Christian Heinrich Spieß stammte aus einem evangelischen Pfarrhaus. Er besuchte das Gymnasium in Freiberg, wandte sich dem Schauspielerberuf zu und fand 1774 als Akteur und Theaterdichter Anschluß bei der Wahr’schen Bühne, mit der er unter anderem in Salzburg, Preßburg sowie auf dem Schloß der Esterhazy in Eisenstadt gastierte. 1779 ging er mit seinem Prinzipal Karl Wahr an das Prager Kotzentheater, dessen Leitung dieser übernommen hatte. Berühmt machten ihn seine Trauerspiele, beispielsweiseMaria Stuart (Uraufführung 1784 am Wiener Nationaltheater) und vor allem das RitterschauspielKlara von Hoheneichen (Uraufführung Prag, Spielsaison 1791/ 92), das in der Nachfolge von GoethesGötz das Publikum in ein märchenhaftes Mittelalter versetzte. Dieses Werk wurde an fast allen deutschen Bühnen aufgeführt, auch unter Goethe am Weimarer Hoftheater. Nachdem sich die Theatergruppe 1784 aufgelöst hatte, trat Spieß 1785 in den Dienst des Grafen Caspar Hermann von Künigl auf Schloß Bezdiekau. Hier blieb er bis zu seinem Tod und hatte Muße zu literarischer Produktion, insbesondere von Schauerromanen, die seinerzeit großen Anklang fanden.
Neben Karl Gottlob Cramer (1758-1817;Hasper a Spada, eine Sage aus dem 13. Jahrhundert, 1792-1793), Johann Friedrich Ernst Albrecht (1752-1814;Lauretta Pisana oder Leben einer Buhlerin, 1789), Karl Grosse (1768-1847;Der Genius. Aus den Papieren des Marquis C. von G., 1791-1794) und Jean Paul (1763-1825) zählte Spieß am Ende des 18. Jahrhunderts zum “Direktorium der fünf Lieblingsschreiber Deutschlands”. Von seinen zahlreichen Zauber-, Geister- und Ritterromanen soll Das Petermännchen. Geistergeschichte aus dem 13. Jahrhundert (2 Bde., 1791/1792) genannt werden. Das Werk war, wie auch andere Erzählungen von Spieß, zunächst in Fortsetzung in der ZeitschriftApollo vorabgedruckt worden, die der Kriminalschriftsteller August Gottlieb Meißner (1753-1807;Kriminalgeschichten, 1778) in Prag herausgab. Mit dem Petermännchen knüpfte Spieß zum einen an die 1764 in England entstandene Gattung der “Gothic novel” (Horace Walpole, The castle of Otranto, deutsche Ausgabe 1794) und zum anderen an das Motiv des Teufelsbündnisses des Doktor Faust an. Der Held, Rudolf von Westerburg, verführt nicht nur unschuldige Mädchen, ermordet auch mehr als siebzig (!) Personen. Dafür wird er dann vom Beelzebub in der Luft zerrissen. Dieser Roman erlebte wegen der detaillierten Schilderung mittelalterlicher Brutalität wiederholt Neuauflagen; er wurde auch dramatisiert und in Wien allein vierundvierzigmal aufgeführt.
Der Roman Der alte Überall und Nirgends (1792-1793), in dem ein Büßer von seinen Zweifeln an Gottes Gerechtigkeit erlöst wird, verbindet Rittertum und Geisterwesen. Ein Mensch, der seine eigene Bestimmung nicht erkennen kann, stürzt blindlings ins Verderben, da er sich von seinen Leidenschaften treiben läßt. Am Ende jedoch kann er das Böse in sich besiegen. In seinen SammlungenBiographien der Selbstmörder (4 Bde., 1786-1789),Biographien der Wahnsinnigen (4 Bde., 1795-1796, Auswahl und Nachwort von Wolfgang Promies, 2. Auflage 1976) und Meine Reisen durch die Höhlen des Unglücks und Gemächer des Jammers (4 Bde., 1796) schildert Spieß, wie unglückliche Bürger durch geringfügige Vergehen, Leidenschaften oder äußere Umstände ins Verderben geraten, ein Schicksal, das letztlich jeden treffen kann, wobei er die moralische Abschreckung seiner Beispiele dadurch betont, daß er sie als authentische Lebensläufe ausgibt.
Spieß schrieb neunzehn Romane, die in dreiundvierzig Bänden erschienen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren sie noch so beliebt, daß 1840 und 1841 in Nordhausen eine elfbändige Ausgabe seiner Sämtlichen Werke und zur selben Zeit in Nürnberg seine Ausgewählten Schriften in zwanzig Bänden veröffentlicht werden konnten.
Lit.: Allgemeine Deutsche Biographie. – Killy Walther (Hg.:) Literaturlexikon Bd. 11. 1991. – Zondergeld, Rein A. u. Holger E. Wiedenstried: Lexikon der phantastischen Literatur. 1998. – Quelle, Charlotte: Christian Heinrich Spieß als Erzähler. Diss. Leipzig 1925. – Skalitzky, Sepp: Christian Heinrich Spieß. Ein Schauerdichter und sein Schicksal. 1934. – Sichelschmidt, Gustav: Liebe, Mord und Abenteuer. Eine Geschichte der deutschen Unterhaltungsliteratur 1969.
Harro Kieser