Der aus dem österreichischen Teil Schlesiens stammende Fabrikantensohn wurde von seinem Vater zunächst für die Nachfolge im Familienbetrieb bestimmt und brachte es immerhin bis zum Webermeister, bevor er sich entschloß, doch noch das akademische Studium aufzunehmen. Wien, Berlin und München waren die Stationen des Studentenlebens. Trotz des verspätet aufgenommenen Studiums wurde Strzygowski bereits mit 30 Jahren außerordentlicher und zwei Jahre später ordentlicher Professor der Kunstgeschichte in Graz. 1909 wurde er auf die kunstgeschichtliche Lehrkanzel der Universität Wien berufen, womit seine herausragende Bedeutung für die Kunstwissenschaft seiner Zeit auch öffentliche Anerkennung fand. Strzygowski war von einer schier unerschöpflichen Arbeitskraft, publizistischen Produktivität und Hypothesenfreudigkeit geprägt, die ihm hohe Anerkennung, aber auch schärfste Ablehnung eintrugen. Wie viele seiner großen akademischen Zeitgenossen war er ein geborener Polemiker, der den größeren Teil seiner kunstwissenschaftlichen Zunftgenossen als „in verbrauchten Geleisen dahindämmernden Durchschnitt“ abqualifizierte.
Strzygowskis fortdauernde Bedeutung für die Kunstwissenschaft, insbesondere aber die Christliche Archäologie, ist eng mit der sogenannten „Orient-Rom-Frage“ verbunden, die zu Anfang dieses Jahrhunderts keineswegs nur die Gemüter der Wissenschaftler erhitzte, sondern auch in weitesten Kreisen der Öffentlichkeit leidenschaftlich diskutiert wurde. Dabei ging es um die Frage, wo die Ursprünge der frühchristlichen Kunst zu suchen seien. Die Christliche Archäologie war seit dem Ende des 16. Jahrhunderts als gegenreformatorische Hilfswissenschaft entstanden, die darzulegen hatte, daß – entgegen der Auffassung der reformatorischen Kirchen – Rom und das Papsttum von Anfang an das Zentrum der „heiligen katholischen Kirche“ gewesen seien. Die Wiederentdeckung der römischen Katakomben und ihrer Kunst, aber auch die ständig vertiefte Kenntnis der enormen Fülle frühchristlicher Denkmäler in der „Ewigen Stadt“ überhaupt, schienen diese Auffassung immer wieder neu zu bestätigen. Gegen diese romzentrierte Interpretation der frühchristlichen Kunstdenkmäler und deren Einebnung unter den weithin formalistisch begründeten Begriff einer „Christlichen Antike“ wandte sich Strzygowskis Protest. Schon 1879 hatte Charles Bayet die These vertreten, daß die Typen und Symbole der frühchristlichen Kunst aus dem Orient stammten und vom Westen lediglich übernommen worden seien. Mit dem Kampfruf „Orient oder Rom“ verbanden sich dann aber auch keineswegs nur wissenschaftliche Differenzen. In ihm kamen genau so auch nationale, konfessionelle und sogar innerkatholische Animositäten zum Ausdruck. Das verlieh dem Streit eine Schärfe, die oft auch vor persönlichen Verletzungen Andersdenkender nicht haltmachte. Strzygowski hat als erster (1892) auf Byzanz, Ägypten und Syrien als Quellorte frühchristlicher Kunst hingewiesen und die These in genial-manischer Weise vertreten, Rom und der Westen wären dieser Kunst des hellenisierten Ostens gegenüber lediglich der empfangende Teil gewesen. Mit dieser in unzähligen Schriften immer neu vorgetragenen und häufig modifizierten Theorie geriet Strzygowski zwangsläufig in unversöhnlichen Gegensatz zu seinem entfernten Landsmann Josef Wilpert (1857 Eiglau/Schl. – 1944 Rom), dem wir die großartigen Corpora der römischen Katakombengemälde, Mosaiken und Sarkophage verdanken. Wilpert, fixiert auf die Aufgabe, mit Hilfe der altchristlichen Denkmäler die Wahrheit des katholischen Dogmas und die Berechtigung des römischen Primatanspruchs zu untermauern, konnte in Strzygowskis weitschweifenden Materialsammlungen und Theorien nichts anderes als „wissenschaftlich marktschreierisches Auftreten“ erkennen. Hinter dem Tun der „Orientschwärmer“ verbarg sich ihm nichts anderes als die wissenschaftlich verkappte Devise „Los von Rom!“. Strzygowski seinerseits konnte heftig jene „ultramontane Richtung“ beklagen, „die alles auf Rom zurückführen will und wie ein Alp auf so manchem Zweige der wissenschaftlichen Geschichtsforschung liegt, den freien Ausblick in die lachenden Gefilde der Wahrheit behindernd“. Oder noch schärfer: „Rom hat überhaupt nicht mitzureden, sobald es sich um schöpferische Tat in der bildendenKunst handelt.“
Die große Kontroverse um die „Orient-Rom-Frage“ ist heute abgedungen. In mancher Hinsicht ist die Frühchristlich-Byzantinische Sammlung der Berliner Staatlichen Museen, die von ihrem ersten Kustos, Oskar Wulff, der Strzygowskis Auffassungen in vieler Hinsicht teilte, maßgeblich geformt wurde, bis heute als ein Denkmal der Position des Wiener Meisters zu betrachten. Diese war allerdings bereits zu seinen Lebzeiten doch schon sehr ins Abseits geraten, weil große Gelehrte das schöpferische Zentrum immer weiter nach Osten verlagert sehen wollte. Hatte er zunächst das östliche Mittelmeergebiet mit seinen Randzonen ins Auge gefaßt, so fand er später in Armenien, dem Iran und schließlich Zentralasien die Wiege der Kultur. Das zwang ihn zu immer kühneren Hypothesen, denen immer weniger Fachkollegen zu folgen bereit waren. Nach dem Krieg fielen Strzygowskis einst von einem breiten Publikum diskutierten Hauptwerke auch deshalb der Vergessenheit anheim, weil sein Reden von „Ariern“, dem „nordischen Jahrtausendstrom“, dem „Ahnenerbe“ und dem „Lebenskampf“ Mißverständnisse ohne Zahl hervorrufen mußte. Übergangen werden konnte er nun aber auch deshalb, weil andere jüngere Gelehrte, die sich von den krassen Einseitigkeiten Strzygowskis freizumachen verstanden, das Grundproblem des Verhältnisses von Ost und West in der spätantiken Ökumene auf neue Weise thematisierten. Die Fülle der Einzelbeobachtungen, die breitangelegte Materialkenntnis und vielleicht sogar auch so mancher Versuch, scheinbar Disparates in Zusammenhang zu bringen, machen Strzygowskis Abhandlungen zumindest für den Fachgelehrten aber auch noch heute lesenswert.
