Ereignis vom 23. September 1898

Eröffnung des Stettiner Freihafens und die Enthüllung des Manzel-Brunnens

 Zweifellos zählte der 23. September 1898 zu den bedeutenden Daten in der Stadtgeschichte der pommerschen Landeshauptstadt, als Kaiser Wilhelm II. in Anwesenheit von viel Prominenz die neuen Stettiner Hafenanlagen einweihte, mit deren Bau man mehr als vier Jahre zuvor begonnen hatte. Mit der feierlichen Eröffnung war der Wunsch verbunden, den Hafenplatz Stettin gegenüber anderen Ostseehäfen aufzuwerten bzw. konkurrenzfähig zu machen, zumal die bis 1898 vorhandenen Kais dringend der Erweiterung und Modernisierung bedurften. Mit Vollendung des Kaiser-Wilhelm-Kanals, dem bevorstehenden Ausbau des Elbe-Trave-Kanals sowie der Errichtung von Freibezirken in Hamburg und Kopenhagen drohten die maritimen Verkehrsströme sich zu Ungunsten Stettins zu verschieben. Um eine derartig bedrohliche Entwicklung zu verhindern, erarbeitete man in Stettin ein Konzept, das die Errichtung eines Freibezirkes mit vollständig neuen Hafenanlagen auf dem östlichen Oderufer zwischen Lastadie und altem Breslauer Bahnhof vorsah. Als Investitionskosten für das Großprojekt veranschlagte man 30,6 Millionen Mark.

Seit altersher hatten die Oder und der Hafen für Stettin entscheidende Bedeutung. Zu den Privilegien und Schenkungen, mit denen bereits 1307 Herzog Otto I. (1295-1344) Stettin entgegenkam, zählte auch die Verfügungsgewalt über das Stromgebiet der Oder bis zur Abzweigung der Swante bzw. der Großen Reglitz zwischen Podejuch und dem Dammschen See. Als die Nachfolger Ottos I. die gewährten Privilegien für obsolet erklärten, kam es zum Prozess vor dem Kaiserlichen Kammergericht, ohne dass in der Sache über Jahrzehnte letztlich entschieden wurde. Erst 1612 kam es in dem Konflikt zwischen dem bedeutenden Pommernherzog Philipp II. und der Stadt zu einem Vergleich, bei dem der Stadt das Eigentums- und Nutzungsrecht über die Wasserläufe zugesprochen wurde, während beim Landesherrn die Ausübung hoheitlicher Rechte verblieb. Nachdem Stettin 1720 preußisch „geworden war“, widerrief Preußen einseitig das 1612 ergangene Urteil. Erneut rief Stettin die Gerichte an. So blieb es letztlich 1898 dem Königlichen Ober-Tribunal vorbehalten, die alte Streitfrage bezüglich der Nutzungs- und Eigentumsrechte auf den Wasserläufen zu Gunsten der Stadt zu entscheiden. Trotz der verständlichen Freude bei Magistrat und Kaufmannschaft über eine solche Entscheidung darf andererseits nicht übersehen werden, dass die Stadt damit nicht nur Rechte, sondern zugleich auch finanzielle Risiken einging. Fortan hatte sie beispielsweise auf eigene Kosten ausreichend Stapelraum und Löschkapazität bereitzustellen, deren Kosten nur unzureichend durch die von der Stadt erhobenen Liege- und Löschgebühren bzw. sogenannten Bollwerksgelder gedeckt wurden. Abgesehen von nur wenigen, nicht sehr tief gehenden Stichkanälen, besaß Stettin damals kein künstlich angelegtes Hafenbecken. Vor der Einweihung des Stettiner Freihafens zählte man 6349 m öffentliche und 1343 m private Bollwerke, deren Nutzung weitgehend den Eigentümern vorbehalten blieb. Nicht eingerechnet sind weitere 1180 m Kaianlagen im Besitz der Berlin-Stettiner Eisenbahnverwaltung, die zwischen 1864 bis 1868 erbaut wurden, um die Umschlagszeiten Bahn/Schiff oder umgekehrt zu verbessern und weitere 239 m für die Königliche Wasserbauverwaltung beim Packhof und Salzmagazin. Wollte man konkurrenzfähig bleiben, so mussten die insgesamt 9111 m Kailänge deutlich erweitert werden.

