Ereignis vom 1. Januar 1596

Gründung der Danziger Stadtbibliothek

Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften

Danzig gehört zu den wenigen deutschen Städten, in denen bereits im 15. Jahrhundert Ansätze zur Errichtung einer öffent­lichen Bücherei zu finden sind. Am 24.6.1413 bestätigte der Ordenshochmeister Heinrich von Plauen dem an der Marien­kirche tätigen Geistlichen Andreas Slommow die Aufstel­lung einer rund 100 (Handschriften-)Bände umfassenden Pfarrbi­bliothek, die vorwiegend zu Studium und Weiterbildung der kirchlichen Amtsträger be­stimmt war und die auch nur Theologica enthielt. Durch Zuwendungen und Legate Danziger Bürger wie auch einzelner Pfarrherren wuchs die Marien­biblio­thek weiter, doch geriet sie schon nach gut hundert Jahren in Unord­nung und anschließende Vergessenheit, als die Einfüh­rung der Reformation eine Interessenverlagerung herbeiführte. Humanismus und Renaissancekultur, die zunehmende Laien­bildung und nicht zuletzt die Erfindung der Buchdruc­kerkunst weckten dagegen in der Öffentlichkeit das Verlangen nach Büchern und Büchereien. Während die Säkularisation der Klöster vielerorts den Grundstock zur Errichtung von städti­schen Bibliotheken bot, blieb man in Danzig auf diesem Gebiet seltsam passiv. 1555 wurde das Franziskanerklo­ster dem Rat zur Einrichtung einer Schule übergeben und 1558 darin der Betrieb des Gymnasiums eröffnet. Die gleichzeitig übernom­mene Klosterbi­bliothek, die laut Inventar 1054 Bände umfaßte, führte dagegen ein Schat­tendasein. Möglicherweise hielt der Rat diesen Bücherschatz für die schuli­sche Fortbildung im Geiste Luthers für ungeeignet; in den folgenden Jahr­zehnten verringerte sich der Bestand erheblich und die Stadtväter mußten sich den Vorwurf mangelnder Sorgfalt gefallen lassen. Es bedurfte erst eines seltsamen Zwischenfalls, ehe sich die damals weltoffene und reiche Stadt, die dem wirtschaftlichen ebenso wie dem künstlerischen Höhepunkt ihrer politi­schen Selbständigkeit entgegenstrebte, zur Begründung einer öffent­lichen Bibliothek entschloß. Im Jahre 1591 strandete vor der Weichselmündung ein Schiff, aus dem der italienische Edel­mann Marchese d’Oria zusammen mit seiner wertvollsten Ha­be, einer großen Büchersammlung, gerettet werden konnte. Dieser Zufall gab den Anstoß zur Errichtung einer der wissen­schaft­lich bedeutendsten und reichhaltigsten Bibliotheken des deutschen Ostens, die weit über den lokalen Bereich hinaus­wirkte. Was hatte es nun mit diesem Schiffbrüchigen und sei­nem Schicksal auf sich?

Giovanni Bernardino Bonifacio, Marchese d’Oria, wurde 1517 in Neapel als Sproß einer reichen und alteingesessenen Familie geboren. Er widmete sich früh wissenschaftlichen und religiö­sen Studien und kam mit dem Protestan­tismus, besonders mit den Schriften Melanchthons, in Berührung. Er wandte sich daraufhin entschieden der neuen Lehre zu und geriet zwangs­läufig in Konflikt mit der alten Kirche und der Inquisition. Er verließ 1556 seine Hei­mat und begann ein 35 Jahre währendes, unstetes Wanderleben durch fast alle Länder Europas, begleitet von einer ständig wachsenden Büchersamm­lung. Er zog zu­nächst nach Venedig, Basel und Triest, mußte aber immer wieder vor Nachstellungen fliehen. Weitere Stationen waren Lyon, Paris und London, längere Aufenthalte nahm er in Lör­rach/Baden und schließlich, auf Einladung litauischer Adliger, in Wilna, wobei die religiöse Toleranz der polnischen Adelsre­publik auf ihn nachhaltigen Eindruck machte. Durch die 1589/90 ausbrechende Pest verließ er Litauen in Richtung England, von wo er im Jahr darauf die Rückreise nach Wilna antrat. Auf dieser Fahrt erlitt er am 25.8.1591 in der Danziger Bucht Schiffbruch, bei dem er bis auf seine mitgeführten Bü­cher alles verlor. Der erblindete Greis war auf die Hilfsbe­reitschaft des Danziger Rats angewiesen, die ihm auch in groß­zügiger Weise zuteil wurde. Die Stadt gewährte ihm eine dau­ernde Bleibe mit einer Zehrung von einem ungarischen Gold­gulden wöchentlich; als Gegenleistung übertrug er seine mehr als 1000 Bände umfassende Bibliothek, darunter Werke von großer Seltenheit, dem 1558 gegründeten Akademischen Gymnasium im ehemaligen Franziskanerkloster, in dem er selbst auch Aufnahme fand. Hier lebte er im Verkehr mit der Danziger gelehrten Welt bis zu seinem Tode am 24.3.1597, woraufhin er in der benachbarten Trinitatiskirche beigesetzt wurde und ein vom Bürgermeister Bartholomäus Schachmann gestiftetes Epitaph erhielt.

