In Artikel 83 des Versailler Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 bestimmten die Siegermächte des Ersten Weltkrieges die Abtretung des südlichen Teiles des Kreises Ratibor vom Deutschen Reich an die Tschechoslowakei. Worum ging es?
Bei dem abzutretenden Gebiet handelte es sich um das Hultschiner Ländchen, das sehr fruchtbar war und von der Agrarwirtschaft mit einem hohen Anteil von Großgrundbesitz (Lichnowsky, Rothschild) und vom Steinkohlenbergbau geprägt wurde. Laut Volkszählung von 1910 umfaßte es 340 qkm mit einer Bevölkerungszahl von 45.400 Personen. Die Alliierten konnten sich bei ihrer Entscheidung darauf berufen, daß damals 80 % der Bewohner das Mährische als Muttersprache bezeichnet hatten. Sie wußten nicht – oder wollten nicht wissen -, daß in Oberschlesien von der Umgangssprache nicht auf das Bekenntnis zu einem bestimmten Volkstum oder gar Staat geschlossen werden konnte. Wirtschaftlich und kulturell orientierte sich die zu fast 100 % katholische Bevölkerung, die kirchlich zum Erzbistum Olmütz gehörte, nach Deutschland, speziell zur Kreisstadt Ratibor. Der Hauptort des Hultschiner Ländchens war die Kleinstadt Hultschin.
Im 9.-11. Jahrhundert waren mährische Slawen in das Gebiet gekommen, im 13. und 14. Jahrhundert deutsche Siedler. Als Österreich im Jahre 1742 fast ganz Schlesien an Preußen abtreten mußte, ging auch das Hultschiner Ländchen in den Besitz Friedrichs des Großen über.
Der ganz überwiegende Teil der Bewohner des Hultschiner Ländchens war darüber empört, daß man das Gebiet entgegen dem von den Siegern proklamierten Recht auf Selbstbestimmung der Völker ohne Befragung dem neuen tschechoslowakischen Staat angliedern wollte. Im Juli 1919 fand in Hultschin eine Massenkundgebung der Protestierenden statt, der vielerlei Aktivitäten, die das Verbleiben des Ländchens bei Deutschland zum Ziele hatten, folgten. An der Spitze des regionalen Widerstandes stand der zur politischen Mitte gehörende Ratiborer Seminar-Oberlehrer Reinhold Weigel, der kein Hultschiner, sondern aus dem Kreis Grottkau gebürtig war. Bereits am 11. Juli 1919 führte er eine Abordnung nach Berlin, um den Reichsministern Erzberger und Bell (beide Zentrum) die Wünsche des Volkes vorzutragen. Er reiste auch nach Paris und nach Prag, wo er mit Staatspräsident Masaryk, Ministerpräsident Tusar und Außenminister Beneš sprach, und wirkte führend mit bei der am 14. November 1919 in Hultschin erfolgten Gründung des deutsch-mährischen Volksbundes, der „in letzter Stunde“ an das Gerechtigkeitsgefühl appellierte und das Selbstbestimmungsrecht forderte. Da eine offizielle Volksabstimmung – anders als in den von Polen beanspruchten Teilen Oberschlesiens – verweigert wurde, organisierte Weigel in dem umstrittenen Gebiet eine private Volksbefragung, bei der sich 93,7% der Abstimmungsberechtigten für das Verbleiben beim Deutschen Reich erklärten.
Alle diese Maßnahmen – der frühere deutsche Botschafter in London, Fürst Lichnowsky, wandte sich an den britischen Außenminister Balfour mit der Bitte, sich für eine Volksabstimmung einzusetzen, und die Frauen des Hultschiner Ländchens baten den Papst um Hilfe – hatten keinen Erfolg. Am 4. Februar 1920 wurde das Gebiet von tschechischen Truppen besetzt und tschechischer Verwaltung unterstellt. Danach setzten Unterdrückungsmaßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung ein. Der deutsch-mährische Volksbund wurde aufgelöst und sein Vermögen zugunsten des Staates beschlagnahmt. Im Rahmen der Mitte Februar 1921 durchgeführten Volkszählung zwang man Tausende zur nachträglichen Änderung ihrer Volksangehörigkeitsangabe und senkte dadurch die Zahl der Deutschen unter 20 %, so daß die Minderheitenschutzgesetzgebung entfallen konnte. Das deutsche Schulwesen wurde bekämpft, und die Gemeindevertretungen verfielen der Auflösung, der Ausnahmezustand bestand viele Jahre lang.
Die Mehrheit der Bevölkerung des Hultschiner Ländchens wurde davon nicht entscheidend beeinflußt, was – trotz aller Behinderung – die Wahlerfolge der deutschen Parteien bei den Gemeindewahlen 1923, den Nachwahlen 1924 und bei der Parlamentswahl 1925 bewiesen. Moralische Unterstützung gab der in Deutschland gegründete Reichsverband heimattreuer Hultschiner. Gemäß dem Münchener Abkommen kehrte das Hultschiner Ländchen im Oktober 1938 zu Deutschland zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es wieder tschechoslowakisch, jetzt gehört es zu Tschechien.
In dem wegen seiner musikalischen Begabungen gelobten Ländchen wurden u.a. geboren: der erste Oberpräsident der Provinz Oberschlesien Joseph Bitta (Langendorf), der Breslauer Domkapellmeister Paul Blaschke (Hultschin), der Initiator der katechetischen Bewegung in Ostdeutschland Ernst Dubowy (Beneschau), der Ratiborer Oberbürgermeister Adolf Kaschny (Köberwitz) und der Schriftsteller August Scholtis (Bolatitz).
Lit.: Gerhard Schellin: Das Hultschiner Ländchen. Eine Landeskunde. Phil. Diss., Königsberg 1933. – R. Weigel: Hultschiner Ländchen, in: Staatslexikon, 2. Bd., Freiburg i. Br. 51927, Sp. 1330-1332. – Hermann Janosch: Das Hultschiner Ländchen, Ratibor 1930. – Handbuch der historischen Stätten. Schlesien, hg. von Hugo Weczerka. Stuttgart 1977. Hier die Artikel „Hultschin“ (S. 197-198, von Weczerka) und „Hultschiner Ländchen“ (S. 198-200, von demselben).
Bild: Das Hultschiner Ländchen im Osten Tschechiens/ Quelle: Von Tschubby – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=68902655
Hans-Ludwig Abmeier