Mit dem Fall der Festungswerke 1872 ergaben sich neue innovative städtebauliche Veränderungen. Der Durchstich der Schlächterwiese 1878 ermöglichte den Bau der Dunzig-Hafenanlage. Gleichzeitig verhinderte er, dass die Stettin anlaufenden Schiffe bis zu fünf Klapp- oder Drehbrücken passieren mussten, ehe sie Waren löschen oder laden konnten. Das sowohl von der Stadt und den beiden Eisenbahngesellschaften (Berlin-Stettiner und Breslau-Schweidnitz-Freiburger Bahn) finanzierte Bauvorhaben verschaffte dem Seeverkehr erhebliche Zeitgewinne und verbesserten Service. Dass sich derartige Vorteile an der Küste schnell herumsprachen, der Hafenplatz Stettin sich wachsender Akzeptanz erfreute, versteht sich von selbst. Dennoch war man mit dem Erreichten noch längst nicht zufrieden. Wachsender Warenverkehr über See führte bereits 1885 zu einer erneuten Eingabe der Kaufmannschaft an den Stettiner Magistrat, die Konkurrenzfähigkeit Stettins durch weitere bauliche Investitionen sicherzustellen. Als Gelände für den Hafenausbau wurden die zwischen der Lastadie und dem einstigen Breslauer Bahnhof gelegenen Möllwiesen vorgesehen, die zum größten Teil der Stadt gehörten, sodass langwierige Kaufverhandlungen nicht zu erwarten waren. 1889 erhielt die Firma Havestadt und Contag den Auftrag, bis zum Frühjahr 1890 einen Entwurf der neuen Hafenanlagen auszuarbeiten. Obwohl der Plan zeitgerecht zur Begutachtung vorgelegt wurde, genügte er der Hafenkommission hinsichtlich Anordnung und Ausrüstung der Hafenbecken nicht. Um nicht weitere kostbare Zeit zu verlieren, beauftragte man Stadtbaurat Friedrich Krause mit der Ausarbeitung eines zweiten Entwurfs. Dass sein Konzept einschließlich Kostenvoranschlag schon am 8. Oktober 1892 vorgelegt werden konnte, war vorrangig dem Engagement und Weitblick Krauses zu verdanken. Ungewöhnlich war auch, dass ein derartig kostenaufwendiges Bauvorhaben ohne spürbare Korrekturen die Bewilligungs- bzw. Zustimmungsgremien passierte, sodass bereits am 6. Februar 1894 der erste Spatenstich erfolgen konnte.

Wasserseitig empfahl Krause den Bau eines 1200 m langen Stichkanals, der am Dunzig beginnen und in einer Breite von 100 m parallel zum Breslauer Bahnhof verlaufen sollte. Außerdem sah der Entwurf einen zweiten Hafenkanal von knapp 1000 m Länge und 100 m Breite vor, der im Winkel von 30° vom ersten Hafenbecken abzweigen sollte. Der besseren Manövrierfähigkeit der Seeschiffe diente ein in der Abzweigung des zweiten Hafenkanals gelegener Wendeplatz mit circa 230 m Durchmesser. Insgesamt umfasste die Großbaustelle eine Fläche von rund 60 ha, von denen 37,5 ha Land-, 22,5 ha Wasserflächen betrafen, deren Mindestwassertiefe 7 m nicht unterschreiten durfte. Dank der Überlegungen Krauses gewann man mit den neuen Hafenanlagen 4115 m Kailänge hinzu, sodass nach deren Fertigstellung in Stettin bis zu 60 Seeschiffe gleichzeitig gelöscht oder beladen werden konnten. Da tragfähiger Baugrund im neuen Hafenbereich aber erst bei 8 bis 9 m unter Mittelwasser zu finden war, mussten aufwendige Gründungen für die massiven Kaimauern bzw. Aufbauten vorgenommen werden, die weitgehend – trotz kriegsbedingter Zerstörungen – bis heute in Funktion sind. Im Abstand von 11.85 m zur Wasserkante wurden auf den Kais eingeschossige Warenschuppen von 182 m Länge und 30 m Raumtiefe errichtet, die addiert eine nutzbare Grundfläche von 5460 qm auswiesen. Hinter diesen erstreckten sich landseitig vierstöckige Speicherhäuser von gleicher Länge wie die Schuppen, deren Raumtiefe jedoch auf 20 m beschränkt blieb. Auf der Rückseite der optisch einprägsamen Speicher waren Eisenbahngeleise verlegt, die den Umschlag vom Schiff auf die Bahn oder umgekehrt erheblich vereinfachten bzw. beschleunigten.