In dem Überlassungsvertrag hatte Bonifacio seine Schätze abgetreten „zu einer sonderlichen Stiftung einer Lieberey [= Bi­blio­thek] und zum ewigen seines Nahmens Gedächtnüß, darmit sich derselben gelertte Leutte undt die liebe christliche Jugendt zu ihren Besten gebrauchen mögen“. Eine einzige Bedingung war von seiner Seite daran geknüpft: Die Bücher sollten nie in die Hände der Jesuiten als seiner ärgsten Feinde fallen. Über den Umfang und die Titel dieser Büchersammlung sind wir durch zwei Kataloge – einen vor dem Schiffbruch, den anderen vom ersten Danziger Bibliothekar Asaricus ange­legt – gut un­ter­rich­tet. Danach besaß Bonifacio ursprünglich 1265 Bände, von denen später rund 1115 Bände (ca. 1040 Titel) den Danzi­ger Bestand bildeten. Er umfaßte annähernd das gesamte „klas­si­sche“ Repertoire der da­maligen Zeit: die alten Schriftsteller (Ovid, Horaz, Vergil, Plutarch, Cicero) und Philosophen (Ari­sto­teles, Epiktet, Seneca), die Schriften der Kirchen­väter und

-lehrer sowie wissenschaftliche Werke, speziell Medizin und Phar­­makologie. Die vielen Marginalien und Ergänzungen in den Büchern zeigen, daß Bonifacio sie alle gelesen und dem­nach ein enges und per­sön­liches Ver­hältnis zu ihnen besessen haben mußte. Diesen wertvol­len Fun­dus benutzte der Rat, um ihn zu einer größeren wis­senschaft­li­chen Biblio­thek aus­zu­ge­stal­ten, damit sie „unversehrt aufbe­wahrt und der Nachwelt erhal­ten werde, dem Gym­na­sium und den übri­gen Schulen zur Zier­de, der Stadt zum Schmuck, den Studie­ren­den zum Ansporn und zum Nutzen“, wie es in der Gründungs­urkunde von 1596 hieß.

