Ereignis vom 5. April 1897

Abtretung des Hultschiner Ländchens

Das Hultschiner Ländchen im Osten Tschechiens

In Artikel 83 des Versailler Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 bestimmten die Siegermächte des Ersten Weltkrieges die Abtretung des südlichen Teiles des Kreises Ratibor vom Deut­schen Reich an die Tschechoslowakei. Worum ging es?

Bei dem abzutretenden Gebiet handelte es sich um das Hult­schiner Ländchen, das sehr fruchtbar war und von der Agrar­wirtschaft mit einem hohen Anteil von Großgrundbesitz (Lich­now­sky, Rothschild) und vom Steinkohlenbergbau ge­prägt wur­de. Laut Volkszählung von 1910 umfaßte es 340 qkm mit einer Bevölkerungszahl von 45.400 Personen. Die Alliier­ten konn­ten sich bei ihrer Entscheidung darauf berufen, daß damals 80 % der Bewohner das Mährische als Mutter­sprache bezeichnet hatten. Sie wußten nicht – oder wollten nicht wis­sen -, daß in Oberschlesien von der Umgangssprache nicht auf das Bekenntnis zu einem bestimmten Volkstum oder gar Staat geschlossen werden konnte. Wirtschaftlich und kul­turell orien­tierte sich die zu fast 100 % katholische Bevölke­rung, die kirchlich zum Erzbistum Olmütz gehörte, nach Deutschland, speziell zur Kreisstadt Ratibor. Der Hauptort des Hultschiner Ländchens war die Kleinstadt Hultschin.

Im 9.-11. Jahrhundert waren mährische Slawen in das Gebiet gekommen, im 13. und 14. Jahrhundert deutsche Siedler. Als Österreich im Jahre 1742 fast ganz Schlesien an Preußen ab­treten mußte, ging auch das Hultschiner Ländchen in den Be­sitz Friedrichs des Großen über.

Der ganz überwiegende Teil der Bewohner des Hultschiner Ländchens war darüber empört, daß man das Gebiet entgegen dem von den Siegern proklamierten Recht auf Selbstbestim­mung der Völker ohne Befragung dem neuen tschechoslowa­kischen Staat angliedern wollte. Im Juli 1919 fand in Hult­schin eine Massenkundgebung der Protestierenden statt, der vielerlei Aktivitäten, die das Verbleiben des Ländchens bei Deutschland zum Ziele hatten, folgten. An der Spitze des re­gionalen Wi­derstandes stand der zur politischen Mitte gehörende Ratiborer Seminar-Oberlehrer Reinhold Weigel, der kein Hultschiner, sondern aus dem Kreis Grottkau gebürtig war. Bereits am 11. Juli 1919 führte er eine Abordnung nach Berlin, um den Reichsministern Erzberger und Bell (beide Zentrum) die Wünsche des Volkes vorzutragen. Er reiste auch nach Paris und nach Prag, wo er mit Staatspräsident Masaryk, Minister­präsident Tusar und Außenminister Beneš sprach, und wirkte führend mit bei der am 14. November 1919 in Hult­schin erfolgten Gründung des deutsch-mährischen Volksbun­des, der „in letzter Stunde“ an das Gerechtigkeitsgefühl ap­pellierte und das Selbstbestimmungsrecht forderte. Da eine offizielle Volksabstimmung – anders als in den von Polen be­anspruchten Teilen Oberschlesiens – verweigert wurde, orga­nisierte Weigel in dem umstrittenen Gebiet eine private Volksbefragung, bei der sich 93,7% der Abstimmungsbe­rechtigten für das Verblei­ben beim Deutschen Reich erklärten.

Alle diese Maßnahmen – der frühere deutsche Botschafter in London, Fürst Lichnowsky, wandte sich an den britischen Au­ßenminister Balfour mit der Bitte, sich für eine Volksabstim­mung einzusetzen, und die Frauen des Hultschiner Ländchens baten den Papst um Hilfe – hatten keinen Erfolg. Am 4. Fe­bruar 1920 wurde das Gebiet von tschechischen Truppen be­setzt und tschechischer Verwaltung unterstellt. Danach setzten Unterdrückungsmaßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung ein. Der deutsch-mährische Volksbund wurde aufgelöst und sein Vermögen zugunsten des Staates beschlagnahmt. Im Rahmen der Mitte Februar 1921 durchgeführten Volkszählung zwang man Tausende zur nachträglichen Änderung ihrer Volks­angehörigkeitsangabe und senkte dadurch die Zahl der Deut­schen unter 20 %, so daß die Minderheitenschutzgesetz­gebung entfallen konnte. Das deutsche Schulwesen wurde be­kämpft, und die Gemeindevertretungen verfielen der Auflö­sung, der Ausnahmezustand bestand viele Jahre lang.

Die Mehrheit der Bevölkerung des Hultschiner Ländchens wurde davon nicht entscheidend beeinflußt, was – trotz aller Be­hinderung – die Wahlerfolge der deutschen Parteien bei den Gemeindewahlen 1923, den Nachwahlen 1924 und bei der Parlamentswahl 1925 bewiesen. Moralische Unterstützung gab der in Deutschland gegründete Reichsverband heimat­treuer Hultschiner. Gemäß dem Münchener Abkommen kehrte das Hultschiner Ländchen im Oktober 1938 zu Deutschland zu­rück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es wieder tsche­cho­slo­wakisch, jetzt gehört es zu Tschechien.

In dem wegen seiner musikalischen Begabungen gelobten Länd­chen wurden u.a. geboren: der erste Oberpräsident der Pro­vinz Oberschlesien Joseph Bitta (Langendorf), der Bres­lau­er Domkapellmeister Paul Blaschke (Hultschin), der Initia­tor der katechetischen Bewegung in Ostdeutschland Ernst Du­bowy (Beneschau), der Ratiborer Oberbürgermeister Adolf Kaschny (Köberwitz) und der Schriftsteller August Scholtis (Bolatitz).

Lit.: Gerhard Schellin: Das Hultschiner Ländchen. Eine Landes­kunde. Phil. Diss., Königsberg 1933. – R. Weigel: Hultschiner Länd­chen, in: Staatslexikon, 2. Bd., Freiburg i. Br. 51927, Sp. 1330-1332. – Her­mann Janosch: Das Hultschiner Ländchen, Ratibor 1930. – Handbuch der historischen Stätten. Schlesien, hg. von Hugo Weczer­ka. Stuttgart 1977. Hier die Artikel „Hultschin“ (S. 197-198, von Weczerka) und „Hultschiner Ländchen“ (S. 198-200, von demsel­ben).

Bild: Das Hultschiner Ländchen im Osten Tschechiens/ Quelle: Von Tschubby – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=68902655

Hans-Ludwig Abmeier