Hans Schmidt entstammte dem für die deutschbaltischeGeistesgeschichte typischen Literatenstand, als Sohn des Pädagogen Gustav Schmidt und der Amalie geb. Lenz. Seine erste musikalische Ausbildung erhielt er bei dem Musiklehrer Adolph Mumme in Fellin. Mit dem als Sänger berühmt gewordenen Raimund v. Zur Mühlen besuchte er die von seinem Vater gegründete Schmidtsche Anstalt in Neu-Tennasilm. Von 1875 bis 1878 studierte er am Leipziger Konservatorium bei Ernst Wenzel, Karl Piutti, Hermann Kretzschmar, Carl Reinecke, und Salomon Jadassohn.
1878 begleitete er Zur Mühlen bei dessen Rigaer Debut, worauf zahlreiche gemeinsame Konzerte in Deutschland und in den baltischen Landen folgten. Er ging dann nach Berlin, wo er Lehrer im Hause Joachim wurde und an der Akademie der Tonkunst bei Friedrich Kiel seine Kompositionsstudien fortsetzte. Seine Lieder op. 9 hatte er der angesehenen Sängerin „Frau Amalie Joachim in hoher Verehrung“ gewidmet. Die krankhafte Eifersucht Joseph Joachims war der Grund, warum Schmidt seine Hauslehrerstelle bald aufgab. Angemerkt sei, daß Schmidt später, über die Saison 1892/93, mit Amalie Joachim eine ausgedehnte Konzertreise unternahm, welche durch ganz Europa, auch in die baltischen Lande führte.
Im Hause Joachim machte er die Bekanntschaft von Johannes Brahms, die er bei seinem Landsmann, dem Brahmsfreund Julius Otto Grimm, in Münster erneuern konnte. Schmidt wurde von Grimm zu seinen in Münster veranstalteten Cäcilienfesten herangezogen, auch als Begleiter eigener Lieder. Das Interesse von Brahms für sein Talent bewog ihn, nach Wien zu übersiedeln, wo er bei Emil Smietansky, jenem von Brahms wegen seines Ernstes besonders geschätzten Pianisten und dem bekannten Musikschriftsteller Martin Gustav Nottebohm, weiteren Unterricht erhielt. In Wien begann er auch eine Tätigkeit als Musikkritiker für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften.
Nach zweijährigem Aufenthalt in Wien ging er nach Frankfurt, wo er im Hause Schumann und Stockhausen verkehrte. Er ging in seine baltische Heimat zurück, übernahm 1883 die Organistenstelle in Arensburg auf der Insel Oesel und war als Musiklehrer tätig. Seit 1885 lebte Schmidt dann in Riga, wo er Musikreferent der Rigaschen Zeitung wurde, Musikunterricht erteilte und ein gefragter Klavierbegleiter von in Riga gastierenden Künstlern war, auch leitete er den Musikverein Crescendo. Nach dem 1. Weltkrieg unterrichtete er bis zu seinem Tode an dem 1919 gegründeten Lettischen Konservatorium Hauptfach Klavier.
Schmidt war über Jahrzehnte die musikalische Autorität des Rigaer Musiklebens. Er hat durch seine Arbeit als Kritiker sowohl den aufkommenden lettischen Komponistengenerationen, als auch der letzten deutschbaltischen Komponistengeneration (Hans v. Dercks, Walter Freymann, Alexander Maria Schnabel) einfühlsam den Weg gewiesen. Anteilnehmende Nachrufe der damals führenden lettischen Komponisten (Alfrēds Kalņiuš, Emîlis Melngailis und Jâzeps Vîtols) belegen die Wertschätzung von lettischer Seite. Freundschaftlich verbunden war er Monica Hunnius, in deren Memoiren-Büchern Schmidt eine wichtige Gestalt ist. Sie hat ihm, zusammen mit R. v. Zur Mühlen, ihr bekanntestes Buch „Mein Weg zur Kunst“ gewidmet.