Die neue Bibliothek, für die schon im Jahr darauf ein Buch­eig­ner­zeichen ge­schaffen wurde (siehe die Abb.), blieb zunächst auf die Bedürfnisse des Gymnasiums und die dort betriebenen Studien beschränkt. Leitung und Für­sorge lagen gleichermaßen beim städtischen Rat. Dabei muß festgehalten werden, daß die Stadt zunächst nur in sehr geringem Ausmaß finanzielle Mittel für ihre Bibliothek aufwandte. Zwar kamen gelegentlich größe­re An­käufe von Büchern vor, besonders aus Nachlässen von Theologen, Juristen oder Buchhändlern, worunter sich z.B. auch die Sammlung des Stadtsekre­tärs und bekannten preußi­schen Geschichtsschreibers Caspar Schütz befand (1597). Größere Bedeutung erlangten dagegen die privaten Geldstif­tungen, die der Bibliothek unmittelbar vermacht wurden und ihr eine hinreichende Ausgestaltung sicherten. Mehr noch sind die Schenkungen von Büchern her­vorzuheben, die von Anbe­ginn der Bibliothek in reichem Maße zuflossen und die eigent­lich als die Hauptquelle ihrer Vermehrung gelten können. Die Pa­trizier, die Kaufleute und Ratsherren der Stadt waren auf­grund ihrer teilweise gründlichen gelehrten Bildung vielfach eifrige Büchersammler, und die mei­sten der Danziger Privat­sammlungen fanden früher oder später ihren Weg in die Stadtbibliothek. Unter den finanziellen Zuwendern verdienen besonders die Namen der Danziger Bürger Ölhaf, von Schmie­den, Behm, Freder und Schlieff Erwähnung, wobei die Familie des letzteren über mehrere Genera­tionen eng mit den Geschic­ken der Bibliothek verbunden war und ihr neben Geldgeschen­ken auch große Bücherschätze vermacht hat. Weitere private Büchersammlungen, die in der Frühzeit an die Stadtbibliothek übergingen, stammten von Adrian Engelcke und Michael Christoph Hanow, beide selbst als nebenamtliche „Biblio­the­ka­re“ dort tätig. Einen starken Anstieg dieser Zu­gänge verzeich­ne­te dann das 19. Jahrhundert, als mehrere geradezu be­rühmte Privatbibliotheken wie die von Heinrich Schwarzwald, Theo­dor Kniewel, Gotthilf Löschin und na­mentlich die der Familien Gralath und Uphagen übernommen wurden. Sie umfaßten oftmals mehrere tausend Bände und enthielten ebenso oft Kost­bar­kei­ten und Raritäten, die der Bi­bliothek auf dem normalen Anschaf­fungsweg niemals zugefallen wären. Der erwähnte Geschichtsschreiber und Bibliothekar Gotthilf Löschin benennt in seiner weitverbreiteten Stadtbe­schreibung „Danzig und seine Umgebungen“ von 1828 einige der Kostbarkeiten aus seiner Sicht: „Zu ihren vornehmsten Schätzen gehören ein Pracht­ex­em­plar der ‚Machina coelestis‘ des Joh. Hevelius, und ein ähn­li­ches von seiner ‚Seleno­gra­phie‘. Beide sind von ihm selbst unge­mein sauber koloriert und sol­len zum Geschenke für Ludwig XIV. be­stimmt gewesen sein. Der Ratsherr Broen bezahlte sie in einer Auktion mit 3.003 Danziger Gulden, und aus dem Nachlasse seines Sohnes kamen sie in diese Biblio­thek. Sodann ein von Luther auf der Wartburg ausgearbeitetes Manu­script, welches der Bürger­mei­ster Schwarz für einen hohen Preis in Augsburg ankaufen ließ, und ein Frobenscher Psal­ter mit einem von dem großen Refor­ma­tor eigenhändig geschriebenen Berichte über seine Exkom­muni­kation. Auch mit mehreren kostbaren Kup­ferwerken, vor­nehm­lich Rei­se­be­schrei­bungen, ist diese Bü­chersammlung aus­ge­stattet. Vor allen gehört dahin die ‚Description de l’Egypte‘, welche an 1000 Rthlr. kostet. Unter den Bildern, die man hier findet, zeich­net sich ein Originalge­mälde Luthers von Lukas Cranach und ein Portrait des Dich­ters Opitz aus.“

Die eigentliche Leitung der Stadtbibliothek lag, solange sie noch im Verbund mit dem Gymnasium untergebracht war, in der Hand eines Mitgliedes des „Collegium scholarchale“, das als „Protobibliothecarius“ vom Rat dazu be­stimmt wurde; spä­ter erhielten Geistliche oder Lehrer an höheren Schulen das Amt des Bibliothekars nebenamtlich übertragen. Im Jahr 1896 gab es dann zum ersten Mal einen wissenschaftlichen Berufs­bibliothekar in der Per­son Otto Günthers (1864-1924), der sich um die Erschließung und Katalogi­sierung der Bestände sowie um die Neugestaltung der Bibliothek nach den Erfordernissen des neuzeitlichen Wissenschaftsbetriebes große Verdienste erwarb. Bereits einige Jahre zuvor (1892) war der erste Band der gedruckten „Kataloge der Danziger Stadtbibliothek“ erschienen, der die die Stadt Danzig betreffenden Handschriften verzeichnete. Als dann 1921 der sechste und vorerst letzte Band dieses Katalogs herauskam, lag ein beeindruckendes Werk vor, dessen wissenschaftlicher Wert nicht hoch genug zu veranschlagen war und das unter den deutschsprachigen Bi­bliotheken seinesgleichen suchte.

