Biographie

Roth, Joseph

Herkunft: Galizien u. Bukowina
Beruf: Schriftsteller
* 2. September 1894 in Brody/Galizien
† 26. Mai 1939 in Paris

Mit einem Selbstporträt gratulierte Roth 1930 seinem Verleger Gustav Kiepenheuer zum 50. Geburtstag: „Er ist immer jung, ich immer alt. Er wird fünfzig, ich werde zweihundert.“ Und der Verleger wußte die Melancholie, welche aus dieser Unterscheidung sprach, an seinem Autor zu schätzen. Dessen Arbeit an seinem erfolgsträchtigsten Roman, Radetzkymarsch, begleitete er mit dem Zuspruch: Roth, Sie müssen noch trauriger werden! Als einfühlsamen Beobachter und phantasiereichen Rollenspieler charakterisierten ihn seine Freunde, allen voran Hermann Kesten, der in zwei Werkausgaben in der Nachkriegszeit den Ruf des einstigen Starjournalisten aus der Weimarer Republik und des international bekanntgewordenen Erzählers wiederherstellte. „Ich habe viele Meilen zurücklegen müssen“, heißt es in Roths Gratulationsbrief zu Beginn. „Zwischen dem Ort, in dem ich geboren bin und den Städten, Dörfern, durch die ich (…) komme, um in ihnen zu verweilen, und in denen ich nur verweile, um sie wie zu verlassen, liegt mein Leben, eher nach räumlichen Maßen meßbar als nach zeitlichen.“ Und tatsächlich ist er selbst, seit dem Militärdienst im Ersten Weltkrieg ein immer stärkerer Alkoholiker, keine fünfzig Jahre alt geworden. Erfüllt jedoch war dieses ruhelose Leben von unentwegtem journalistischen Engagement und der besessenen literarischen Umsetzung seiner Eindrücke und Erlebnisse als Reporter und Feuilletonist sowie seiner dichterischen Pläne als Romancier.

Szwaby gab er gelegentlich als seinen Geburtsort an, wobei er die Bezeichnung aufgriff, welche die Straßenzüge einstiger deutscher Kolonisten in dem „winzigen Nest in Wolhynien“ von der Bevölkerung erhalten hatten. Den jüdischen Vater, der aufgrund einer Geisteskrankheit schon vor der Geburt des einzigen Sohns die Familie verlassen hatte, dichtete Roth in einen österreichischen Schlawiner um, und mit der Charakterisierung seiner Mutter vervollständigte er das Panorama der ethnischen Vielfalt, die seine Jugend in der Kleinstadt an der Grenze zwischen der K. u. K.-Monarchie und dem Zarenreich bestimmte. Eine „Jüdin von kräftiger, erdnaher, slawischer Struktur“ sei sie gewesen und habe „oft ukrainische Lieder“ gesungen. Was ihm sein Andenken in der Sowjetunion sicherte, zu der Brody nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte, war Roths unnachgiebige publizistische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Und so ist er als Antifaschist und Schriftsteller bis heute unter den Köpfen der berühmten Söhne der Stadt auf einem Denkmal verewigt, das gegenüber dem einstigen Kronprinz-Rudolf-Gymnasium errichtet wurde, von dem sich die Träume und Wünsche des Abiturienten und Deutschprimus auf die Metropolen und Kulturzentren im Westen richteten.

Das Jahr 1914, in dem er sein Germanistikstudium in Wien aufnahm, markiert mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs den nie verkrafteten Lebens-Einschnitt von Roths Generation, der „Verlorenen“, wie sie im Rückblick der zwanziger Jahre sich selbst nannte, viele von ihr unter den Nachbildern des Grauens nicht mehr zur Formalität des bürgerlichen Lebens zurückfanden. Der entlassene und stellungslose Offizier bildet die Hauptfigur von Roths erstem Romanversuch, des FragmentsDas Spinnennetz (1923); mit dem orientierungslosen Heimkehrer und dem deklassierten Kriegskrüppel beschäftigen sich die Romane Hotel Savoy und Die Rebellion (beide: 1924); Die Flucht ohne Ende (1927), auf der von Osten nach Westen, von der Russischen Revolution bis zur kapitalistischen Konjunktur der goldenen zwanziger Jahre satirisch die jeweiligen Wertvorstellungen gemustert werden, beschließt Roth mit der klassischen Formel für den geschilderten Generationsvertreter: „Er hatte keinen Beruf, keine Liebe, keine Lust, keine Hoffnung, keinen Ehrgeiz und nicht einmal Egoismus. So überflüssig wie er war niemand in der Welt“.

Das Studium in Wien hatte Roth nach dem Krieg nicht mehr fortgesetzt, vielmehr baute er seine auch während des Militärdienst weiterlaufenden publizistischen Versuche aus und wurde 1915 Mitarbeiter der neugegründeten Wiener Tageszeitung Der Neu Tag. Ihr Redaktionskollegium, zu dem unter anderen Alfred Polgar zählte, wurde seine feuilletonistische Schule, mit deren Rüstzeug sich Roth nach der Einstellung des Blattes im Jahr danach auf die publizistische Szene Berlins wagte. Und Jahr für Jahr gewann er als sozialkritisch der linksbürgerlichen Intelligenz verpflichteter Autor an beruflicher Geltung, war 1921 Mitarbeiter am Berliner Börsen-Courier,  veröffentlichte 1922 erstmalig im Vorwärts und brachte 1923 sein erstes Feuilleton in der Frankfurter Zeitung unter, die ihn zwei Jahre später zu ihrem Korrespondenten in Paris ernannte.

