Ereignis vom 1. Januar 1945

DIE KIRCHEN UND DIE INTEGRATION DER VERTRIEBENEN

75 Jahre nach der in Potsdam organisierten Vertreibung von 15 Millionen Ostdeutschen aus ihrer angestammten und von ihnen seit Jahrhunderten aufgebauten Heimat darf und muss man fragen, warum es im zerstörten Deutschland der Nachkriegszeit nicht zur Radikalisierung der Vertriebenen kam. Bekanntlich hatten die Tschechoslowakische und die Polnische Exilregierung in London schon unmittelbar nach Kriegsbeginn Vertreibungspläne für die deutsche Bevölkerung vorgelegt. Trotz der Atlantikcharta waren Churchill und Roosevelt damit einverstanden, als letzter auch Stalin, der bei der Umsiedlung von Millionen Menschen in ein zerstörtes Deutschland die Chancen für die Revolution in Deutschland und für eine Weltrevolution in seinem Sinne sah.

Die Unterzeichner der Charta, das waren die Sprecher aller Landsmannschaften der Vertriebenen, haben damals betont, dass es heißt, den Menschen im Geist zu töten, wenn er im Zwang von seiner Heimat getrennt wird. Sie versprachen, „jedes Beginnen mit allen Kräften zu unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können“. Sie riefen die Völker der Welt auf, ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen zu empfinden und zu erkennen, dass dieses Schicksal ein Weltproblem sei, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordere.

Die Charta von 1950 verlangte auch: „Die Völker sollen handeln, wie es ihren christlichen Pflichten und ihrem Gewissen entspricht.“ Die Gegner des Bundes der Vertriebenen wissen nicht mehr, dass es die Kirchen waren, die damals im zerstörten Deutschland den Weltfrieden retteten. Die Radikalen unter einer knappen Million vertriebener Palästinenser halten noch die Welt in Atem und haben zu neuen Nahostkriegen geführt. Die Tausende von ostdeutschen Priestern, die mit ihren Gläubigen 1945/46 vertrieben wurden, predigten schon 1946 in den Massenlagern, was 1950 auch die Charta ausdrückte: „Gedanken der Rache sollen nicht Macht gewinnen über unsere Herzen.“ So kam es zu keinem mitteleuropäischen Gazastreifen, zu keiner deutschen Westbank, in der die Vertriebenen in Lagern blieben, sich von der UNRRA versorgen ließen und ein riesiges Pulverfass und eine Bedrohung des Weltfriedens bildeten.

Die Katholische Kirche: Im Gegenteil bemühten sich die Kirchlichen Hilfsstellen in Frankfurt und München, die Vertriebenen nicht nur zu betreuen, sondern auch zu sammeln. Da politische Vereinigungen der Vertriebenen von den Besatzungsmächten verboten waren, gaben Gottesdienste und Wallfahrten einen kirchlichen Freiraum, um sich mit ebenfalls vertriebenen Landsleuten zu treffen. So kam es schon am 6. Januar 1946 in München zur Gründung der sudetendeutschen Ackermanngemeinde, der das Hilfskomitee der evangelischen Karpatendeutschen ebenso folgte wie der Hilfsbund der katholischen Karpatendeutschen und ähnliche Vereinigungen katholischer und evangelischer Vertriebener. Hand in Hand ging schon damals das Bemühen, eine neue Nachbarschaft mit den Völkern des Ostens aufzubauen. Schon 1947 boten die vertriebenen Danziger Katholiken bei ihrem ersten Treffen in Gemen den Polen die Hand zur Versöhnung. Die Arbeit dieser kirchlichen Hilfsstellen geschah auf christlicher, insbesonders biblischer Grundlage.

„Tröstet, tröstet mein Volk!“ Diese Worte des alttestamentlichen Propheten nach der Vertreibung des Volkes Israel und seinem Elend im Babylonischen Exil standen über dem Wirken jener Heimatpriester, die zu Tausenden mit ihren Gläubigen das Schicksal der Vertreibung trugen.

