Ereignis vom 1. Januar 1471

Absetzung des Ordensmeisters von Livland Johann Waldhaus von Herse


Der Deutschordensstaat, Preußen, die Fürstbistümer und die übrigen Staaten in Livland (1410)

Der Deutsche Orden war eine geistliche Korporation, die als solche die Landesherrschaft in den von ihr erworbenen oder eroberten Gebieten ausübte. Weder der Hochmeister, das Ober­haupt des Gesamtordens, noch die Landmeister in seinen drei bedeutendsten Zweigen in Deutschland, Preußen und Livland, die sich allmählich im 13. Jahrhunderts herausbilde­ten, waren in ihren weltlichen Gebieten Fürsten oder hatten eine für­stengleiche Stellung inne, son­dern sie blieben infolge der Festlegungen der Ordensstatuten auch in ihren weltlichen Ge­schäf­ten an „Rat und Zustimmung“ ihrer Mitbrüder gebunden. Die Praxis ging zunehmend dahin, daß die Hochmeister in Preußen bzw. die Ordensmeister von Livland die Landesange­le­genhei­ten mit einem Ratsgremium behandelten und entschie­den, in dem die höchsten Amtsträ­ger des Ordens, die Gebieti­ger, die an der Spitze eines Ordenskonventes standen und ei­nen lo­kalen Bezirk regierten und verwalteten, vertreten waren. Es hing von den allgemeinen Umstän­den und dem individuel­len Geschick des jeweiligen Meisters ab, inwieweit er trotz des Rates der Gebietiger eine eigenständige und selbständige Poli­tik zu betreiben vermochte. Besonders in der Frühzeit des Or­dens kam es mehrfach zu schweren Konflikten zwischen Oberhaupt und Korporation, die sich zuweilen bis zur Abset­zung oder gar Ermordung des Hochmeisters stei­gerten. Allen Ordensangehörigen stand im 15. Jahrhundert das Beispiel des Hochmeisters Heinrich von Plauen (1410-1413) vor Augen, dessen auf Revision des I. Thorner Friedens und auf einen neuen Krieg mit Polen gerichtete Politik auf den heftigen Wi­derstand der Gebietiger stieß, so daß sie ihn schließlich gefan­gennahmen und seiner Hochmeisterwürde entkleideten.

Der Gegensatz gewann im 15. Jahrhundert noch zusätzlich durch sozialgeschichtliche Wand­lungen an Schärfe. Nachdem die Ziele der Kreuzzugszeit, die Eroberung und Missionierung heidnischer Regionen, spätestens nach der Christianisierung des letzten heidnischen Nachbarn Litauen zurückgetreten wa­ren und ihre Rechtfertigung verloren hatten, entwickelte sich der Deutsche Orden in Preußen und in Livland immer mehr zu einer Versorgungsanstalt für die nachgeborenen Söhne des niederen Adels in Mittel-, West- und Süddeutschland, indem der Eintritt in den Orden Aufstiegschancen und adlige Lebens­art verhieß, die unter den beengten Verhältnissen der Heimat kaum zu erreichen waren. Im Bestreben, sich in ihren Amts­bezirken ein auskömmliches Leben zu verschaffen, waren die Gebietiger daher geneigt, materielle Lei­stungen für das Or­densoberhaupt bzw. dessen zentrale Verwaltung nach Mög­lichkeit gering zu halten und die Eingriffe der Zentrale im Sinne der eigenen Selbständigkeit abzuwehren.

Die hier angedeuteten Konfliktlinien eskalierten in Livland unter dem Ordensmeister Johann Waldhaus von Herse (1470-1471). Waldhaus stammte aus einem zuerst im Stift Paderborn (Kloster Heerse), später auch in der Grafschaft Mark ansässi­gen kleinen Ministerialenge­schlecht, also aus der Region West­falens, die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts den größten Anteil des livländischen Ordensritternachschubes gestellt hat. Obwohl er keiner großen und angesehenen Familie angehörte, deren Angehörige üblicherweise bei der Verteilung der Ämter bevorzugt wurden, legte er in Livland seit seinem ersten nach­weisbaren Auftreten 1451 eine erfolgreiche Laufbahn zurück. Über die Stationen des Landvogtes zu Karkus, Vogtes zu Narva, Komturs zu Marienburg (seit 1466) und zu Reval (seit 1468) gelangte er schließlich im Januar 1470 mit seiner Wahl zum Meister an die Spitze des livländischen Ordenszweiges, wo­bei für seinen Aufstieg angesichts der Bedeutung familiärer Verbindungen innerhalb der Or­densgemeinschaft eine große Rolle gespielt haben dürfte, daß er der Neffe seines 1469 ver­stor­benen Vorgängers Johann von Mengede gen. Osthoff war. Schon bald nach seiner Wahl leitete er Reformen ein und setzte sie mit den Beschlüssen des Kapitels vom November 1470 durch, die die wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten der Gebietiger deutlich be­schnitten.

