Danzig gehört zu den wenigen deutschen Städten, in denen bereits im 15. Jahrhundert Ansätze zur Errichtung einer öffentlichen Bücherei zu finden sind. Am 24.6.1413 bestätigte der Ordenshochmeister Heinrich von Plauen dem an der Marienkirche tätigen Geistlichen Andreas Slommow die Aufstellung einer rund 100 (Handschriften-)Bände umfassenden Pfarrbibliothek, die vorwiegend zu Studium und Weiterbildung der kirchlichen Amtsträger bestimmt war und die auch nur Theologica enthielt. Durch Zuwendungen und Legate Danziger Bürger wie auch einzelner Pfarrherren wuchs die Marienbibliothek weiter, doch geriet sie schon nach gut hundert Jahren in Unordnung und anschließende Vergessenheit, als die Einführung der Reformation eine Interessenverlagerung herbeiführte. Humanismus und Renaissancekultur, die zunehmende Laienbildung und nicht zuletzt die Erfindung der Buchdruckerkunst weckten dagegen in der Öffentlichkeit das Verlangen nach Büchern und Büchereien. Während die Säkularisation der Klöster vielerorts den Grundstock zur Errichtung von städtischen Bibliotheken bot, blieb man in Danzig auf diesem Gebiet seltsam passiv. 1555 wurde das Franziskanerkloster dem Rat zur Einrichtung einer Schule übergeben und 1558 darin der Betrieb des Gymnasiums eröffnet. Die gleichzeitig übernommene Klosterbibliothek, die laut Inventar 1054 Bände umfaßte, führte dagegen ein Schattendasein. Möglicherweise hielt der Rat diesen Bücherschatz für die schulische Fortbildung im Geiste Luthers für ungeeignet; in den folgenden Jahrzehnten verringerte sich der Bestand erheblich und die Stadtväter mußten sich den Vorwurf mangelnder Sorgfalt gefallen lassen. Es bedurfte erst eines seltsamen Zwischenfalls, ehe sich die damals weltoffene und reiche Stadt, die dem wirtschaftlichen ebenso wie dem künstlerischen Höhepunkt ihrer politischen Selbständigkeit entgegenstrebte, zur Begründung einer öffentlichen Bibliothek entschloß. Im Jahre 1591 strandete vor der Weichselmündung ein Schiff, aus dem der italienische Edelmann Marchese d’Oria zusammen mit seiner wertvollsten Habe, einer großen Büchersammlung, gerettet werden konnte. Dieser Zufall gab den Anstoß zur Errichtung einer der wissenschaftlich bedeutendsten und reichhaltigsten Bibliotheken des deutschen Ostens, die weit über den lokalen Bereich hinauswirkte. Was hatte es nun mit diesem Schiffbrüchigen und seinem Schicksal auf sich?
Giovanni Bernardino Bonifacio, Marchese d’Oria, wurde 1517 in Neapel als Sproß einer reichen und alteingesessenen Familie geboren. Er widmete sich früh wissenschaftlichen und religiösen Studien und kam mit dem Protestantismus, besonders mit den Schriften Melanchthons, in Berührung. Er wandte sich daraufhin entschieden der neuen Lehre zu und geriet zwangsläufig in Konflikt mit der alten Kirche und der Inquisition. Er verließ 1556 seine Heimat und begann ein 35 Jahre währendes, unstetes Wanderleben durch fast alle Länder Europas, begleitet von einer ständig wachsenden Büchersammlung. Er zog zunächst nach Venedig, Basel und Triest, mußte aber immer wieder vor Nachstellungen fliehen. Weitere Stationen waren Lyon, Paris und London, längere Aufenthalte nahm er in Lörrach/Baden und schließlich, auf Einladung litauischer Adliger, in Wilna, wobei die religiöse Toleranz der polnischen Adelsrepublik auf ihn nachhaltigen Eindruck machte. Durch die 1589/90 ausbrechende Pest verließ er Litauen in Richtung England, von wo er im Jahr darauf die Rückreise nach Wilna antrat. Auf dieser Fahrt erlitt er am 25.8.1591 in der Danziger Bucht Schiffbruch, bei dem er bis auf seine mitgeführten Bücher alles verlor. Der erblindete Greis war auf die Hilfsbereitschaft des Danziger Rats angewiesen, die ihm auch in großzügiger Weise zuteil wurde. Die Stadt gewährte ihm eine dauernde Bleibe mit einer Zehrung von einem ungarischen Goldgulden wöchentlich; als Gegenleistung übertrug er seine mehr als 1000 Bände umfassende Bibliothek, darunter Werke von großer Seltenheit, dem 1558 gegründeten Akademischen Gymnasium im ehemaligen Franziskanerkloster, in dem er selbst auch Aufnahme fand. Hier lebte er im Verkehr mit der Danziger gelehrten Welt bis zu seinem Tode am 24.3.1597, woraufhin er in der benachbarten Trinitatiskirche beigesetzt wurde und ein vom Bürgermeister Bartholomäus Schachmann gestiftetes Epitaph erhielt.