Der Seehandelsplatz Stettin konnte dank der nach modernsten Erfordernissen neu gestalteten Hafenanlagen seinen Vorsprung gegenüber anderen Ostseehäfen ausbauen.

Neben der glanzvollen Eröffnung des neuen Freihafens feierte Stettin am 23. September 1898 auch in Anwesenheit des Kaiserpaares die Enthüllung des von Professor Ludwig Manzel (* 3. Juni 1858 Kagendorf/Kreis Anklam, † 24. November 1936 Berlin) geschaffenen Monumentalbrunnens unweit des Stettiner Rathauses. Der Gelehrte und bedeutendste Chronist Stettins, Martin Wehrman, hat den sogenannten Manzel-Brunnen in seiner Geschichte der Stadt Stettin „gewissermaßen als Symbol der aufstrebenden Stadt“ (S. 501) verstanden. Manzel hatte sich mit seinem Brunnenmodell zuvor gegen mehr als 70 Bewerber durchsetzen müssen. Für das 1896 erstmalig auf der Großen Berliner Kunstausstellung gezeigte, wesentlich kleinere Modell erhielt Manzel die Große Goldene Medaille und den Ehrenpreis der Stadt Berlin zuerkannt. Manzel wurde schnell jedem Stettiner zum Begriff. Das eindrucksvolle Ensemble verkörpert symbolträchtig Handel und Schiffahrt. Die bestimmende bzw. das Ganze überragende Figur ist die Sedina, die Rechte abgestützt auf einem massigen Anker, mit der Linken das leicht gereffte Segel tragend. Kaum minder eindrucksvoll wirkt die im Vorderteil eines Schiffes sitzende, nach voraus orientierte Merkurgestalt sowie die beiden Seitenfiguren. Auch wenn der Manzelbrunnen heute nicht mehr vorhanden ist, eine verkleinerte Sedina in der Stiftung Pommern Krieg und Zerstörung Stettins überlebt hat, bleibt die Erinnerung an ein großartiges Denkmal.

Lit.: Martin Wehrmann: Geschichte der Stadt Stettin, Stettin 1911. – Ernst Völker: Stettin – Daten und Bilder zur Stadtgeschichte, Leer 1986. – Ernst Oldenburg: Hafen-, Handels- und Industriestadt Stettin in Pommern – Deutschlands wirtschaftlicher Brückenkopf im Osten, Gotha 1938. – Walter Schröder: Ludwig Manzel. Der pommersche Bildhauer, in: Das Bollwerk, Stettin, August 1930, S. 264-269. – Die neuen Hafenanlagen in Stettin, in: Centralblatt der Bauverwaltung 18 (1898), Nr. 39, S. 471. – P.I. van Nießen: Der neue Freihafen zu Stettin, in: Über Land und Meer, 1898, S. 383-386. – Friedrich Krause: Neue Hafenanlagen in Stettin, in: Zeitschrift für Bauwesen 49 (1899), S. 58-78. – Ausstellungskatalog: Das geistige Pommern – Große Deutsche aus Pommerns, Stettin 1939.

Gottfried Loeck