Ereignis vom 1. Januar 1908

Gerhart Hauptmanns „Griechischer Frühling“ erscheint

Gerhart Hauptmann von Hugo Erfurth, 1929

Gerhart Hauptmanns Reise nach Griechenland begann am 26. März 1907 und dauerte bis Ende Mai. Der Dichter trat sie in Triest an Bord des Dampfers Salzburg an, und ihn begleiteten seine Frau Margarete, die Söhne Benvenuto und Ivo, der „reizvolle Pastellzeichnungen“ anfertigte (s. Sprengel zu seiner Aus­gabe des Griechischen Frühlings, Propyläen 1996). Auch der mit dem Dichter befreundete Maler Ludwig von Hofmann und seine Frau waren dabei. Peter Sprengel weist auch darauf hin, dass dieser Aufbruch des Dichters nach Griechenland vor allem auf das Drängen des Freundes Hofmann erfolgte. Und damit verwirklichte nun Hauptmann einen Plan, dem bereits ein Vorhaben von 1883 gegolten hatte. Als er zum Wintersemester 1882/83 an der Universität Jena ein Akropolis-Kolleg gehört hatte, war in ihm die Sehnsucht geweckt worden, „die Herrlichkeit dieser Götterhöhe unter dem anderen Blau des griechischen Himmels lieber heut als morgen mit Augen zu sehen. Ich wusste kaum, wie ich ihr widerstehen sollte.“ Jena hatte der junge Hauptmann als einen mehr unter griechischer als unter deutscher Sonne liegenden Ort empfunden; in Jena war er in eine „dämonische Welt“ geraten, er betrachtete die Stadt in Thüringen gleichsam als sein„Saale-Athen“.

Während der griechischen Reise von 1907 führte der Dichter sorgfältig Tagebuch. Es wurde im Sommer 1907 überarbeitet und erschien 1908 bei S. Fischer unter dem Titel Griechischer Frühling – gewidmet Harry Graf Kessler, der über das Buch einen gruhttps://kulturstiftung.org/wp-content/uploads/1353-Burg_Allenstein-660×440.jpgndlegenden Beitrag schrieb (Maiheft 1909 der Neuen Rundschau, Berlin) und darin das Anliegen des Dichters im Kern darzulegen wusste: „… im Mittelpunkt stehen in diesem Buch die Hirten und die Tiere und die Blumen, ‚diese kleinen göttlichen Wesen‘ … Hauptmanns Buch ist … ein Hirtenbuch. Es ist das erste Buch eines Deutschen, eines ganz zwischen Acker und Bergen Aufgewachsenen, über Griechenland … mit dem Hirten ist Hauptmann bis an die Wurzel des eigentlich Griechischen gelangt, so daß sich in seinem Buch das Griechentum vor uns aus seinem Fundamente aufbaut. Dieses Fundament ist die Vergöttlichung der Wirklichkeit, wie sie in ihrer Urform die Hirtenvisionen im Gebirge darstellen … Das griechische Wunder … besteht darin, dass die Griechen es vermochten, das Göttliche in der Welt festzuhalten bis in die Zeit ihrer höchsten Kultur, bis über Homer und Pindar und die Tragiker hinaus, ja bis über Sokrates hinaus bei Plato … Indem Hauptmann von dieser den Griechen eigenen Kraft zu heiligen ausgeht, ordnet sich ihm alles Griechische wie von selbst in die richtigen Proportionen und Zusammenhänge . – … Von einer visionären Phantasie ausgehend kommt Hauptmann, wie die Griechen, zu einem mystischen Naturgefühl … Dieser Weg führt Hauptmann dann ebenso wie die Griechen weiter zum Drama …“