Werke: Das Etschmiadzin-Evangeliar. Beiträge zur Geschichte d. armenischen, ravennatischen und syro-ägyptischen Kunst (= Byzantinische Denkmäler 1), Wien 1891; Der Bilderkreis des griechischen Physiologus, des Kosmas Indikopleustes und Oktateuchs. Nach Hs. der Bibl. zu Smyma bearb. (= Byzantinisches Archiv 2), Leipzig 1899 [ND: Groningen 1969]; Byzantinische Denkmäler, 3 Bde., Wien 1901/03; Orient oder Rom. Beiträge z. Geschichte der spätantiken und frühchristlichen Kunst, Leipzig 1901; Kiemasien. Ein Neuland der Kunstgeschichte, Leipzig 1903; Koptische Kunst (= Service des antiquités de l’Egypt. Catalogue géneral des antiquités égyptiennes du Musée du Caire 12), Wien 1904: Amida [zusamen mit M. van Berchem], Heidelberg 1910; Altai-Iran und Völkerwanderung. Ziergeschichtliche Untersuchungen über den Eintritt der Wander- und Nordvölker in die Treibhäuser geistigen Lebens. Anknüpfend an einen Schatzfund in Albanien, Leipzig 1917; Baukunst der Armenier und Europa (= Arbeiten des k.k. Kunsthistorischen Instituts 9/10), Wien 1918, Ursprung der christlichen Kirchenkunst. Neue Tatsachen und Grundsätze der Kunstforschung (= Arbeiten des k.k. Kunsthistorischen Instituts 15), Leipzig 1920; Selbstbiographie, in: Kunstwissenschaft der Gegenwart inSelbstdarstellungen l, hg. von J. Jahn, Leipzig 1924; Der Norden in der bildenden Kunst Westeuropas, Wien 1926 (21930); Die Holzkirchen in der Umgebung von Bielitz-Biala. Unter Mitarbeit von A.A. Kasarek und W. Kühn (= Ostdeutsche Heimatbücher 2 und Beiträge z. vergleichenden Kunstforschung 5), Posen 1927; Die altslavische Kunst (= Arbeiten des k.k. Kunsthistorischen Instituts 40), Augsburg-Wien 1929; Spuren indogermanischen Glaubens in der bildenden Kunst, Heidelberg 1936; Europas Machtkunst im Rahmen der Erdkreises, Wien 1941; Das indogermanische Ahnenerbe des deutschen Volkes und die Kunstgeschichte der Zukunft, Wien 1941.
Lit.: Studien zur Kunst des Ostens. Josef Strzygowski zum 60. Geburtstage, Wien/Hellerau 1923; Josef Strzygowski-Festschrift zum 70. Geburtstag dargebracht von seinen Schülern, Klagenfurt 1932; Alfred Karasek-Langer: Verzeichnis der Schriften von Josef Strzygowski, Klagenfurt 1933 [auch als Sonderdruck der Deutschen Wissenschaftlichen Zeitschrift f. Polen, Heft 24, Posen 1932]; Joseph Wilpert: Erlebnisse und Ergebnisse im Dienste der Christlichen Archäologie. Rückblick auf eine fünfundvierzigjährige wissenschaftliche Tätigkeit in Rom, Freiburg/Br. 1930, bes. S. 185ff.; Friedrich Wilhelm von Bissing: Kunstforschung oder Kunstwissenschaft? Eine Auseinandersetzung mit der Arbeitsweise Josef Strzygowskis, 2 Teile (= Abhandlungen d. Bayerischen Akademie d. Wiss., Phil.-hist. Klasse NF 31/32), München 1950/51; Klaus Wessel: Rom – Byzanz – Rußland. Ein Führer durch die frühchristlich-byzantinische Sammlung [der Staatlichen Museen zu Berlin], Berlin 1957; Friedrich Wilhelm Deichmann: Einführung in die christliche Archäologie (= Die Kunstwissenschaft), Darmstadt 1983, 28ff. (Lit.)
Bild: P. Maser