Nachdem 1819 die Stadtbibliothek aus dem Franziskanerklo­ster in die für den Gottesdienst nicht mehr verwendete St. Ja­kobskirche umgezogen war, genügte gegen Ende des Jahrhun­derts diese Unterbringung nicht mehr. Es wurde die Errichtung eines modernen Zweckbaus vorgesehen, der sich in Kon­struk­tion und Stil an das benachbarte, gerade fertiggestellte Ge­bäude des Danziger Staatsarchivs anlehnte und 1905 bezogen werden konnte. An der Ecke Schüsseldamm/Am Jakobstor stand neben dem Verwaltungsgebäude ein sechsstöckiges Bü­chermagazin, das 250.000 Bänden Platz bot. Der ak­tuelle Bü­cherbestand belief sich damals auf etwa die Hälfte; er war von 26.000 Bänden im Jahr 1806 auf 45.000 um die Jahrhundert­mitte und auf 111.000 im Jahr 1899 gestiegen; 1914 erreichte er bereits 170.000 Bände. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten auch zahlreiche Vereine und Körperschaften ihre Büchersammlun­gen der Stadtbibliothek überlassen, und in gleicher Weise sind die wertvollen Konvolute alter Musikalien in den Kirchenbi­blio­theken von St. Katharinen, St. Johann und St. Marien auf­genommen worden.

Charakter und Aufgaben der Stadtbibliothek waren (und sind) durch ihre Ge­schichte geprägt. Sie war – und ist es auch noch heute – eine wissenschaftli­che Institution, die in ihrem An­schaffungsplan alle Wissenszweige berück­sichtigte, soweit ihre Mittel es erlaubten und nicht andere Spezialbibliotheken am Ort, wie z.B. der Technischen Hochschule oder der Naturfor­schenden Gesellschaft, ihre eigenen Bereiche pflegten. Es waren besonders die Gei­steswissenschaften, Philosophie und Sprachen, Staats- und Rechtswissen­schaften, Länder- und Völkerkunde sowie Geschichte, deren Publikationen laufend ergänzt wurden. Neben dem städtischen Archiv war die Stadt­biblio­thek aber auch zugleich das Reservoir der reichen Über­lieferung zur Danzi­ger Stadt- und westpreußischen Landesge­schichte, soweit sie in gedruckter Form ihren Niederschlag gefunden hatte. Hierzu gehört auch im weitesten Sinne die Geschichte Polens, die in jüngster Zeit naturgemäß einen be­sonde­ren Stellenwert erhalten sollte. Auch mit ihren rund 3.000 Handschriften, unter denen sich wichtige Chroniken und Textsammlungen zur Orts- und Landesgeschichte befinden, besitzt die Stadtbibliothek einen Fundus, der ihr in der histori­schen Forschung einen hohen Rang sichert.

Den Zweiten Weltkrieg hat die Stadtbibliothek mit erheblichen Schäden überstanden; ungefähr drei Viertel des Altbestandes dürfte erhalten geblieben sein. Sie ist heute, noch an gleicher Stelle, eine Institution der Polnischen Akademie der Wissen­schaften (Biblioteka Gdañska Polskiej Akademii Nauk). Gleichfalls am alten Platz hängt auch heute noch im Lesesaal

das Porträt des Bernardino Bonifacio, Marchese d’Oria, des unfreiwilligen, aber selbstlosen Stifters der Danziger Stadtbi­bliothek.

Lit.: Otto Günther u. Karl Kleefeld: Die Danziger Stadtbibliothek. Ihre Ent­wicklung und ihr Neubau, Danzig 1905. – Friedrich Schwarz: Die Danziger Stadtbibliothek und die heimische Geschichtsforschung, in: Mitt. d. West­preuß. Geschichtsvereins 27 (1928), S. 33-47. – Man­fred Welti: Die Biblio­thek des Giovanni Bernardino Bonifacio, Mar­chese d’Oria, 1517-1597. Der Grundstock der Bibliothek Danzig der Polnischen Akademie der Wissen­schaften. Bern u.a. 1985. – Irena Fabiani-Madeyska: Fundator Biblioteki Gdañskiej 1596 Jan Bernard Bonifacio Markiz Orii [Der Stifter der Danziger Bibliothek 1596 Jo­hann Bernard Bonifacio, Marquis d’Oria]. Gdañsk 1991. – Marian Pelczar: Biblioteka Miejska w Gdañsku 1945-1953 [Die Stadtbiblio­thek in Danzig 1945-1953], in: Rocznik Gdañski 13 (1954), S. 159-180 (auch: Wiss. Dienst f. Ostmitteleuropa, hrsg. v. J.G. Herder-Insti­tut Mar­burg, Jg. 5/1955, S. 195-201).

Bild: Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften / Quelle: MagdalenaBoruckaBiblioteka Gdańska-ob. PANCC BY-SA 3.0 PL

Peter Letkemann