Sie muteten ihren Gläubigen zu, das Vertreibungsschicksal als einen „Aufbruch aus dem Glauben“ zu bewältigen. Dies ist auch der Titel einer Dokumentation über die katholischen Heimatvertriebenen, die Franz Lorenz erstellte, um den Neuanfang im Deutschland der Nachkriegszeit zu verdeutlichen, der bereits Ende 1945 eingeleitet wurde. „Not ist Anruf Gottes“ besagte ein anderer Titel, der als Festschrift für Augustinerpater Paulus Sladek entstand, den wohl bedeutendsten Theologen des Vertreibungsschicksals. Der 1908 im überwiegend tschechischen Ort Trebnitz bei Lobositz geborene Fritz Sladek war 1926 bei den Augustinern eingetreten und hatte dort den Ordensnamen Paulus erhalten. 1931 wurde er zum Priester geweiht, 1933 wurde er an der Deutschen Universität zu Prag zum Doktor der Theologie promoviert. Als Assistent und Lehrbeauftragter für Dogmatik, als Akademischer Prediger an der Prager Salvatorkirche und als Geistlicher Beirat des Bundes Staffelstein machte sich Pater Paulus früh einen Namen. Da er schon bald mit der Gestapo Schwierigkeiten bekam, meldete er sich zur Wehrmacht und erlebte in einer Sanitätskompanie den zweiten Weltkrieg in der Ukraine, Rumänien und Polen. Mitte 1945 gelangte er nach kurzer Gefangenschaft nach Bayern und fand Arbeit als Geistlicher Leiter bei der Kirchlichen Hilfsstelle in München, die sich damals der Vertriebenen annahm. Obwohl P. Paulus als Augustiner nach dem Krieg stets in Stuttgart-Sillenbuch und in Zwiesel Klöster seines Ordens aufbaute, ist doch seine größte Leistung die als Theologe und Organisator der Flüchtlings- und Vertriebenenseelsorge.

Es galt seit Kriegsende, die vertriebenen Priester zu erfassen, sie materiell zu betreuen, sie in der Seelsorge für die Vertriebenen effektiv einzusetzen und vor allem im kirchlichen Bereich bei den Einheimischen Verständnis und Unterstützung für die Vertriebenen zu gewinnen. P. Paulus regte die Bestellung von Flüchtlingsseelsorgern an und die Abhaltung von Tagungen, Schulungen und Weiterbildungsseminaren für die Vertriebenenseelsorge, er organisierte die ersten Vertriebenenwallfahrten und predigte dabei selbst. Seine Artikel, Memoranden und Predigtskizzen haben nicht nur Anregungen gebracht, sondern viel bewegt und sind bis heute Grundlage einer noch nicht geschriebenen Theologie der Vertriebenenseelsorge. Von ihm stammt das „Sühne- und Gelöbnisgebet“, das bei vielen Gottesdiensten und Wallfahrten der Vertriebenen gesprochen wurden und das bereits vorwegnimmt, was später die Eichstätter Adventserklärung 1949 ausdrückte, die kein Geringerer als Bundeskanzler Konrad Adenauer würdigte und die zur Kernaussage der Charta der Vertriebenen vom 5. August 1950 führte: Auf Rache zu verzichten, aber nicht auf das Recht.

