Ereignis vom 10. November 1938

Die Reichsprogromnacht

Die orthodoxe Synagoge Ohel Jakob in der Münchner Herzog-Rudolf-Straße nach dem Brandanschlag am 9. November 1938.

Bereits am 20. März 1933 war bei Dachau das erste KZ errichtet worden und am 29. März wurde das 11-Punkte-Programm zum Boykott jüdischer Geschäfte erstellt. Im gleichen Jahr wurden die ersten „Arisierungen“ vorgenommen, etwa in der Leitung der Karstadt-Kaufhäuser; „nichtarische“ Beamte wurden zwangspensioniert und alle Arbeiter und Angestellten „nichtarischer Herkunft“ aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Wie früh sich auch die Kirchen willfährig zeigten, beweist ein Trauverbot, das die Thüringische Landeskirche bereits am 5. Mai 1933 für „Angehörige verschiedener Rassen“ verhängte, und eine der 28 Thesen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, die von der „Rasse als Schöpfung Gottes“ ausgeht und die „Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Rassen als Verstoß gegen Gottes Willen“ sieht. 1934 erfolgten Verbote für die Staatsprüfungen „nichtarischer“ Studenten, Steuerrechts-Sonderregelungen für Juden und der Arier-Nach­weis bei Habilitationen in Preußen. 1935 wurden die Nürnberger Rassengesetze erlassen und Berufsverbote verhängt und am 14. November im Reichsbürgergesetz erklärt: „Ein Jude kann nicht Reichsbürger sein.“

Jahr für Jahr mehrten sich Einschränkungen und Verbote. 1938 wurde am 9. Juni die Münchner Synagoge und am 10. August die Synagoge in Nürnberg zerstört und Juden bestimmte Vornamen verboten. Da im selben Jahr der Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes an das Deutsche Reich erfolgte, wurden alle diese Unterdrückungsmaßnahmen dort übernommen, wie die Reichspogromnacht vom 9. November zeigt, die im Wörterbuch der Unmenschen zynisch als „Reichskristallnacht“ bezeichnet wird, weil in jener Nacht Tausende von Wohnungen und Geschäften jüdischer Mitbürger demoliert wurden. Am 10. November 1938 meldete Reinhard Heydrich an Hermann Göring: „An Synagogen wurden 191 in Brand gesetzt, weitere 76 vollständig demoliert. Ferner wurden 11 Gemeindehäuser, Friedhofskapellen und dergleichen in Brand gesetzt und weitere drei völlig zerstört. Festgenommen wurden rd. 20.000 Juden. An Todesfällen wurden 36, an Schwerverletzten ebenfalls 36 gemeldet. Die Getöteten bzw. Schwerverletzten sind Juden.“ Das Abtragen der zerstörten Synagogen mussten die jüdischen Gemeinden bezahlen, außerdem gab es keinerlei Versicherungsleistungen für die 7.500 zerstörten Geschäfte. Im Gegenteil mussten die jüdischen Gemeinden eine „Sühneleistung“ von einer Milliarde Reichsmark für den Tod des am 7. November erschossenen Legationssekretärs vom Rath aufbringen.

Alle nach der Reichspogromnacht verschärften Diskriminierungen, Verbote und antijüdischen Maßnahmen bis zum Holocaust betrafen nicht nur die Juden im damaligen Deutschen Reich, sondern auch die Juden in den 1938 und 1939 an das Reich angeschlossenen Gebieten wie Österreich und Sudetenland sowie das Memelgebiet und Danzig, während des Krieges auch die späteren Vertreibungsgebiete. Hier lebten auch viele Juden, wie in Galizien, in der Bukowina, Litauen, Bessarabien und Wolhynien, also in Regionen und Ländern, in denen die Juden der deutschen Kultur große Persönlichkeiten schenkten, vor allem im Bereich der Literatur wie Karl Emil Franzos, Joseph Roth, Rose Ausländer, Paul Celan und viele andere. Aus den Reichsgebieten östlich von Oder und Neiße stammen neben Schriftstellern auch jüdische Maler und andere Künstler, berühmte Rabbiner und Politiker, Ärzte und Nobelpreisträger. Ähnliches gilt für das Sudetenland, die Slowakei und Ungarn. Jüdische Nobelpreisträger aus Schlesien sind ebenso zu nennen wie Komponisten aus Mähren und Ungarn oder die Dichter und Autoren des Prager Kreises. Manche von ihnen starben im Lager Theresienstadt, die meisten aber in Auschwitz oder in Lagern im Baltikum und in Weißrussland. Der Komponist Siegfried Fall, der am 10. April 1943 in Theresienstadt ermordet wurde, stammte aus dem mährischen Gewitsch. Sein in Olmütz geborener Bruder Leo gilt neben Franz Lehar als der erfolgreichste österreichische Operettenkomponist. Der Vater Moritz aus Holleschau war Militärkapellmeister in Lemberg und ebenfalls ein Komponist wie seine Söhne, die aber im Schatten ihres Bruders Leo stehen. Dieser starb bereits 1925. Siegfried, der in Berlin lebte, ging nach 1933 in seine mährische Heimat zurück, von wo er 1943 deportiert wurde. Der Bruder Richard arbeitete in Hollywood und Frankreich, von wo aus er nach Auschwitz verschleppt wurde.