Schmidts kompositorisches Schaffen galt nahezu ausschließlich dem Lied nach eigenen Gedichten, das seine Vorbilder im veredelnden Volkston eines Schumann und Brahms suchte. Sein Liedschaffen war zu seiner Zeit nicht unbekannt und fand in einer umfangreichen Sammlung (50 Lieder und Gesänge, 2 Bd.) und in Einzelausgaben mit zum Teil mehreren Auflagen, eine gewisse Verbreitung. Seine Hirtenweise „Das war zu nächt’ger Stunde“ nach einem estnischen Motiv war für viele Deutschbalten zu einem Heimatlied geworden. Die Ausdrucksbreite seiner Lieder ist groß, zwischen dem nordischen Lied, dem Feinsinnigen und Volksliedhaften finden sich aber auch Bezüge zum leichteren Wiener Lied der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Außerdem hat er noch einige Violin- und Klavierstücke veröffentlicht.
Seine dichterische Veranlagung, die ihn als typischen Vertreter der deutschbaltischen Liedschule ausweist, ist auch in einer Gedichtsammlung (Mitau 1887) zur Geltung gekommen. Durch seine zahlreichen Übersetzungen von Liedern aus dem Russischen, Lettischen und Norwegischen findet sich sein Name noch heute in Gesamtausgaben (u.a. Tschaikowsky-Romanzen, Chopin- und Grieg Lieder), ebenso übersetzte er Glinkas „Ein Leben für den Zaren“. Unvergänglich wurde sein Gedicht Sapphische Ode, das neben weiteren Schmidtschen Gedichten von Brahms vertont wurde. U.a. haben auch Richard Heuberger, Arno Kleffel, August Naubert und Eduard Schütt Gedichte von ihm vertont.
Werke: Lieder und Gesänge nach eigenen Texten: Acht Kinderlieder op. 1. – Sechs Lieder op. 2. – Weisen fremder Völker mit hinzugedichtetem Text op. 3. – Acht Liebeslieder op. 5. – Vier Duette f. Mezzo-Sopran u. Alt op. 6. – Ländliche Lieder op. 7. – Fünf Lieder op. 9. – Holder Abendschein und andere Lieder op. 10. – Lieder und Romanzen op. 11. – Hirtenweise „Das war zur nächt’ger Stunde“ gedichtet und über ein estnisches Motiv komponiert op. 11. – Neue Reime und Weisen op. 13. – Vier Lieder op. 14. – Zwei Lieder op. 15. – Zahlreiche Aufsätze in Zeitschriften u. Zeitungen; Gedichte u. Übersetzungen: André Offenbach: Die letzten Menschen. Ein Sommertagstraum. Die Schatten. Drei Märchen in Versen (E. Behre Mitau 1887); Übersetzungen von Gedichten aus dem Russischen, Lettischen u. Norwegischen, auch zu fremdsprachlichen Vokalkompositionen.
Lit.: Div. Musiklexika, Brahms-Literatur, Monica Hunnius: Mein Weg zur Kunst, Aus Heimat und Fremde, Heilbronn 1924 und 1928, div. Kap. – Nekrolog: Jahrbuch des Baltischen Deutschtums, Riga 1925, S. 121. – Alfred Frey: Begegnungen mit baltischen Prominenten H. Schmidt, in: Baltischer Almanach 1930. – Robert Nernried: Der Dichter von Brahms „Sapphischer Ode“. Unbekanntes über H. Schmidt. Mit ungedruckten Briefen des Dichters, in: Unterhaltungsblatt, Beilage zur Deutschen Allgemeinen Zeitung 11.8.1933. – Ernst v. Mensenkampff: R. v. Zur Mühlen und H. Schmidt, in: Balt. Monatsschrift, Jg. 1937, Riga. – E. v. Mensenkampff: Menschen und Schicksale aus dem alten Livland, Tilsit/Leipzig/Riga 1943, S. 177ff. – Janis Torgans: H. Schmidt, Dichter der Sapphischen Ode. Seine Bedeutung als Musiker und Mensch, in: Brahms-Studien, Hamburg 1990, Bd. 8, S. 71ff., Lettische Version: Riga 1997. – Max Kalbeck: J. Brahms, III, 2. HalbBd. 1881-1885, 2. Aufl., Berlin 1913, S. 299, 333, 338, 526. – H. Scheunchen: Lexikon deutschbaltischer Musik, Wedemark-Elze 2002 mit Werkverzeichnis und weiterer Literatur.
Bild: E. v. Eggert/Riga, Private Ostdeutsche Studiensammlung.
Helmut Scheunchen