Außer P. Paulus Sladek sei der sudetendeutsche Volksmissionar und Redemptorist P. Augustin Reimann genannt, der 1899 in Deutsch-Wernersdorf im Kreis Braunau geboren war, im Krieg die Nazi-Gefängnisse in Eger und Karlsbad erlebte und nach 25 Jahren fruchtbaren Wirkens in Volksmission und Vertriebenenseelsorge 1970 in Würzburg starb. Immer noch bewegend ist sein Büchlein Auf den Straßen der Vertriebenen. Er verstand es zu trösten und Not zu lindern, indem er seinen Landsleuten von Gerechtigkeit und Liebe in der Vertriebenennot predigte. „Es ist unser Trost, dass alles Menschengeschehen einmal einmündet in die ewige Gerechtigkeit Gottes, die nichts anderes ist als seine Liebe“, schrieb er 1946. Pater Reimann hatte klare Aussagen über die „selbstverständliche Pflicht der austeilenden Gerechtigkeit“ und setzte sich daher für einen gerechten Lastenausgleich ein. Er sprach immer wieder von der „Sünde der Ungerechtigkeit“, wenn sich Einheimische weigerten, den Vertriebenen zu helfen und sich durch alle möglichen Tricks ihrer Pflicht entziehen wollten. „Spätere Zeiten werden einmal die deutsche Volksgemeinschaft unserer Tage danach beurteilen, wie sie diese Probe der Liebe bestanden hat.“

Mit dem Lastenausgleich und der Integration der Vertriebenen kann sich das deutsche Volk dem Urteil stellen. Die Politiker, die damals die Weichen stellten, handelten aus der christlichen Soziallehre heraus und waren oft auch Vertriebene wie Hans Schütz oder Herbert Czaja. Initiiert von Prälat Albert Büttner, dem Leiter der deutschen Auslandsseelsorge vor und während des Krieges und der Kirchlichen Hilfsstelle in Frankfurt entstanden als „Vaterhaus der Vertriebenen“ seit 1946 in leerstehenden Kasernen in Königstein im Taunus die Königsteiner Anstalten mit einem Priesterseminar und einem Gymnasium für die vertriebenen Theologen aus dem Osten. Daraus ging das Albertus-Magnus-Kolleg hervor, dessen Leiter der letzte Rektor des deutschen Priesterseminars in Prag, Prälat Prof. Dr. Adolf Kindermann war, der 1974 als Weihbischof starb.

Er sprach später immer wieder von vier Etappen der Bewältigung der Vertreibung:

  1. Die Zeit der Losung des Propheten Isaias „Tröstet mein Volk“ zur Überwindung der materiellen Not.
  2. Die Zeit der geistig-geistlichen Aufarbeitung der Tragödie der Vertreibung, der theologischen Bewältigung des den Vertriebenen auferlegten Schicksals.
  3. Die Zeit der Überwindung und des kommenden Zusammenbruchs der kommunistischen Ideologie und
  4. die Zeit der Versöhnung mit den Völkern Osteuropas.

Kindermann war seiner Zeit voraus und ein Prophet. Wenn er vom Ende der kommunistischen Herrschaft sprach, wurde er verlacht. Als er zum Bischof ernannt wurde, wählte er als Wahlspruch „Contra spem in spem!“ Hoffen wider alle Hoffnung. Dass dies möglich war, hatte ihm sein Freund, der holländische Prämonstratenserpater Werenfried van Straaten gezeigt, der vom belgischen Kloster Tongerloo aus die Ostpriesterhilfe gründete und als Speckpater noch heute auch nach seinem Tode bei den älteren Vertriebenen unvergessen bleibt. Er hatte nicht nur den Mut, in Belgien und den Niederlanden, also in zwei von den Deutschen 1940 überfallenen und besetzten Ländern um Hilfe für die ehemaligen Feinde zu betteln. Er predigte sogar in Vinckt, einem belgischen Ort, in dem die Deutsche Wehrmachr 1940 die Männer ab 16 Jahren erschossen hatte. Für ihn war der Beschluss der Konferenz von Potsdam, alle Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn auszusiedeln, eine Erbsünde der Nachkriegszeit. Er organisierte die Kapellenwagenmission, er finanzierte Publikationen wie den „Expulsus“ in verschiedenen Sprachen und er konnte im Gegensatz zu Weihbischof Kindermann noch das Ende der kommunistischen Herrschaft und den Fall des Eisernen Vorhangs und der Mauer erleben. Als Holländer erhielt er mit Recht Auszeichnungen des Bundes der Vertriebenen, auch verschiedener Landsmannschaften wie den sudetendeutschen Karlspreis, weil er das lebte und umsetzte, was die Charta wollte: Am Aufbau nicht nur Deutschlands, sondern Europas mit zu helfen.

