Als Sohn des Ältermanns der Großen Gilde, Hinrich Stahl († 1632), und der Margaretha zur Mühlen etwa 1599 in Reval geboren, wuchs der junge Heinrich in der estländischen Hauptstadt auf und besuchte hier zunächst die Stadtschule. Der Rektor Heinrich Vestring, der die Schule wenige Jahre zuvor mit einer neuen Ordnung ausgestattet und zu neuem Ansehen gebracht hatte und nun Prediger an St. Olai und St. Nikolai war (im Jahre 1626 dann auch als Superintendent zum höchsten kirchlichen Würdenträger der Stadt wurde), nahm den Knaben für ein Jahr bei sich auf und erteilte Privatunterricht. Zusammen mit dem Bürgerssohn Ludwig Dunte reiste Stahl dann nach Rostock, wo beide im Juni 1617 an der Universität immatrikuliert wurden. Rostock war die von den Revalern in dieser Zeit meistbesuchte Universität, hierher bestanden enge Verbindungen. Ausgestattet mit einem dreijährigen Stipendium der schwedischen Regierung ab 1618 machte Stahl anscheinend gute Fortschritte. Schon 1619 disputierte er öffentlich unter dem Praeses Johannes Olthoff in Logik. Den Druck der Disputation, der auch zwei Gratulationsgedichte vom Praeses und dem Rostocker Freund Jonas Richter enthält, widmete er einigen Bürgermeistern, Ratsherren und verwandten Predigern und Bürgern Revals. In der Heimat beobachtete man die Fortschritte in den Studien offensichtlich und hoffte, den jungen Mann nach dem Studium für ein Predigtamt in der Stadt gewinnen zu können. Mit dem von 1621 bis 1623 gewährten Stipendium der Stadt verpflichtete sich Stahl dann auch zu einer späteren Anstellung in Reval. So wechselte der Student 1621 an die Universität Wittenberg, wo er nun ab dem 19. November nachweislich Theologie studierte und unter den Praesides Balthasar Meisner und Jacobus Martinus De lege Deiund De Peccato Pertinentium disputierte. Durch eineDissertatio de quaestione, an Moscovitae Christiani dicendi sint?erwarb er am 24. September 1622 den Magistergrad. Daraufhin reiste Heinrich Stahl wieder nach Rostock, wo er am 25. März 1623 abermals in der Matrikel auftaucht. Aber schon bald darauf, am 1. Mai des Jahres, ließ er sich in Greifswald immatrikulieren, um die Studien fortzusetzen. Da das Stipendium seiner Heimatstadt nun jedoch nicht mehr verlängert wurde und er vielmehr an seine Verpflichtung gegenüber der Stadt erinnert wurde, trat er die Rückreise an und traf am 27. August 1623 in Reval ein. Im Testament des Vaters, das in diesem Jahr aufgesetzt wurde, erhält der studierte Sohn das gesamte Vermögen.
Dem Anspruch des schwedischen Landesherrn durch das gewährte Stipendium folgend, erhielt Stahl am 5. September 1623 die Anstellung als Pastor von St. Petri und St. Matthäi im estländischen Jerwen. Während der großen estländischen Kirchenvisitation durch Johann Rudbeck 1627 zum Propst von Jerwen ernannt, gehörte er ab 1629 auch dem Domkonsistorium an. Die Stadt gab jetzt ihre Ansprüche an den Prediger auf, hatte man doch schon vor 1629 beschlossen, ihn wegen seiner errores juvenalesnicht in der Unterstadt anzustellen. In das wierländische Pastorat St. Katharinen wurde Stahl 1633 berufen und erhielt sogleich das Amt des Propstes von Wierland, blieb aber gleichzeitig Propst von Jerwen. Aus dieser schon herausragenden Position führte der nächste Amtswechsel 1638 in das landeskirchliche Zentrum in der Revaler Oberstadt, wo er jetzt als Dompastor, Propst von Harrien undAssessor Consistorii primariusneben dem im selben Jahr eingeführten Bischof der zweitwichtigste Mann in der estländischen Kirche war. Er wurde zu einer Leitfigur des estländischen Gelehrtentums und trat speziell als Führer der Landgeistlichkeit auf, der von einem Landrat sogar spöttisch als „Abgott der Priester“ bezeichnet wurde.