In dem Überlassungsvertrag hatte Bonifacio seine Schätze abgetreten „zu einer sonderlichen Stiftung einer Lieberey [= Bibliothek] und zum ewigen seines Nahmens Gedächtnüß, darmit sich derselben gelertte Leutte undt die liebe christliche Jugendt zu ihren Besten gebrauchen mögen“. Eine einzige Bedingung war von seiner Seite daran geknüpft: Die Bücher sollten nie in die Hände der Jesuiten als seiner ärgsten Feinde fallen. Über den Umfang und die Titel dieser Büchersammlung sind wir durch zwei Kataloge – einen vor dem Schiffbruch, den anderen vom ersten Danziger Bibliothekar Asaricus angelegt – gut unterrichtet. Danach besaß Bonifacio ursprünglich 1265 Bände, von denen später rund 1115 Bände (ca. 1040 Titel) den Danziger Bestand bildeten. Er umfaßte annähernd das gesamte „klassische“ Repertoire der damaligen Zeit: die alten Schriftsteller (Ovid, Horaz, Vergil, Plutarch, Cicero) und Philosophen (Aristoteles, Epiktet, Seneca), die Schriften der Kirchenväter und
-lehrer sowie wissenschaftliche Werke, speziell Medizin und Pharmakologie. Die vielen Marginalien und Ergänzungen in den Büchern zeigen, daß Bonifacio sie alle gelesen und demnach ein enges und persönliches Verhältnis zu ihnen besessen haben mußte. Diesen wertvollen Fundus benutzte der Rat, um ihn zu einer größeren wissenschaftlichen Bibliothek auszugestalten, damit sie „unversehrt aufbewahrt und der Nachwelt erhalten werde, dem Gymnasium und den übrigen Schulen zur Zierde, der Stadt zum Schmuck, den Studierenden zum Ansporn und zum Nutzen“, wie es in der Gründungsurkunde von 1596 hieß.
Die neue Bibliothek, für die schon im Jahr darauf ein Bucheignerzeichen geschaffen wurde (siehe die Abb.), blieb zunächst auf die Bedürfnisse des Gymnasiums und die dort betriebenen Studien beschränkt. Leitung und Fürsorge lagen gleichermaßen beim städtischen Rat. Dabei muß festgehalten werden, daß die Stadt zunächst nur in sehr geringem Ausmaß finanzielle Mittel für ihre Bibliothek aufwandte. Zwar kamen gelegentlich größere Ankäufe von Büchern vor, besonders aus Nachlässen von Theologen, Juristen oder Buchhändlern, worunter sich z.B. auch die Sammlung des Stadtsekretärs und bekannten preußischen Geschichtsschreibers Caspar Schütz befand (1597). Größere Bedeutung erlangten dagegen die privaten Geldstiftungen, die der Bibliothek unmittelbar vermacht wurden und ihr eine hinreichende Ausgestaltung sicherten. Mehr noch sind die Schenkungen von Büchern hervorzuheben, die von Anbeginn der Bibliothek in reichem Maße zuflossen und die eigentlich als die Hauptquelle ihrer Vermehrung gelten können. Die Patrizier, die Kaufleute und Ratsherren der Stadt waren aufgrund ihrer teilweise gründlichen gelehrten Bildung vielfach eifrige Büchersammler, und die meisten der Danziger Privatsammlungen fanden früher oder später ihren Weg in die Stadtbibliothek. Unter den finanziellen Zuwendern verdienen besonders die Namen der Danziger Bürger Ölhaf, von Schmieden, Behm, Freder und Schlieff Erwähnung, wobei die Familie des letzteren über mehrere Generationen eng mit den Geschicken der Bibliothek