Biographie

Wagner, Wilhelm

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Neurochirurg
* 14. Januar 1848 in Wohnbach/Kr. Friedberg
† 7. August 1900 in Königshütte/Oberschlesien

Wilhelm Wagner war einer von drei Söhnen des Pastors zu Wohnbach. Nach dem Abitur schrieb sich der junge Wilhelm Wagner an der Universität zu Gießen ein. Zum letzten Semester ging er nach Marburg, wo er aufgrund seiner DissertationÜber die Percussion des Magens nach Auftreibung mit Kohlensäure, mit der er einen Beitrag zur Anatomie und zur physikalischen Diagnostik leistete, das Doktor-Diplom erlangte. Als 21jährigerMann nahm er eine Tätigkeit als Kurarzt im Bad Nauheim(Hessen) auf, wo ermit seinem vielseitigen Wissen und seiner Begierigkeit, es ständig zu vertiefen, die Aufmerksamkeit der Vorgesetzten auf sich lenkte. Während des Krieges 1870/71 zwischen Deutschland und Frankreich wurde er zum Militär einberufen. Den militärischen Dienst leistete er in einem Lazarett bei Friedberg ab. Nach dem Friedensschluß blieb er in Friedberg und heiratete Marie Herzberger, seine große Liebe seit den Studienjahren.

Seine in Friedberg betriebene ärztliche Praxis blühte schnell auf. Wagner war ein begabter Chirurg. Obwohl er bei keinem der nennenswerten Chirurgen Assistent gewesen war und nie einer Operation beigewohnt hatte, führte er schon in der Nauheimer Zeit viele erfolgreiche chirurgische Eingriffe durch, und die Resultate seiner Erfahrungen publizierte er in den damals noch kargen Schriften für Ärzte.

Im Jahre 1877, als Wagner von der Möglichkeit erfuhr, eine Stelle als Oberarzt im Knappschafts-Lazarett in Königshütte in Oberschlesien zu bekommen, bewarb er sich um sie und wurde angestellt. Nach Königshütte kam Wagner mit seiner Familie (drei Kinder) und bezog eine Wohnung auf dem Boden des Krankenhauses, das der Knappschaft gehörte (jetzt Krankenhaus Nr. 3). Neben der Erfüllung seiner Pflichten als Oberarzt der chirurgischen Abteilung im Knappschafts-Lazarett arbeitete er in dem ältesten Königshütter Krankenhause, dem zur Hl. Hedwig, welches sich damals im Dachgeschoß eines Miethauses befand (jetzt Krankenhaus Nr. 2). Die Arbeitsbedingungen in Königshütte waren nicht leicht. Wagner wirkte als Arzt und Verwaltungschef zugleich, und erst nach fünf Jahren wies man ihm einen Assistenten zu. Trotzdem fühlte sich Wagner im Kreise der sehr schwer arbeitenden oberschlesischen Menschen, die oft an Krankheiten litten, die durch Unfälle und ungünstige Arbeitsumstände verursacht worden waren, wohl. In kurzer Zeit wurde er Mitglied dieser Gemeinschaft und akzeptierte den schlesischen Boden und das schlesische Wesen so weit, daß er Schlesien als sein Heimatland und die Stadt Königshütte als Stadt seiner Bestimmung ansah.

Von der Anerkennung Wagners auf dem Gebiete der Chirurgie zeugt die Tatsache, daß er schon als junger Arzt in die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie aufgenommen wurde. Seine eigenen Erfahrungen aus der Behandlung von Verletzungen der Wirbelsäule und des Rückenmarks bearbeitete er zusammen mit Paul Stolper und veröffentlichte sie in dem Buch Die Verletzungen der Wirbelsäule und des Rückenmarks (1898). Das größte Verdienst jedoch hatte Wagner an der Einführung in die Neurochirurgie, einer neuen Arbeitstechnik, die auf dem operativen Öffnen des Cranium mit Bildung eines aus Knochen und Fascia bestehenden Lappens beruhte, der nach dem Eingriff wieder aufgelegt werden konnte (der osteoplastische Schädellappen, in der Craniotomie als Wagnerischer Lappen oder Wagnerische Operation bezeichnet). Diese Methode benutzte man bei Extirpationen intracranialer Auswüchse, bei Gehirnabszessen und den Resektionen der Hirnrinde bei Epilepsie. Die Gehirnchirurgie konnte sich nur auf Grund der Forschungen auf dem Gebiet der Hirn- und Rückenmarkphysiologie weiterentwickeln. Die erste Operation eines Hirntumors fand 1884 statt und wurde durch den Londoner Chirurgen John Rickman Godlee (1859-1925) anhand der Diagnose des Neurologen Hughes Bennet (1848-1901) ausgeführt. Als Pionier in der Neurochirurgie gilt im allgemeinen der französische Chirurg Mathieu Jaboulay (1860-1913), der seit 1890 eine Reihe intracranialer Operationen unternommen hatte und als erster 1899 die Sympathektomie der Oberschenkelmuskeln bei trophischen Störungen vollbrachte. Den weiteren Fortschritt der Technik bei den intracranialen Operationen verdankt man Wagner. Er war derjenige, der nach vielen Experimenten an Leichen im Jahre 1889 neue Trepanationsmethoden einführte. 1894 erhielt Wagner den Titel des Geheimen Sanitätsrates, später den des Professors.