Die Evangelische Kirche: Als der schwedische lutherische Erzbi­schof Nathan Söderblom auf der Welt­kirchenkonferenz 1925 in Stockholm auch das Thema „Die Pflicht des Chris­ten gegen Volk und Staat“ in die Diskus­sionen und Beratungen dieser großen ökumenischen Konferenz aufnahm, ge­wann er den damaligen Posener Super­intendenten Paul Blau, der damals aus­führte: Ein Christ gehört einem Volke an durch die Landschaft, in der er lebt, die Sprache, die er spricht, die Art, die er an sich trägt. Aber die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volkstum ist ihm nicht Zufall. Er sieht darin Gottes Füh­rung, Gottes Willen, Gottes Gabe. Darum sind Treue gegen Heimat, Liebe zum eigenen Volkstum, Pflege seiner geistigen Kultur, Gebrauch der Mutter­sprache auch einem Christen heilig“.

In eine Entschließung der dritten Kommission dieser Weltkonferenz gingen Blaus Gedanken ein, denn es hieß da­mals: „Die Kirche betrachtet es als eine internationale alle Staaten bindende Verpflichtung, die Rechte der nationa­len, religiösen und rassischen Minoritä­ten zu schützen. Sie sieht in ihnen Brü­der in Not, die einer mitfühlenden Hilfe bedürfen und betont, dass die Kirchen selbst die Verpflichtung haben, für die in ihren Ländern jeweils vorhandenen Mi­noritäten als Beschützer und Anwälte aufzutreten.“

Die Ausführungen Blaus machen deutlich, wie sehr die evangelischen Kirchen im Osten auch ihrem Volkstum verbunden waren. Dies zeigte sich auch beim Schicksal der Vertreibung. Denn noch mehr als die katholischen Vertrie­benen haben die protestantischen Gläu­bigen des deutschen Ostens durch die Vertreibung gelitten. Die Katholiken konnten sich an ihre Kirche als Weltkirche klammern, die supranati­onal und länderübergreifend ist. Die evangelischen Kirchen dagegen sind Landeskirchen, die im Osten „zum Teil ganz aus­gelöscht wurden, zum Teil nur noch in kaum lebensfähigen Resten weiter bestehen und nur zum Teil noch genug Kraft haben, um ein eindrucksvolles Leben zu entfalten“, stellte Pfarrer Friedrich Spiegel-Schmidt schon 1957 fest: „Mit den evangelischen Kirchen des Ostens … ging das Gefäß des Glaubenslebens ihrer Glieder verloren.“

In der Tat brachten Umsiedlung und Vertreibung im Osten Verluste für den Protestantismus, wie sie dieser seit der Gegenreformation nicht gekannt hatte. Von Niederschlesien bis zur Memel ver­schwand die evangelische Mehrheitsbe­völkerung der deutschen Ostgebiete hinter Oder und Neiße, aber auch die teils volkskirchlich, teils stärker pietis­tisch geprägten Diasporagruppen in den Nachbarländern Deutschlands. Jede Kirche des Ostens entließ ihre Glieder mit einem besonderen Erbe, das Herbert Krimm 1949 in dem Sammelband Das Antlitz der Vertriebenen. Schicksal und Wesen der Flüchtlingsgruppen dar­stellte. Hier kann auf diese Vielfalt nicht eingegangen werden, aber es sei an das weltoffen-nüchterne Luthertum der Deutschbalten erinnert, an die besondere kirchliche Prägung der Gliedkirchen der Altpreußischen Union, in der man sich evangelisch fühlte, aber nicht immer konfessionell eng lutherisch. Die Schlesier standen zwi­schen österreichisch-katholischer und preu­ßisch-protestantischer Tradition, in Po­sen-Westpreußen war man national-deutsch geprägt durch die Abgrenzung zum Polentum, das katholisch war. Auch die Gemeinden des alten Ungarns der Stephanskrone in Un­garn, Jugoslawien und Rumänien erlebten diese nationalen Spannungen und bildeten evangelische Kirchen nach Volkstumszugehörigkeit. Pietistische Gruppen waren stark in Wolhynien, Bessarabien und im Schwarzmeergebiet vertre­ten, wo nach dem Ersten Weltkrieg bereits der kommunistische Kirchenkampf ge­wütet hatte.