Hatte sich sein Name bereits bei der Wahl des estländischen Bischofs auf der Liste der zehn vorgeschlagenen Kandidaten befunden, so war dies vor allem auf seine Schriften zurückzuführen, die sämtlich der Glaubensvermittlung in estnischer Sprache gewidmet waren. Ein beachtliches Programm hatte Stahl sich vorgenommen und in der ersten Publikation, dem 1632 als erster Teil des Hand- und Hausbuches für die Pfarrherren und Hausvätererschienenen Katechismus Luthers, angekündigt: ein Gesangbuch, die gewöhnlichen Evangelien und Episteln, eine Laienpostille zu den Evangelien und Episteln der Sonn- und Feiertage und zur Passion sowie Gebete. Fast alle diese Schriften sind dann in den folgenden Jahren erschienen: Die Teile zwei bis vier des Handbuches 1637-1638 in deutsch-estnischem Paralleldruck mit einem Gesangbuch, Collecten und Praefationen (= 2), Evangelien und Episteln samt Passion (= 3), Psalmen Davids, Gebeten, Gewissensfragen, Anleitung zum Umgang mit Schwermütigen, Angefochtenen, Kranken, Sterbenden und Übeltätern, Texte zu Hochzeits-, Tauf- und Leichenpredigten (= 4). Zwischendurch legte Stahl die erste gedruckte estnische Grammatik mit einem kleinen Vokabular, die Anführung zu der Estnischen Sprach (Reval 1637) vor, die anders als die meisten Grammatiken dieser Zeit in deutscher Sprache verfasst war. Neben einigen kleineren Gelegenheitsgedichten folgten 1641 eine Leichenpredigt und der erste Teil der Postille, der Winterteil des sogenanntenLeyenspiegels, der als schönstes Druckwerk der Revaler Offizin Heinrich Westphals gilt. Der Sommerteil wurde – allerdings nicht mehr komplett – erst im Jahr 1649 gedruckt; Stahl war mittlerweile mit anderen Dingen befasst und hatte seine Beschäftigung mit der estnischen Sprache aufgegeben.
Denn am 16. Juli 1641 hatte er den Ruf auf die neu errichtete Superintendentur für Narva, Ingermannland, Karelien und (bis 1651) Allentacken erhalten, was nicht zuletzt auf sein gutes Verhältnis zum Reichskanzler Axel Oxenstierna zurückgeführt werden kann, den er mehrfach in Briefen und Buchwidmungen ausdrücklich als seinen Gönner bezeichnete. Im späten Herbst des Jahres siedelte Stahl nach Narva über und reformierte im Auftrage Königin Christinas die kirchlichen Strukturen, errichtete insbesondere ein Konsistorium und eine schwedische Schule und wandte sich in zahlreichen gedruckten Rundbriefen an die Pfarrer. Außerdem veranstaltete er Synoden, für die gedruckte Disputationen zu theologischen Fragen erschienen. Aus den Schriften des schwäbischen Theologen Matthias Hafenreffer (1561-1619), die in Schweden gelehrt wurden, stellte Stahl einenNucleus Hafenrefferianus (1649) zusammen. Darüber hinaus legte er 1644 bereits einen schwedischsprachigen KatechismusFörnufftennes Miölk vor. Wie Stahl sich zuvor ganz dem Aufbau der estländischen Kirche und des estnischen Kirchenschrifttums gewidmet hatte, so wandte er sich nun also Ingermanland und dem Schrifttum in der schwedischen Sprache zu, die er jetzt eigens erlernte. Auch seine Korrespondenz führte er zunehmend auf Schwedisch.
1646 verstarb seine erste Ehefrau Dorothea Eeckholt (*1594), die Stahl 1624 in Reval geheiratet hatte. Von den aus dieser Ehe hervorgegangenen elf Kindern überlebten fünf Söhne und zwei Töchter die Mutter. Die zweite Frau, Anna Sommer (*1623), heiratete Stahl am 1. Juni 1647 auf seinem Hof Errinal in Estland. Sie gebar sechs Kinder, von denen bei ihrem Tod 1655 noch zwei Töchter und ein Sohn lebten. Die Ehe mit seiner dritten Frau, Anna Torwigge, die er vermutlich im Frühjahr 1656 einging, währte nur kurz, denn am 7. Juni 1657 starb Heinrich Stahl – nebst einem gleichnamigen Sohn – in Narva an der Pest. Seine schon zu Lebzeiten erlangte Bedeutung erfuhr später weitere Steigerung, als sich mit seinen Schriften das Reval- oder Nordestnische als Grundlage der estnischen Schriftsprache durchsetzte. Die herausragende Stellung Stahls ist jedoch nicht zuletzt auf die guten Verbindungen zu herausragenden Persönlichkeiten sowie ein ausgeprägtes Machtbewusstsein und geschickte Werbestrategien zurückzuführen. So gelang es Stahl, Vorgänger und Konkurrenten entweder in sein Programm einzubinden oder – mithilfe der schwedischen Regierung – deren Schriften verbieten zu lassen. Daher wird seine Funktion als Begründer der estnischen Schriftsprache mittlerweile zunehmend kritisch hinterfragt und in Teilen relativiert. Daneben bleiben jedoch seine großen Verdienste um den Auf- und Ausbau der kirchlichen Strukturen und der Kirchenliteratur in Estland und Ingermanland.