Neben seinen vielfältigen beruflichen Beschäftigungen interessierte sich Wagner sehr für Botanik. Er führte eine umfangreiche Korrespondenz mit vielen botanischen Zentren der Welt. Das durch ihn angelegte Herbarium war sehr gut ausgestattet und wurde ständig ergänzt. Wagner erfreute sich einer Anerkennung weit über Schlesien hinaus. Das schlichte und anspruchslose Krankenhaus in Königshütte wurde unter seiner Hand hinsichtlich der Krankenbetreuung und der Therapie zu einer vorbildlichen Anstalt.

Viel Freude hatte Wagner am Wandern, besonders am Bergwandern. Als Mitglied der Schlesisch-Ungarischen Abteilung des Vereins für Hochgebirgstouristik beteiligte er sich an dem Bau der Gebirgsherberge „Schlesierhaus“, die sich auf der slowakischen Seite befindet. Ein Gipfel in der Hohen Tatra wurde nach ihm benannt. Wagner fand auch außerhalb seines dienstlichen Wirkens Zeit, der Gemeinschaft zu dienen. Unter anderem war er der Initiator der Gründung eines privaten Mädchen-Gymnasiums, in dem er danach 20 Jahre Vorsitzender des Fürsorgekomitees war. Ihm war es zu verdanken, daß in Bad Gotschalkowitz (Goczalkowice) ein Sanatorium für Bergleute und Hüttenarbeiter und in Wodzislaw ein Krankenhaus mit Sanatorium für Lungenkranke entstand.

Im Jahre 1897 erkrankte Wagners Frau. Der Versuch, ihr zu helfen, gelang nicht. Nach ihrem Tode wurde aus dem lebensfrohen Menschen, der Wagner stets gewesen war, ein verschlossener und schweigsamer Mann. Er kam nicht mehr zu Kräften und erlangte seine frühere Energie nie wieder zurück. Der Tod ereilte ihn im Alter von 52 Jahren.

Begraben wurde Wagner auf dem evangelischen Friedhof in Königshütte. Auf seinem Grabstein, der noch vorhanden ist, stehen Worte: „Die Liebe höret nimmer auf“. 1908 wurde im Zentrum der Stadt Königshütte sein Denkmal enthüllt. Auf einer metallenen Platte mit Relief befand sich die Inschrift: „Allis Inserviendo Consumor“ (Ich lebte für Andere).

Im Jahre 1934 – Königshütte gehörte inzwischen zu Polen – entschloß man sich, auf dem Platz, auf dem sich das Denkmal befand, das Gebäude der Stadtsparkasse zu errichten. Das Denkmal wurde auf das Gelände des Krankenhauses, in dem Wagner gewohnt und gearbeitet hat, verlegt. Es steht dort noch heute, nur wurde die Gedenktafel ausgetauscht. Die heutige trägt den Namen des jetzigen Patrons des Krankenhauses – den des Doktors Andrzej Mielecki.

Die große Leistung, mit der Doktor Wagner zur Entwicklung der medizinischen Wissenschaft beigetragen hat, ist heute in den Ärztekreisen, auch unter den Neurochirurgen, in nur ungenügendem Maße bekannt.

Quellen und Lit.: Archiwum Panstwowe, Oddzial w Bytomiu, Akta miasta Chorzowa, sygn. 1488, k. 5, sygn. 2039, k. 14, sygn. 2720, k. 4. – F. Knötel: Professor Dr. Wilhelm Wagner – Geheimer Sanitätsrath. Ein Gedenkenblatt zur Enthüllung seines Denkmals in Königshütte, in: Oberschlesien, 1908, S. 107-111. – R. Schmidt: Kleines Stadtbuch von Königshütte, Königshütte 1941, S. 97-98. – M. Buchfelder, B. Ljunggern: Wilhelm Wagner (1848-1900). P. 1: A Forgotten Pioneer, „Surg. Neurol.“ 1988, vol. 30, nr 6, S. 423-427. – M. Buchfelder, B. Ljunggern: Wilhelm Wagner (1848-1900). P. 2: The osteoplastic Flap, „Surg. Neurol.“ 1988, vol. 30, nr 6, S. 428-433. – B. Seyda: Dzieje medycyny w zarysie [Geschichte der Medizin im Überblick], Warschau 1973, S. 307. – A. Grossmann: Zasluzony dla Krolewskiej Huty. Wilhelm Wagner – lekarz, uczony i spolecznik [Verdient für Königshütte. Wilhelm Wagner – Arzt, Gelehrter], in: Gazeta Gornoslaska. Oberschlesische Zeitung, 1991, nr 16 (37), S. 4. – W. Korzeniowska: Kurorty gornoslaskie dawniej i dzis [Oberschlesische Kurorte früher und heute], Oppeln 1992, S. 36-66. – W. Slezak, Z. Jedynak, B. Mauer-Gorska: Wagner Wilhelm (1848-1900), in:Slownik medycyny i farmacji Gornego Slaska [Medizinisches und pharmakologisches Fachwörterbuch Oberschlesiens], verf. A. Puzio, Bd. 1, Kattowitz 1993, S. 277-278.

 

    Włodzimierz Kaczorowski