verbunden war und ihr neben Geldgeschenken auch große Bücherschätze vermacht hat. Weitere private Büchersammlungen, die in der Frühzeit an die Stadtbibliothek übergingen, stammten von Adrian Engelcke und Michael Christoph Hanow, beide selbst als nebenamtliche „Bibliothekare“ dort tätig. Einen starken Anstieg dieser Zugänge verzeichnete dann das 19. Jahrhundert, als mehrere geradezu berühmte Privatbibliotheken wie die von Heinrich Schwarzwald, Theodor Kniewel, Gotthilf Löschin und namentlich die der Familien Gralath und Uphagen übernommen wurden. Sie umfaßten oftmals mehrere tausend Bände und enthielten ebenso oft Kostbarkeiten und Raritäten, die der Bibliothek auf dem normalen Anschaffungsweg niemals zugefallen wären. Der erwähnte Geschichtsschreiber und Bibliothekar Gotthilf Löschin benennt in seiner weitverbreiteten Stadtbeschreibung „Danzig und seine Umgebungen“ von 1828 einige der Kostbarkeiten aus seiner Sicht: „Zu ihren vornehmsten Schätzen gehören ein Prachtexemplar der ‚Machina coelestis‘ des Joh. Hevelius, und ein ähnliches von seiner ‚Selenographie‘. Beide sind von ihm selbst ungemein sauber koloriert und sollen zum Geschenke für Ludwig XIV. bestimmt gewesen sein. Der Ratsherr Broen bezahlte sie in einer Auktion mit 3.003 Danziger Gulden, und aus dem Nachlasse seines Sohnes kamen sie in diese Bibliothek. Sodann ein von Luther auf der Wartburg ausgearbeitetes Manuscript, welches der Bürgermeister Schwarz für einen hohen Preis in Augsburg ankaufen ließ, und ein Frobenscher Psalter mit einem von dem großen Reformator eigenhändig geschriebenen Berichte über seine Exkommunikation. Auch mit mehreren kostbaren Kupferwerken, vornehmlich Reisebeschreibungen, ist diese Büchersammlung ausgestattet. Vor allen gehört dahin die ‚Description de l’Egypte‘, welche an 1000 Rthlr. kostet. Unter den Bildern, die man hier findet, zeichnet sich ein Originalgemälde Luthers von Lukas Cranach und ein Portrait des Dichters Opitz aus.“
Die eigentliche Leitung der Stadtbibliothek lag, solange sie noch im Verbund mit dem Gymnasium untergebracht war, in der Hand eines Mitgliedes des „Collegium scholarchale“, das als „Protobibliothecarius“ vom Rat dazu bestimmt wurde; später erhielten Geistliche oder Lehrer an höheren Schulen das Amt des Bibliothekars nebenamtlich übertragen. Im Jahr 1896 gab es dann zum ersten Mal einen wissenschaftlichen Berufsbibliothekar in der Person Otto Günthers (1864-1924), der sich um die Erschließung und Katalogisierung der Bestände sowie um die Neugestaltung der Bibliothek nach den Erfordernissen des neuzeitlichen Wissenschaftsbetriebes große Verdienste erwarb. Bereits einige Jahre zuvor (1892) war der erste Band der gedruckten „Kataloge der Danziger Stadtbibliothek“ erschienen, der die die Stadt Danzig betreffenden Handschriften verzeichnete. Als dann 1921 der sechste und vorerst letzte Band dieses Katalogs herauskam, lag ein beeindruckendes Werk vor, dessen wissenschaftlicher Wert nicht hoch genug zu veranschlagen war und das unter den deutschsprachigen Bibliotheken seinesgleichen suchte.