„Seltsam eingringlich wird es mir“, so bekannte der Dichter, „wie das Griechentum zwar begraben, doch nicht gestorben ist … wenn man erst alle die Schichten kennt … so kommt auch vielleicht für das lebendige Griechenerbe die große Stunde der Ausgrabung.“ An der Küste von Korfu wird dem Dichter das Mysterium der griechischen Religion zum Erlebnis, und hier beginnt er ein Telemach-Drama zu schreiben – den späteren Der Bogen des Odysseus. Im Banne Hauptmanns war Ger­hart Pohl, als er den Garten Mon repos auf Korfu, der Besitzung des Griechenkönigs, aufsuchte: „Vielleicht war einer unter ihnen, der lichttrunkenen Blicks das Heiligtum Apollons in dem breiten grünen Uferband sichtete, der Odysseus. Hier ist er dem Zauber der Kirke erlegen … So schwebt die schmückende Sage an der Kette der Wirklichkeit … wie Hauptmann die einzigartige Mischung aus lichter Schönheit und rauschhafter Dämonie erspürend den Garten der Kirke genannt hat. Wie sollte Kirke mich noch schrecken! Voraus fliegt melodisch knarrend ein Rabe auf. Ich blättere im ‚Griechischen Frühling‘. Hier steht es: ‚Ich sehe ihn täglich, nun schon zum dritten Mal – den Lieblingsvogel Apollons.‘ Und im fliederfarbenen Spätlicht steht der Tempel des Lichtgottes – nicht mehr Ruine, sondern gottgewollte Erscheinung.“

In Eleusis wird dem Dichter das Demetermysterium zum nachhaltigen Erlebnis: „Demeter ist eine irdisch-leidende Göttin, deren müttlerliches Schmerzenschicksal selbst durch den Richterspruch des Zeus nur gemildert, nicht aufgehoben ist.“ In Delphi, „zwischen den Trümmern des steilen Tempelbezirks … in dieser überwältigenden Nähe der Natur, dieser geharnischten roten Felsbastionen, die den furchtbarsten Ernst blutiger Schauspiele von den Menschen zu fordern schienen (anders wie im Theater von Athen, tiefer und grausamer und mit größerer Macht) … offenbart sich hier das Tragische, und zwar als die schaudernde Anerkennung unbeirrbarer Blutbeschlüsse der Schicksalsmächte: keine wahre Tragödie ohne den Mord, der zugleich wieder jene Schuld des Lebens ist, ohne die sich das Leben nicht fortsetzt, ja, der zugleich immer Schuld und Sühne ist.“ Und es heißt: Das Wesen der Tragödie ist das Menschenopfer gewesen; der Tempelbezirk Delphis ist daher „blutgetränkt“. Erhart Kästner, der Hauptmanns Sekretär 1936/37 war, erinnert in seinem Griechenlandbuch Ölberge, Weinberge an jene Stelle im Griechischen Frühling, wo der Dichter in den Bann der Einbildung gerät, „als schreite … Christi Gestalt mit nach Delphoi herauf. An dieser emmausartigen Abendvision kann man die bekehrende Kraft eines Bildes erfahren. Vielleicht ist es auch die einzig mögliche Art, sich als Christ dieser heilgsten Stätte der Griechen zu nähern, indem man der Hochburg der Bilder ein Bild wie dieses zubringt. In Delphoi rückt Christi Gestalt in die Mitte, weil hier das Geheimnis des Griechischen am dichtesten und brennendsten ist.“

Als Gerhart Hauptmann die Akropolis betritt, werden Erinnerungen an seine Jenaer Studienzeit wach: Das Kolleg von Professor Rudolf Gaedechens. „Ich finde, dass diese Ruinen einen spröden Charakter haben, sich nicht leicht dem Spätgeborenen aufschließen. Wie der Parthenon jetzt ist, so heißt seine Formel: Kraft und Ernst! Davon ist die Kraft fast bis zur Drohung, der Ernst fast bis zu Härte gesteigert. Die Sprache der Formen ist so bestimmt, dass ich nicht einmal glauben kann, es sei durch die frühere bunte Bemalung ihrem Ausdruck etwas genommen worden.“

Weitere dichterische Vorhaben, die Hauptmann in der griechischen Landschaft bewegen, gehen in ihren Anfängen wiederum in seine Tage in Jena zurück – so ein Lykophron-Drama: „Ich bin überzeugt, daß tiefe Zwiste unter nahen Verwandten unter die grauenvollsten Phänomene der menschlichen Psyche zu rechnen sind.“ Der Lykophron-Stoff hat Hauptmann sein ganzes Leben begeitet: Noch im Jahre 1944 äußerte der Dichter sein Interesse an dieser Thematik, wobei sich der Blickwinkel verschoben hatte: nun sei nicht mehr Lykrophon die Hauptgestalt, sondern Periander (Peter Sprengel: „Der Kultus, den Periander mit der Leiche treibt, wird Hauptmann zum Gleichnis einer sehr persönlichen Erfahrung.“). Mykene („Wo ist das Blutlicht, mit dem Aischylos und Sophokles durch die Jahrhunderte rückwärts diese Stätte beleuchteten? Es ist von der Sonne Homers getilgt.“). Und Erinnerungen an das frühere Anna-Erlebnis, das mit Hauptmanns Tagen in Lederose verknüpft bleibt, sind mit dem dem Besuch in Agros-Sparta verbunden: „Eindrücke meines frühen Jünglingsalters steigen auf. Ich vergesse minutenlang, dass die verwilderte Rasenfläche unter meinen Füßen der Boden von Sparta ist. Dann kommt es mir vor, als wandle ich in jenem kleinen Obstgarten, der an das Gutshaus meines Onkels stieß, und etwas vom Tanze der nackten Mädchen Spartas und erster Liebe ginge mir durch den Kopf.“