Vor diesem Hintergrund ist es endlich an der Zeit, auch bei den Vertriebenen der Reichspogromnacht zu gedenken und nicht durch das Schicksal der Vertreibung beim Klagen stehenzubleiben, sondern eigene Schuld zu bekennen. Denn über das Reich in den Grenzen vom 31.12.1937 hinaus wüteten die Nazis auch in späteren Vertreibungsgebieten; seit 1938 auch im Sudetenland; 1939 im Protektorat und seit 1939 in allen besetzten Gebieten. In Schlesien brannten die Synagogen in Beuthen, Breslau, Brieg, Bunzlau, Cosel, Frankenstein, Glatz, Gleiwitz, Glogau, Großstrehlitz, Grünberg, Guben, Hindenburg, Hirschberg, Katscher, Landeshut, Leobschütz, Liegnitz, Oppeln, Ratibor, um nur die wichtigsten zu nennen.

Wenn die Synagogen nicht in Brand gesteckt wurden, weil man ein Übergreifen des Feuers auf Nachbargebäude befürchtete, wurde die Inneneinrichtung demoliert und wurden die Sakralgegenstände zerstört. Die Brandmauern wurden abgetragen, so dass oftmals nichts mehr an das Gotteshaus erinnerte. Dergleichen geschah in Pommern, West- und Ostpreußen, wofür – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Köslin, Kolberg, Stettin und Stolp für Pommern zu nennen sind, sowiefür Ostpeußen Allenstein, Braunsberg, Heilsberg, Marienberg, Marienwerder, Mehlsack, Schneidemühl, Gumbinnen, Insterburg und Königsberg. In Königsberg brannte die alte chassidische Synagoge und auch die neue Liberale Synagoge. Auch in Breslau und anderen Städten wurden mehrere kunsthistorisch wertvolle Gebäude vernichtet oder ausgeraubt wie die Breslauer Neue Synagoge und die Storch-Synagoge sowie die Synagogen im Israelitischen Krankenhaus, im Rabbinerseminar oder im jüdischen Altersheim. Andere Breslauer Gotteshäuser waren nach Einwanderern benannt wie die Zülzer, die Glogauer oder die Lissaer Synagoge.

Da Österreich seit März 1938 bereits an das Reich angeschlossen war und in der Folge des Münchner Abkommens am 1. Oktober die Wehrmacht ins Sudetenland einrückte, loderten auch von Eger bis Troppau die Flammen. Beispielhaft seien Aussig, Böhmisch Leipa, Brüx, Eger, Komotau, Franzensbad, Gablonz, Kaaden, Karlsbad, Königsberg a.d. Eger, Reichenberg, Marienbad, Falkenau, Tachau, Teplitz und Trautenau genannt. Wo kein Brand gelegt wurde, zerstörte man das Innere. In der Resttschechei, die am 15. März 1939 zum Protektorat Böhmen und Mähren wurde, holte man die Zerstörung durch Sprengung und Abtragung der Synagogen nach. Das geschah in Olmütz unmittelbar einen Tag nach dem Einrücken der Wehrmacht, in der Folge dann in Brünn, Budweis, Iglau und Kremsier, aber auch in tschechischen Gebieten, wo tschechische Faschisten Hand anlegen wie in Klattau.

Wenige Tage nach dem Ende der Tschechoslowakei verlangte das Deutsche Reich am 20. März 1939 von Litauen die Rückgabe des Memellandes, was Litauen am 22. März tat, so dass auch in Memel und Heydekrug die Zerstörung jüdischer Gotteshäuser erfolgte. Als am 1. September 1939 der Weltkrieg begann, wurden in allen besetzten Gebieten Synagogen zerstört. In Polen z.B. in Auschwitz, Biala, Bielitz, Bromberg, Gnesen, Kattowitz, Ustron und vielen anderen Orte, von den bald darauf eingerichteten Ghettos in Krakau und Warschau ganz zu schweigen.