Lit.:Recke/Napiersky, Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon IV (1832), S. 257-260; Napiersky/Beise, Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon, Nachträge und Fortsetzungen II (1861), S. 207. – Die erste Frau des Superintendenten Heinrich Stahel zu Narva, in: Sitzungsberichte Narva (08.12.1865), S. 6f. – ADB XXXV (1893), S. 401 [Hansen]. – Eesti biograafiline Leksikon (1926-29), S. 469-471. – G. Adelheim, Revaler Ahnentafeln, Tallinn 1935, S. 302. – H. Weiss, Beiträge zum Studiengang und zur Bibliographie Mag. Heinrich Stahls, in: Verh. GEG 30 (1938), S. 816–823. – H. Salu, Zur Entwicklung des estnischen Kirchenliedes im 17. Jh., in: J.O. Jensen (Hrsg.), Apophoreta Tartuensia, Stockholm 1949, S. 79-87. – G. Suits, Henrik Stahels svenskspråkiga katekes, in: Svio-Estonica 10 (1951), S. 154–168 – H. v.z. Mühlen, Reval vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Köln, Wien 1985, S. 84–96 u.ö. –P. Lotman, Veel kord Heinrich Stahli Ingerimaal kirjutatud katekismusest [Noch einmal über den von Heinrich Stahl in Ingermanland geschriebenen Katechismus], in: Keel ja kirjandus 38 (1995), S. 541-547. – L. Pahtma, Heinrich Stahli „Käsi- ja koduraamatust“ [Über das „Hand- vnd Hauszbuch“ von Heinrich Stahl], in: Eesti Ajalooarhiivi toimetised 3 <10> (1998), S. 57-90; L. Pahtma, Täpsustusi ja täiendusi Heinrich Stahli noorus- ja õpinguaastaisse [Präzisionen und Ergänzungen zu Jugend- und Studienjahren von Heinrich Stahl], in: Eesti Ajalooarhiivi toimetised 6 <13> (2000), S. 5–19. – R. Raag, Henricus Stahell, Geistlicher und Sprachkodifizierer in Estland, in: Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. K. Garber, M. Klöker, Tübingen 2003, S. 337-362. – P. Lotman, Heinrich Stahls „Leyenspiegel“. Eine jahrhundertelang schweigende Predigtsammlung, in: ebd., S. 363-374; M. Klöker, Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jhs., Teil 1-2, Tübingen 2005, Teil 1, S. 172-185 u. 734-735. –P. Lotman, Heinrich Stahl ja Rootsi kirikupoliitika [Heinrich Stahl and the Ecclesiastical Politics of Sweden], in: Eesti Ajalooarhiivi toimetised 12 <19> (2006), S. 312-335.
Werke:Disputatio logica secunda de demonstrationis medio, cui coronidis loco doctrina de Definitione Divisione & Methodo subjungitur, Rostock 1619. – Disp. De lege Dei, Wittenberg 1622. – <Trias> Illustrium quæstionum Theologicarum ad articulum de peccato pertinentium, Wittenberg 1622. – Diss. de quaestione, an Moscovitae Christiani dicendi sint?Wittenberg 1622. – Hand= vnd Haußbuches Für die Pfarherren vnd Hauszväter Esthnischen Fürstenthumbs/ Erster [bis Vierdter] Theil, Riga 1632, Reval 1637-38. – Anführung zu der Esthnischen Sprach, Reval 1637. – Ehren=Gedächtnuß/ Dem … Henrich Matthias/ Graffen von Thurn/ Valsasina, … Vnd dessen Enckel Dem … Christian/ Graffen von Thurn/ Valsasina vnd Pernaw, Reval 1641. – Leyen Spiegel/ Darinnen kürtzlich gezeiget wird/ wie ein einfaltiger Christ Die Fest= vñ Sontägliche Evangelia in reiner Lehr vnd heiligem Leben jhm zu nutze machen kan, Reval 1641. – Praecognita catechetica adjuvante Deo Optimo Maximo, … In Synodo Revaliensi Anno 1642. mense Februar: … ad disputandum proposita, Stockholm 1641. – Disputatio Synodica Æstivalis, Reval 1643. – Disputatio synodica, Reval 1643. – Förnufftennes Miölk För the Narviske/ Ingermanlandske/ och Allentackiske Kyrckior, Reval 1644. – Disp.Synod.V. (Cap. XXI. de Coena Domini, &c.), Reval 1647 (?). – Leyen=Spiegels/ … Sommer=Theil, Reval 1649. – Nucleus Hafenrefferianus In Synodicis Conventibus Narvæ Appositus, Reval 1649. – schwed. Rundbriefe an die Priester Ingermanlands usw., mit Datum vom 5.März 1642, Nov. 1642, 8. Aug. 1643, 1645. – wenige lat. u. dt. Gelegenheitsgedichte.
Bild:Titelblatt des Leyenspiegelsvon 1641.