Ereignis vom 20. Mai 1911

Erster Breslauer Blumentag

In den Jahren ab 1910 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs gab es in verschiedenen deutschen Städten, etwa München, Regensburg, Bayreuth, Chemnitz, Berchtesgaden, Zittau, Plauen, Zwickau, Leipzig, Marburg, Trier, Göttingen und Berlin „Blumentage“. 1912 fand sogar ein Blumentag in Daressalam in Deutsch-Ostafrika statt. Für die Blumentage wurde jeweils eine bestimmte Blume, meistens eine Margerite, ausgewählt und entsprechende Kunstblumen wurden von jungen Mädchen aus dem Bürgertum in blumengeschmückten Kleidern gegen Geldspenden verteilt. Neben Margeriten waren es Kornblumen, Heckenrosen oder Anemonen, die an diesen Tag jeweils in der ganzen Stadt auch als Dekoration, etwa in den Schaufenstern, zu bewundern waren.  An Margeritentagen wurde Geld für die Kinderkranken-pflege in den örtlichen Krankenhäusern gesammelt. An Kornblumentagen wurde die im 19. Jahrhundert entstandene Bedeutung der Kornblume als preußische Blume und Symbol des Deutschtums genutzt und Kriegervereine sammelten für kranke und bedürftige Kriegsveteranen. Außerdem wurden in der Stadt Speisen und Getränke verkauft.

In Breslau fand der erste Blumentag, ein Margeritentag, am Sonnabend, dem 20. Mai 1911, statt. Zwei Millionen künstliche Margeriten waren in Auftrag gegeben worden. Die kunstvolle Postkarte von Helma Fischer wurde in 250.000 Exemplaren gedruckt und das von einer Schülerin der Breslauer Kunst- und Kunstgewerbeschule entworfene Plakat lud überall zum Besuch des Blumentages ein. Es wurde ein großes Ereignis. In den Zeitungen war zu lesen: Am Vortage, am Freitag, fanden die deutsche Ausscheidungskonkurrenz für den Gordon-Bennet-Preis für Freiballons und der Maschinenmarkt statt; diese Veranstaltungen waren bereits in den wohltätigen Zweck des Margeritentages eingebunden. Im zoologischen Garten und im Südpark waren Vorträge von „Massenchören“ von Schülern und Schülerinnen der höheren Lehranstalten zu hören, die am Sonntagnachmittag wiederholt wurden. Als Einleitung zum eigentlichen Margeritentag gab es am Vorabend ein Fest im Stadttheater. Am Margeritentag selbst spielten Kapellen der Garnison auf verschiedenen Plätzen. Studenten zogen als kostümierte Bänkelsänger Trupps durch die Straßen. Auch andere Vereine, etwa Radfahrervereine, zogen durch die Stadt. Am Sonntag sangen zum Abschluss der gesamten Veranstaltung in einer Matinee im Konzerthaus 500 Volksschüler und Volksschülerinnen.

Die – aus heutiger Sicht –  idyllischen Blumentage führten damals zu heftigen Diskussionen zwischen den Wohltätigkeitsvereinen, Anhängerinnen der bürgerlichen Frauenbewegung und der Sozialreform, Mitgliedern der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften. In der Sammlung auf den Straßen sah man eine sittliche Gefährdung der jungen Mädchen. Ein Genrebild „Berliner Wohltätigkeits-Backfisch steckt jungem Arbeiter die Blume ins Knopfloch“ wurde als Pose des „Hinabsteigens zum Volk“ kritisiert. Die Gewerkschaften wandten sich gegen die Blumentage, da durch die billige Massenproduktion der Kunstblumen die sowieso schon niedrigen Löhne weiter gedrückt würden. Sogar zeitgenössische Schriftsteller nahmen Stellung. Kurt Tucholsky kritisierte die Blumentage mit seinem Gedicht „Blumentag“ 1911 als „gönnerhafte soziale Anwandlung des konservativen und wohlhabenden Bürgertums, mit der eklatante Versäumnisse der Regierung kaschiert würden“ (Wikipedia). Wohlmeinend versöhnlich lässt demgegenüber Klabund 1913 aus anderer Sicht – ebenfalls in einem Gedicht mit dem Titel „Blumentag“ – „die kleine Gräfin“ sagen:

Wie befreit ich atme!
Keckheit wurde Pflicht –
Lächelnd zieh ich vom Gesicht
Schleiertuch der Fatme.

Denn wie die Morgenländerin
Ging ich sonst behütet,
Mutter hat gewütet,
Wenn ich lächelte …

Aber heute springt mein Blick
über alle Hürden,
Meines Standes Bürden
Werfe ich zurück.

Keinem Gegenblicke will ich wehren,
Schaffner und Kommis –
Ach, ich wusste nie,
Dass sie liebe Menschen wären.

Hefte ich die Margerite
Ihnen an die Brust,
Fühl ich Lust um Lust,
Wie mein Herz erzittert …

 

Dr. Ingolf Au und Michael Ferber (19.04.2021)