Beim Abschied, der von Piräus mit dem Dampfer Galata über Konstantinopel erfolgt, beschließt ein Hymnus auf Athen diesen Griechischen Frühling: „Hier ist das Licht, das Auge und das Herz, das Haupt … die Blüte von Griechenland: heute des neuen, wie einst des alten! Ich empfand das lebhaft, trotz aller großen Landschaftseindrücke meiner peloponnesischen Fahrt, ehe ich nach ununterbrochener Reise von Kalamata wieder hier anlangte. Athen ist durch seine Lage geschaffen, und Griechenland ohne Athen wäre niemals geworden, was es war und was es uns ist. Der freie, attische Götterflug hat den freien attischen Geistesflug hervorgerufen. Dieser Hymettos, dieser Pentele, dieser Lykabettos, dieser Fels der Akropolis sind keine Zufälligkeit. Alles dieses trägt den Adel seiner Bestimmung im Angesicht.“

auGerhart Hauptmanns Bekenntnisbuch wurde in Griechenland kaum beachtet, obgleich er im Mai 1909 mit dem griechischen Ordre Royal du Sauveur (Croix d’Officier) ausgezeichnet wurde. Erst 1925 erschien eine umfangreiche Untersuchung To natouralistiko drama über den Dichter in der Athener Zeitschirft Philike Hetairia, ohne freilich sich näher mit dem Griechischen Frühling auseinander zu setzen. Tief beglückt war der Dichter, als ihn im Juni 1933 die Akademie in Athen zu ihrem Korrespondierenden Mitglied ernannte – um der „episteme kai arete“, dem tiefen Wissen der inneren Vollkommenheit willen, wie es in der Urkunde heißt. Hauptmann antwortete: „Ich bin durch leidenschaftliche Neigung seit meiner Frühzeit mit Athen verbunden – sowohl mit der ewigen Gegenwart seiner Vergangenheit als der Erneuerung seiner Gegenwart in Jugend. Die schönste Episode meines Lebens war wohl die, da ich das mit der Seele gesuchte und bewohnte Griechenland wirklich betreten durfte … Die Unbegrenztheit des Geistes gestattet es leicht, sich als erste aller Akademien, durch Platon begründet, und die heutige über Adamantios Korais als Einheit vorzustellen und alte und neue Mitglieder als von einem Bande umschlungene Geisteskameraden …“. Hauptmann spricht in seiner Antwort an die Athener Akademie von den „umschlungenen Geisteskameraden“ als Schöpfer und Zeugen einer zwar vielfach unterbrochenen, ja auseinanderstrebenden, nun endlich aber im „Henk ai pan“ (Ein und Alles) mündenden Gemeinsamkeit der Substanz Europas …

Gerhart Hauptmann hat zwar Byzanz als Formkraft des nachantiken Griechenlands nicht anerkannt (Gerhart Pohl), doch sein Bild des Griechentums als der chtonischen Macht der Hirten, Tiere, Blumen und der halkyonischen Mythen ist Zeugnis genug für das schicksalhafte Zusammenspiel des Antik-Christlich-Humanistischen – also Europäischen.

Lit.: Peter Sprengel (Hrsg.): Gerhart Hauptmann, Griechischer Frühling, Reisetagebuch Griechenland-Türkei 1907, Frankfurt am Main/Berlin 1996. – Harry Graf Kessler, Griechischer Frühling, in: Künstler und Nationen, Aufsätze und Reden 1899-1933, Bd. 2, Frankfurt am Main 1988. – F.A. Voigt, Gerhart Hauptmann und die Antike, Berlin 1965. – Peter Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachalsses, Berlin 1982.

Bild: Gerhart Hauptmann porträtiert von Hugo Erfurth, 1929 / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Günter Gerstmann (OG 2008, 258)