In Fortsetzungen der Tageszeitungen, für die er seine Reisberichte, Essays, Reportagen, Rezensionen und Glossen schrieb, erschienen gleichzeitig Romane und Erzählungen, dominiert wie die journalistischen Texte von dem zweiten großen Thema jener Zeit der Wandlung einer Ständegesellschaft in die moderne Massengesellschaft. Wie die kleinen Leute darauf reagierten, wie sie bis in den Tod um ihren Status kämpften, was Franz Werfel in seinem Tod des Kleinbürgers grell veranschaulichte, das erregte die poetische Teilnahme Roths und schlug sich gleichzeitig in ironisch-distanzierter Beschreibung nieder: als bilderreicher epochaler Kleinbürger-Roman bleibt Zipper und sein Vater (1928) ebenso literarisch wie filmisch noch zu entdecken. Die Hinwendung zu einer doppelgesichtigen K. u. K.-Nostalgie, die das populäre Bild von Joseph Roth heute prägt, ist dem ungeahnten Erfolg faschistischer Politik und der Ohnmacht zuzuschreiben, mit der die sozialistischen Bewegungen ihr gegenüber standen. Das Italien Mussolinis, das er bereiste, erschien für Roth Begriffe von Menschenwürde ebenso barbarisch wie die Sowjetunion Stalins, ganz zu schweigen von Hitlers Deutschland, gegen dessen Heraufdämmern er die Erinnerung an den Vielvölkerstaat mobilisierte, eine labile und schließlich gescheiterte Staatenordnung gewiß, aber im Bestand ihrer Lebensweite unendlich vorzuziehen der Hölle ideologisch gleichgerichteter Diktaturen, die dem 20. Jahrhundert Der Antichrist (1934) beschert haben mußte. Die dichterische Abwendung jedoch von Zeitgeschichte und Zeitroman, die mit der Ausarbeitung heimatgeschichtlicher und historischer Sujets in den Romanen Hiob (1930) und Radetzkymarsch (1932) den Erzähler Roth zum internationalen Erfolgsautor machte, war keineswegs mit politischer Resignation und Verstummen in der Tagespublizistik verbunden. Entschieden trennte er sich nach der Machtübernahme von seinen deutschen Arbeitgebern und wurde sich auch dadurch seines Status als Österreicher und Jude schärfer bewußt als zuvor. Mit der französischen Exilgruppe der österreichischen Legitimisten zu sympathisieren und Anhänger des jungen Otto von Habsburg zu werden, war weder ein Akt von politischem Obskurantismus, wie es die einstigen Freunde von der Linken beurteilten, noch ein Zeichen von alkoholisiertem Emigrantentum, wie Thomas Mann glaubte, es Roth abmerken zu müssen.

Roths Leben und Schreiben in Paris, die Mitarbeit an der Pariser Tageszeitung der deutschen Emigranten und der Österreichischen Post der Legitimisten sicherte ein österreichischer Paß ebenso wie die Reisen zu den Amsterdamer Verlagen, die ab 1933 seine Bücher druckten: Tarabas, ein Gast auf dieser Erde (1934) und Die hundert Tage(1935) – beide die Hybris und den Fall von Militärdiktatoren umkreisend, einmal in der Person eines polnischen Garnisonskommandanten, das andere Mal in der Person Napoleons, der die Wiedereroberung der Macht versucht. Erkennbar auch der Zeitbezug in dem Agentenroman Beichte eines Mörders, er-, zählt in einer Nacht (1936), der im russischen Emigrantenmilieu nach dem Ersten Weltkrieg spielt, während die letzten Stoffe des Erzählwerks aus der Geschichte oder der Gegenwart Österreichs gewählt sind und das Untergangsthema variieren: Das falsche Gewicht (1937) den Identitätsverlust und schäbigen Tod eines Beamten fern an der Grenze der Monarchie, Die Kapuzinergruft (1938) die Illusionen und das Ende der Ersten Republik und Die Geschichte von der 1002. Nacht (1939) im kaiserlichen Wien ein Netz sozialer Verstrickungen, in dem Gedankenlosigkeit und Begierden, Gutmütigkeit und Gewinnsucht die Personen wechselweise zu Tätern wie zu Opfern transformieren.

Den ärmlichen Umständen, denen der von Stefan Zweig unterstützte, einst hochdotierte Publizist nach der Abschnürung vom deutschen Buch- und Zeitungsmarkt überantwortet war, hat Roth literarisch ein Denkmal gesetzt, in dem er sich ironisch selbst porträtierte: im Bild des Clochards seiner Erzählung Die Legende vom heiligen Trinker (1939). Nach Österreichs Anschluß war er bei aller materiellen Misere auch politisch ein Heimatloser geworden. Sein Leben endete im Frühling des nächsten Jahres im Pariser Hospital Necker, und sein Grab liegt auf dem Friedhof Thiais bei Paris.

Lit.: Joseph Roth: Werke. Bd. I – VI, Köln und Amsterdam 1989 – 1991. – Joseph Roth: Briefe 1911-1939. Köln und Berlin 1970. – Joseph Roth: Aber das Leben marschiert weiter und nimmt uns mit. Der Briefwechsel zwischen Joseph Roth und dem Verlag De Gemeenschap 1936 – 1939. Köln 1991. – David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Gekürzte Fassung, Köln 1993 (mit aktualisierter Auswahlbibliographie).