Nachdem 1819 die Stadtbibliothek aus dem Franziskanerkloster in die für den Gottesdienst nicht mehr verwendete St. Jakobskirche umgezogen war, genügte gegen Ende des Jahrhunderts diese Unterbringung nicht mehr. Es wurde die Errichtung eines modernen Zweckbaus vorgesehen, der sich in Konstruktion und Stil an das benachbarte, gerade fertiggestellte Gebäude des Danziger Staatsarchivs anlehnte und 1905 bezogen werden konnte. An der Ecke Schüsseldamm/Am Jakobstor stand neben dem Verwaltungsgebäude ein sechsstöckiges Büchermagazin, das 250.000 Bänden Platz bot. Der aktuelle Bücherbestand belief sich damals auf etwa die Hälfte; er war von 26.000 Bänden im Jahr 1806 auf 45.000 um die Jahrhundertmitte und auf 111.000 im Jahr 1899 gestiegen; 1914 erreichte er bereits 170.000 Bände. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten auch zahlreiche Vereine und Körperschaften ihre Büchersammlungen der Stadtbibliothek überlassen, und in gleicher Weise sind die wertvollen Konvolute alter Musikalien in den Kirchenbibliotheken von St. Katharinen, St. Johann und St. Marien aufgenommen worden.
Charakter und Aufgaben der Stadtbibliothek waren (und sind) durch ihre Geschichte geprägt. Sie war – und ist es auch noch heute – eine wissenschaftliche Institution, die in ihrem Anschaffungsplan alle Wissenszweige berücksichtigte, soweit ihre Mittel es erlaubten und nicht andere Spezialbibliotheken am Ort, wie z.B. der Technischen Hochschule oder der Naturforschenden Gesellschaft, ihre eigenen Bereiche pflegten. Es waren besonders die Geisteswissenschaften, Philosophie und Sprachen, Staats- und Rechtswissenschaften, Länder- und Völkerkunde sowie Geschichte, deren Publikationen laufend ergänzt wurden. Neben dem städtischen Archiv war die Stadtbibliothek aber auch zugleich das Reservoir der reichen Überlieferung zur Danziger Stadt- und westpreußischen Landesgeschichte, soweit sie in gedruckter Form ihren Niederschlag gefunden hatte. Hierzu gehört auch im weitesten Sinne die Geschichte Polens, die in jüngster Zeit naturgemäß einen besonderen Stellenwert erhalten sollte. Auch mit ihren rund 3.000 Handschriften, unter denen sich wichtige Chroniken und Textsammlungen zur Orts- und Landesgeschichte befinden, besitzt die Stadtbibliothek einen Fundus, der ihr in der historischen Forschung einen hohen Rang sichert.
Den Zweiten Weltkrieg hat die Stadtbibliothek mit erheblichen Schäden überstanden; ungefähr drei Viertel des Altbestandes dürfte erhalten geblieben sein. Sie ist heute, noch an gleicher Stelle, eine Institution der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Biblioteka Gdañska Polskiej Akademii Nauk). Gleichfalls am alten Platz hängt auch heute noch im Lesesaal
das Porträt des Bernardino Bonifacio, Marchese d’Oria, des unfreiwilligen, aber selbstlosen Stifters der Danziger Stadtbibliothek.
Lit.: Otto Günther u. Karl Kleefeld: Die Danziger Stadtbibliothek. Ihre Entwicklung und ihr Neubau, Danzig 1905. – Friedrich Schwarz: Die Danziger Stadtbibliothek und die heimische Geschichtsforschung, in: Mitt. d. Westpreuß. Geschichtsvereins 27 (1928), S. 33-47. – Manfred Welti: Die Bibliothek des Giovanni Bernardino Bonifacio, Marchese d’Oria, 1517-1597. Der Grundstock der Bibliothek Danzig der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Bern u.a. 1985. – Irena Fabiani-Madeyska: Fundator Biblioteki Gdañskiej 1596 Jan Bernard Bonifacio Markiz Orii [Der Stifter der Danziger Bibliothek 1596 Johann Bernard Bonifacio, Marquis d’Oria]. Gdañsk 1991. – Marian Pelczar: Biblioteka Miejska w Gdañsku 1945-1953 [Die Stadtbibliothek in Danzig 1945-1953], in: Rocznik Gdañski 13 (1954), S. 159-180 (auch: Wiss. Dienst f. Ostmitteleuropa, hrsg. v. J.G. Herder-Institut Marburg, Jg. 5/1955, S. 195-201).
Bild: Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften / Quelle: MagdalenaBorucka, Biblioteka Gdańska-ob. PAN, CC BY-SA 3.0 PL
Peter Letkemann