Die späteren Mitgliedskirchen und Gruppen des Konvents der zerstreuten Ostkirchen zeigen diese Vielfalt. Es waren dies fol­gende evangelische Gemeinschaften aus dem deutschen Osten:

  • Gemeinschaft evangelischer Ost­preußen
  • Hilfskomitee der evangelischen Deutschen aus Ostpreußen
  • Gemeinschaft Evangelischer aus Danzig-Westpreußen
  • Konvent Evangelischer Gemeinden aus Pommern
  • Gemeinschaft evangelischer Schle­sier
  • Gemeinschaft evangelischer Posener
  • Hilfskomitee der Galiziendeutschen A. und H.B
  • Hilfskomitee der evangelischen Deutschen aus Litauen
  • Deutsch-Baltischer Kirchlicher Dienst
  • Kirchliche Gemeinschaft der Evan­gelisch-Lutherischen Deutschen aus Russland
  • Gemeinschaft evangelischer Sude­tendeutscher
  • Hilfskomitee für die evangelisch-lutherischen Slowakeideutschen
  • Hilfskomitee der evangelischen Deutschen aus Ungarn
  • Hilfskomitee der Siebenbürger Sach­sen und der evange-lischen Banater Schwaben im Diakonischen Werk der EKD
  • Hilfskomitee der Umsiedler aus der Bukowina
  • Hilfskomitee der Evangelisch-luthe­rischen Kirche aus Bessarabien
  • Hilfskomitee für die ehemaligen ost­brandenburgischen Kirchengemein­den
  • Hilfskomitee der evangelisch-lutherischen Deutschen aus Polen
  • Hilfskomitee für die evangelische Landeskirche aus Jugoslawien.

Nach ganz Deutschland brachten die Vertriebenen eine völlige Veränderung der alten Konfessionsstruktur, wie sie seit der Reformation und Gegenreformation mit nur wenigen Veränderungen durch Wandlungen während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert bestanden hatte.

1939 gab es im Gebiet der späteren Bundesrepublik noch 94 Landkreise, in denen der Anteil der Hauptkonfession mehr als 95% betrug. 1950 waren es nur noch acht, wobei sieben dieser Kreise in Rheinland-Pfalz lagen, wo die Franzosen in ihrer Besatzungszone keine Vertrie­benen aufgenommen hatten. Dieser Einbruch in die seit der Reforma­tionszeit entstandenen Konfessionszonen löste die 400 Jahre weitgehend erhaltene konfessionelle Homogenität auf und verhalf einer praktischen Ökumene zum Durchbruch. Auch nach 1950 kam es durch die neue Binnenwanderung zwischen den Bundesländern und durch die Zuwanderung aus der DDR zu neuen Verschiebungen in den konfessionellen Verhältnissen.

