Herbert Czaja – ein realistischer Visionär
Düsseldorfer Vortrag von Dr. Guido Hitze zum 100. Geburtstag
Heute ist in der Öffentlichkeit das Bild von Dr. Herbert Czaja (1914 – 1997), dem langjährigen Präsidenten des Bundes der Vertriebenen und engagierten Sozialpolitiker, weitgehend verblasst. Noch vor 20 Jahren war dies ganz anders, herrschten die von Teilen der Presse verbreiteten Klischees eines starren, geradezu revanchistischen Vertriebenenfunktionärs vor – Zerrbilder, die bei jedem, der Czaja persönlich erleben konnte, rasch verflogen. So erging es auch dem angehenden Historiker Guido Hitze, der mit ihm bei der Abfassung seiner Dissertation in Kontakt kam, und der in ihm einen klugen, im Umgang liebenswürdigen Ratgeber erfuhr. Um Czaja aus Anlass seines 100. Geburtstags eine angemessene Würdigung zukommen zu lassen, setzte sich Hitze auf Einladung des Landesverbandes NRW des BdV und des Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Hauses am 14. November 2014 in einem Vortrag mit dem Leben und Wirken von Herbert Czaja auseinander.
Der aus bürgerlich-katholischem Haus stammende, am 5. November 1914 in Teschen, mithin im noch zu Österreich gehörenden Teil Schlesiens geborene und in einer multiethnischen Umgebung aufwachsende Herbert Czaja wurde demnach nicht zuletzt durch den Minderheitenpolitiker Eduard Pant geprägt, der ihm die katholische Soziallehre vermittelte und ihn auf diese Weise immun gegen die Umwerbung der bedrängten deutschen Volksgruppe Polens durch die Nationalsozialisten werden ließ. Nach dem deutschen Einmarsch rettete den jungen Gymnasiallehrer lediglich die Einberufung zum Kriegsdienst vor der Verhaftung, die ihm wegen seines Einsatzes für verfolgte polnische bzw. jüdische Kollegen und Freunde drohte. Nach dem Krieg, den er schwer verwundet überlebte, schlug er eine ihm angebotene, mit der Annahme der polnischen Staatsbürgerschaft verbundene Assistentenstelle an der Krakauer Jagiellonen-Universität aus, nahm er die Ausweisung auf sich.
In Baden-Württemberg angekommen fasste Czaja rasch erneut Fuß, gründete er eine Familie und engagierte er sich im Stuttgarter Stadtrat für eine menschenwürdige Unterbringung der zahlreichen Heimatvertriebenen. Diese seine sozialpolitische Orientierung setzte der CDU-Politiker ab 1953 im Deutschen Bundestag fort, wobei sich, wie Hitze vermerkte, ein ihn zeitlebens verfolgendes Dilemma auftat: Die aktive Integrationspolitik gegenüber den Vertriebenen und Flüchtlingen musste zwangsläufig deren Heimkehrwillen schwächen. Auch sein Eintreten für die Westorientierung der Bundesrepublik unter Bundeskanzler Adenauer konnte als gegen eine Rückgewinnung der Ostgebiete gerichtet erscheinen.
Zum Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft der Oberschlesier gewählt, tat Czaja sich 1969 als Kritiker der Politik von Außenminister Brandt hervor, bei der er die Interessen der deutschen Heimatvertriebenen der durchaus anzustrebenden Verständigung mit den osteuropäischen Gegnern geopfert sah. Der Widerstand des – auch für ihn selbst überraschend – im Jahre 1970 zum Präsidenten des Bundes der Vertriebenen Gewählten gegen die Ostverträge der sozialliberalen Koalition wurde von der eigenen Fraktion nur bedingt geteilt. Immerhin erreichte seine Klage beim Bundesverfassungsgericht, dass die Vertragsbestimmungen nicht als Grenzanerkennung gewertet werden konnten.
Dabei erhob Czaja bei aller energischen Vertretung von Rechtspositionen niemals Maximalforderungen: Eine einfache Rückkehr zu den Vorkriegsgrenzen strebte er nicht an, wohl aber die Anerkennung und Wiedergutmachung des Vertreibungsunrechts. Eine Einbeziehung der Ostgebiete in den Wiedervereinigungsdiskurs der Zeit von 1989/90 sollte nicht gelingen, ebenso drang er mit seinen Vorschlägen zu einer Freistaatslösung für Schlesien nicht durch. Gleichwohl ermöglichte – und dies stellte Hitze als dialektisches Verhältnis heraus – die politische Entwicklung, gegen die Czaja sich so vehement wandte, faktisch in mancher Hinsicht letztendlich das, wofür er eintrat: Die Öffnung der Grenzen, die europäische Integration, Volksgruppenrechte für die verbliebenen Deutschen und ein Niederlassungsrecht in den Heimatgebieten.
Zu Beginn der 1990er Jahre zog sich Czaja allmählich von seinen öffentlichen Ämtern zurück, die keineswegs nur auf die Vertriebenen fokussiert waren, vielmehr ebenso bestimmt wurden vom Einsatz des engagierten Christen für Menschenrechte weltweit, für den Schutz von Leben und Familie.
Auch wenn die volle Umsetzung des Rechts auf die Heimat nicht erfolgte, so kann man doch keineswegs von einem Scheitern Czajas sprechen. „Scheitern“ war, so Hitze, ohnehin keine Kategorie, in der er dachte: Es ging ihm nicht einfach um politischen Erfolg, vielmehr um die beharrliche Vertretung gültiger Werte, unverzichtbarer Prinzipien und berechtigter Interessen. Dass dies selbst von politischen Freunden als „unbequem“ empfunden wurde, er gar massiven Angriffen und Verleumdungen im In- und Ausland ausgesetzt war, konnte ihn dabei letztlich nicht anfechten.
Czajas Vision war dabei zeitlebens die eines Mittelwegs, bei dem deutsche Interessen berücksichtigt und gleichzeitig gemeinsam mit den westlichen und östlichen Nachbarn eine friedliche und föderale europäische Ordnung der Staaten, Völker und Volksgruppen erreicht werden sollte. Dass diese Vision, für die er mit aller Kraft eintrat, noch zu seinen Lebzeiten weitgehend verwirklicht wurde, mag ihm, der so viele Brüche und Enttäuschungen zu verkraften hatte, ein Trost gewesen sein.
In seinem Fazit bezeichnete Hitze denn auch den heute zu Unrecht fast vergessenen Streiter für einen Frieden durch Menschenrechte als „realistischen Visionär“, der viel für Deutschland und Europa geleistet habe. Eine hieran anschließende rege Diskussion, an der sich als Zeitzeugen und enge Wegbegleiter Czajas dessen älteste Tochter Christine sowie Hans-Günther Parplies, Vorsitzender des BdV Landesverbands und der von Czaja ins Leben gerufenen Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, beteiligten, bestätigte und differenzierte dieses Bild.
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