Ihnen wurde fortan verboten, anläßlich einer Versetzung in ein anderes Amt aus dem früheren das aufgespeicherte Getreide mitzunehmen und sog. Wacken abzuhalten, d.h. noch einmal die üblichen Abgaben von den untertänigen Bauern einzuzie­hen. Die Residenz des Meisters wurde von Riga nach Fellin verlegt, und das unter seiner unmittelbaren Verwaltung stehen­de Kam­mergebiet erreichte einen Umfang wie niemals zuvor oder später, indem die Komturei Fellin und die Vogteien Jer­wen, Oberpahlen und Wesenberg ihm zugeschlagen wurden. Der Or­densmeister hielt damit einen großen zusammenhän­genden Landkomplex im nördlichen Teil des Ordensterritori­ums in seiner Hand, Amtsbezirke, die durch ihre Fruchtbarkeit und infolge­dessen überdurchschnittliche Einkünfte herausrag­ten. Mit der Burg Fellin verfügte Waldhaus über die militärisch stärkste Wehranlage und den personell am besten besetzten Ordenskonvent im ganzen Land. Die Residenz Fellin und das ihr zugeordnete Kammergebiet sollten dazu die­nen, daß der Meister kraft der ihm verfügbaren Machtmittel nicht mehr in den Rat der Gebieti­ger eingebunden werden konnte.

Der angestrebte umfassende Ausbau der Meistermacht und die damit verbundene Zurückset­zung der Gebietiger riefen eine Opposition unter den Komturen und Vögten hervor, die im Sommer 1471 unter dem neuen Komtur von Marienburg Bernd von der Borch ihr Haupt fand. Die Gegner Waldhaus‘ schritten schließlich zur Tat, setzten das verhaßte Oberhaupt im Okto­ber 1471 gefangen und wählten sogleich Borch zum neuen Mei­ster, der sich spätestens nach der einige Monate später erfolg­ten Anerkennung durch den Hochmeister allgemein im Lande durchsetzen konnte. Die Anhänger von Waldhaus blieben iso­liert oder gingen ins Ausland, von wo aus sie noch einige Jahre gegen die siegreiche Partei kämpften. Waldhaus selber er­schien wohl als möglicher Kristallisationspunkt des Wider­standes auf Dauer trotz seiner Gefangen­schaft zu gefährlich, Ende 1472 ist er im Kerker zu Wenden verstorben, vermutlich von seinen Gegnern  ermordet. „Diese verruchte Tat war nicht Rettung, sondern Selbstmord des Ordens“ (L. Arbusow sen.).

Daß Waldhaus‘ Reformabsichten scheiterten, entschied end­gültig über die innere Verfassung des livländischen Ordens bis zu seiner Auflösung 1561. Die Macht der Meister wurde noch stärker eingeschränkt, als es vor 1470 der Fall gewesen war, so daß sie in ihrer Politik auf das Zusammenwirken mit den Ge­bietigern angewiesen waren. Diese herrschten in ihren Amts­bezir­ken nahezu unumschränkt, der Kontrolle und dem Zugriff des Oberhauptes, wie er sie frü­her etwa auf seinen regelmäßi­gen Umzügen durch das Land ausgeübt hatte, waren sie weit­ge­hend entzogen. Die Gebiete hatten mit den aus ihnen zu ziehenden Einkünften den Amtsinha­bern ein standesgemäßes adliges Leben zu gewährleisten. Die Versorgungsfunktion für den westfä­lischen Niederadel, aus dem der livländische Orden sich nahezu ausschließlich rekru­tierte, bestimmte bis 1561 sei­nen sozialgeschichtlichen Charakter.

Quellen: Liv-, est- und kurländisches Urkundenbuch, Bd. 12, hrsg. v. Philipp Schwartz u. Au­gust von Bulmerincq, Riga, Moskau 1910. – Akten und Rezesse der livländischen Ständetage, bearb. v. Albert Bauer, Bd. 2, Lieferg. 2, Riga 1938.

Lit.: Oskar Stavenhagen: Johann Wolthuss von Herse , 1470-71 Mei­ster des Deutschen Or­dens zu Livland, in: Mitteilungen aus dem Ge­biete der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands 17, 1900, S. 1-88. –  Klaus Neitmann: Die Residen­zen des livländischen Ordensmeisters in Riga und Wenden im 15. Jahrhundert, in: Stadt und Orden (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, Bd. 44), 1993, S. 59-93. – Sonja Neitmann: Von der Grafschaft Mark nach Livland (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Bei­heft 3), 1993.

Bild: Der Deutschordensstaat, Preußen, die Fürstbistümer und die übrigen Staaten in Livland (1410) / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Klaus Neitmann