Für Lettland seien Mitau und Riga genannt, für Litauen Georgenburg (Jurbakas) und Wilna, für die Stadt Lemberg die folgenden vier Synagogen: Die Tempelsynagoge der Reformjuden in der Nähe des Alten Ringes, die Goldene-Rosen-Synagoge, die Beit-Chasidim-Synagoge und die Große Vorstadtsynagoge.

In Danzig, das seit dem Versailler Vertrag als eine Freie Stadt unter Schutz des Völkerbundes stand, waren die Nationalsozialisten in der Regierung, mussten aber mit Rücksicht auf den Völkerbund auch andere Parteien anerkennen. Doch bereits vor den Novemberpogromen 1938 kam es zu Schändungen von jüdischen Gotteshäusern; als Danzig dann im September 1939 an das Deutsche Reich angeschlossen wurde, gab es bereits keine Synagoge mehr in der einst „Freien Stadt Danzig“. Die Synagoge in der Halber Gasse, die erst 1932 mit Schule errichtet worden war, wurde schon im August 1938 vandalisiert und 1939 abgerissen, die Große Synagoge wurde ebenfalls schon im August 1938 geschändet, die Neue Synagoge in Danzig-Langfuhr, ebenfalls erst 1926/27 erbaut, wurde am 10. November demoliert, die Synagoge in Danzig-Mattenbuden bereits im August 1938 beschädigt und beim Novemberpogrom in Brand gesteckt, das 1914 erbaute Gotteshau in Zoppot ebenfalls im November 1938 vollständig zerstört.

Professor Meier Schwarz von Synagogue Memorial spricht von 1406 im Gebiet des Deutschen Reiches, zu dem damals am 9. November bereits Österreich und das Sudetenland gehörten.

Synagogen waren und sind Gotteshäuser, sie sind der Mittelpunkt der jüdischen Gemeinden, wo gelehrt, gelernt, versammelt und Gottesdienste gefeiert wird. Was wir derzeit an Barbarei des Islamischen Staates in Syrien und im Irak erlebten, fand bereits 1938 in Mitteleuropa statt. Gotteshäuser waren das Ziel der Zerstörung und die Zerstörung traf die jüdischen Gemeinden in ihrem Nerv. Nicht nur die Gebäude an sich wurden vernichtet, sondern auch sakrale Gegenstände. Ihr Allerheiligstes, die Thorarollen, wurden auf die Straßen geworfen, zertrampelt oder angezündet. In jener Nacht wurden nicht nur über 1.400 Synagogen in Brand gesteckt, sondern 30.000 Juden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Die Zahl von 91 Ermordeten, die Heydrich am 10. November an Göring meldete, ist zu niedrig, wird aber bis heute zitiert. Synagogue Memorial geht von 1.000 Toten aus, wenn man die Zahl derjenigen hinzunimmt, die in den KZs an den Folgen der Haft, Krankheiten und Hunger starben. Außerdem stieg nach der Reichspogromnacht die Zahl der Suizide jüdischer Bürger sprunghaft an: 400 in der Nacht vom 9. auf den 10. November und in den nächsten Tagen weitere 400. Es wurden 7.500 Geschäfte geplündert und jüdische Wohnungen demoliert.

Diese Nacht war, wie ein Betroffener schrieb: „Der Anfang vom Ende, und auch der Anfang vom Ende des Lebens“. Diese Ereignisse steigerten sich danach in ihrer unvorstellbaren Grausamkeit bis zur systematischen Ermordung von Millionen Juden. Die Reichspogromnacht war die Katastrophe vor der Katastrophe!

Lit.: Prof. Dr Meier Schwarz, Syngogue Memorial Jerusalem in Zusammenarbeit mit Karin Lange, Zur Tradierung falscher Opferzahlen: Die „Kristallnacht“-Lüge. – http://www.antisemitismus.net/shoah/ kristallnacht.htm.

Bild: Die orthodoxe Synagoge Ohel Jakob in der Münchner Herzog-Rudolf-Straße nach dem Brandanschlag am 9. November 1938. / Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 146-1970-041-46 / Unbekannt / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5418827

Rudolf Grulich