte, Berlin 1901.
Bild: Privatbesitz der Familie Reuß – vermittelt durch Sup.Dr. Andreas Holzhey.
Christian-Erdmann Schott