Kirche, Umsiedler, Flüchtlinge, Vertriebene: Gefordert war die evangelische Kirche bereits bei der Umsiedlung deutscher Volks­gruppen seit 1939 aus dem Balti­kum und 1940 aus Wolhynien und Bes­sarabien, 1941 auch aus Litauen, das 1939 noch nicht wie Estland und Lett­land in die Umsiedlung einbezogen war. In einem Bericht an den Evangelischen Oberkirchen-Rat in Berlin vom 5. März 1940 stellt Generalsuperintendent Blau fest: „Der ganze Osten bringt den regesten Sinn für Kirche, Wort Gottes, Festhalten an Kirche, Gottesdienst und gottesdienstliche Bräuche mit sich.“ Nicht nur bei der Ansiedlung im Warthegau, auch in den Übergangs­lagern arbeitete die Kirche und rüstete sich ungewollt für die kommende Ka­tastrophe. Sie war dann bei der Evakuierung und Flucht in den Trecks präsent, denn auch Amtsträger und Kirchenmänner waren vom Schicksal ihrer Herde betroffen. Wo Pfarrer eingezogen oder gefallen waren, traten Pfarrfrauen, Diakonissen und Laienhelfer an ihre Stelle. Was sie an Großem leisteten, sollte als Heldentat praktischer Nächstenliebe in die Kirchengeschichtsbücher eingehen. In ungeheizten Viehwaggons, in Massen­unterkünften und Lagern wurde gebetet, wurden Choräle gesun­gen, aber auch das Abendmahl gefeiert, wenn ein Pfarrer dabei war.

Hat uns das Leben die Heimat geraubt,

Christus ist Heimat für jeden, der glaubt“,

dichtete damals eine Jugendhelferin und übte die Verse als Kanon ein. Nicht ver­gessen seien auch die wenigen Pfarrer, Pfarrfrauen und Diakonissen, die in der alten Heimat bleiben konnten oder mussten und sich ohne Kirchenbehörde in bitterer Not unter ungeheuerlichen Schwierigkeiten und Strapazen seelsorglich um die verbliebenen Deutschen bemühten. In seinem Beitrag Religiöse Wandlungen und Probleme im evangelischen Bereich im dritten Band der Dokumentation Die Vertriebenen in Westdeutschland bringt Pfarrer Friedrich Spiegel-Schmidt in den Kapiteln Die Kirche der sterben­den Gemeinden und Die Gemeinden hinter Stacheldraht erschütternde Fak­ten aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße und den Nachbarstaaten.

Erst durch die sich nach der Vertreibung bei den Kirchenleitungen im Westen meldenden Ost-Pfarrer gingen manchen Kirchenbehörden der Landeskirchen die Probleme und die Not auf, die es zu bewältigen gab. Die „Ostpfarrer“ wurden nun in die Landeskirchen eingegliedert, die Versorgungslasten für die Arbeitsunfähigen und Pfarrerwitwen übernommen. Es wurden nicht nur neue Gemeinden gegründet, sondern es entstanden auch neue Kirchenwesen wie im katholischen Südbayern, wohin 400.000 evangelische Vertriebene gekommen waren, aber auch das Rheinland, Westfalen und Südoldenburg erfuhren ähnliche Veränderungen. Bei der Gründung neuer Gemeinden stand Bayern an der Spitze (113), gefolgt von Hannover (73) und dem Rheinland (45).

Vertriebenenlager brauchten Jahre hin­durch eigene Seelsorger. Lutherische Gemeinden, Reformierte und Unierte näherten sich an und stellten teilweise bisher unbestrittene Grundsätze des Kirchenrechts in der Diskussion um die Abendmahlsgemeinschaft in Frage. Wie rasch es zur Integration in bestehenden Gemeinden kam, zeigt die hohe Zahl von Kirchenvorstehern, die aus den einzelnen Vertreibungsgebie­ten kamen und wofür uns die Zahlen für 1955 vorliegen. In der Landeskirche Eutin waren 37,4% der Gemeindemitglieder Vertriebene, die immerhin 19,9% der Kirchenvorsteher stellten. Ähnliche hohe Zahlen finden wir in den Landeskirchen Lübeck, Oldenburg, Hannover, Braunschweig und Bayern.

Schon im Juli 1946 traten Vertreter der vertriebenen Ostkirchen in Frank­furt/M. zusammen, um über das Weiterbestehen ihrer Gemeinschaften zu beraten. Später entstanden daraus der Konvent der zerstreuten Ostkirchen und der Ostkirchenausschuss.

Bild: Altar und Mutter der Vertriebenen in der Kollegiatskirche Königstein/ Taunus 1960, Ansichtskarte Albertus-Magnus-Verlag, Königstein/ Taunus.

Rudolf Grulich