Ereignis vom 27. Mai 1703

Gründung der Stadt St. Petersbug

Kupferstich von St. Petersburg und Newa (1753)

Untrennbar sind die Anfänge der Stadt St. Petersburg mit der Person von Zar Peter I., bekannt als Zar Peter der Große (1682-1725), verbunden. Noch während des „Großen Nordischen Krieges“ gegen König Karl II. von Schweden entschloß sich Peter I., an der Mündung der Newa in den eisfreien Finnischen Meerbusen und damit an einem für die Führung eines Seekrieg strategisch günstig gelegenen Ort eine Stadt zu errichten, die zugleich als westlich orientierter, moderner Gegenpol zum konservativen und alten Rußland dienen sollte. Am 27. Mai 1703 (16. Mai nach altem Kalender) wurde hierzu auf Geheiß Peters I. mit der Anlage einer Festung auf der sog. Haseninsel (russisch Sajtschij Insel, schwedisch Lustinsel) begonnen, der man den Namen Peter-und-Pauls-Festung gab. Der Schweizer Architekt Domenico Trezzini ersetzte ab 1706 die Erdwälle der Festung durch dicke Steinmauern in Form eines unregelmäßigen Sechsecks und schuf so ein einmaliges Denkmal der Fortifkationskunst. Als Paradeeingang der Festung diente fortan das Peterstor, das Trezzini 1708 zunächst aus Holz, später (1717/18) in Stein in der Art eines Triumphbogens errichtete. Nicht allein durch den über dem Durchfahrtsbogen prangenden doppelköpfigen russischen Adler kam der programmatische Charakter des Tores zum Ausdruck, sondern auch durch das darüber liegende, von Konrad Rosner geschaffene Relief, das die Überwindung des Magiers Simon darstellt. Der dort abgebildete Apostel Petrus trägt deutlich die Züge des Zaren und symbolisiert damit dessen Überlegenheit gegenüber seinen Feinden, konkret gegenüber den Schweden im Nordischen Krieg. Von der Zeit Peters I. bis zur Oktoberrevolution sollte die Festung als Gefängnis für politische Häftlinge dienen, weshalb die gesamten Geschichte des russischen politischen Widerstandes eng mit ihr verbunden ist: Dostojewski wurde hier inhaftiert, bevor man ihn nach Sibirien deportierte, der Bruder Lenins verbrachte hier nach seinem Attentatsversuch auf den Zaren die letzten Tage vor seiner Hinrichtung.

Der Gebäudekomplex der Peter-und-Pauls-Festung wurde zum Kern der neuen Stadt St. Petersburg, deren Name sich auf den Apostelfürsten als den Namenspatron des Gründers und den Wächter der Himmelspforte bezieht. Im Jahre 1712 machte Peter I. das sich rasch entwickelnde St. Petersburg zur neuen Hauptstadt, die seine politischen und sozialen Pläne für eine mächtiges und modernisiertes Rußland verkörpern und die Öffnung des Reiches gegenüber dem fortschrittlicheren Europa dokumentieren sollte. Binnen weniger Jahrzehnte wurde die Stadt gleichsam aus dem sumpfigen Boden des Newa-Delta gestampft, insbesondere mit Hilfe Tausender Leibeigener des Zaren, von denen viele ihr Leben durch Krankheiten, Erschöpfung, Kälte und Hunger verloren. Für die Stadtentwicklung wesentlich wurde die ab 1704 auf einer südlich gegenüber der Festung gelegenen Insel entstehende zweite Wehranlage mit der Schiffswerft, der sog. Admiralität. Auf diesen zentralen Punkt liefen alle wichtigen Straßen der Stadt zu. Von besonderer Bedeutung war die ebenfalls von Trezzini entworfene und ab 1712 errichtete Peter-und-Pauls-Kathedrale, in der, beginnend mit Peter I., alle russischen Zaren bis Alexander III. – ausgenommen Peter II. und Ivan VI. – beigesetzt werden sollten. Ihr markanter Glockenturm mit seinem goldenen Engel auf der Spitze überragte die Stadt. Trezzini legte mit seinen die glänzenden Pläne Peters I. verwirklichenden Bauten die Grundlage für die Ausbildung einer spezifisch russischen Architektur, die sich indes von den traditionellen Bauweisen löste und mit den Vorbildern der zeitgenössischen westlichen Baukunst in Verbindung trat. Auch die zahlreichen Palais der Adligen, die Peter I. zur Übersiedlung in seine neue Hauptstadt verpflichtete, wurden nach westlichen Vorbildern in Stein erbaut – keine Selbstverständlichkeit in einem Land, dessen bisherige Hauptstadt Moskau noch ganz vom Holzbau geprägt war.

Im Jahr 1714 ließ Peter I. den Sommerpalast „Peterhof“ nach dem Vorbild von Versailles erbauen. Dieses grandiose Schloß- und Parkensemble, ca. 30 km westlich von St. Petersburg am Ufer des Finnischen Meerbusens gelegen, sollte ein Denkmal für den Sieg Rußlands über Schweden 1709 an der Poltawa sein. Hier verbrachte der Zar jeden Sommer. Die rauschenden Feste und Maskeraden im Sommergarten waren in ganz Europa berühmt. Für den Winterpalast des Zaren schenkte König Frie­drich Wilhelm I. von Preußen Bernstein, der später im Katharinenpalast in Zarksjoje Selo von Bartolomeo Francesco Rastrelli zum berühmten Bernsteinzimmer verarbeitet werden sollte.

Mit dem Friedensvertrag von Nystadt im Jahre 1721 wurde der Nordische Krieg für Rußland siegreich zu Ende geführt, die schwedische Vormacht im Ostseeraum gebrochen. Peter nahm den Imperatorentitel – Zar aller Russen – an. Sein Sohn Alexej, der sich der Politik seines Vaters widersetzte, starb infolge von Schlägen als Häftling der Peter-und-Pauls-Festung. Die unmittelbaren Nachfolger Peters I., der 1725 nach 35-jähriger Regierungszeit, in der er das Rußland wesentlich verändert und zur europäischen Großmacht geformt hatte, verstarb, fühlten sich in weit geringerem Maße St. Petersburg verbunden. Bereits 1727 verlegte Peter II. den Zarenhof zurück nach Moskau, konnte indes die Entwicklung der Stadt zu einer glänzenden europäischen Metropole nicht aufhalten. So wurde unter Anna Iwanowna (1730-1740) St. Petersburg wieder zur Hauptstadt, entwickelte man mit dem dreistrahligen Straßensystem im Zentrum eine städtebauliche Lösung, die bis heute prägend geblieben ist. Besondere Zuwendung erfuhr die Stadt zudem durch die Zarin Elisabeth (1741-1761), Tochter Peters I., die mit ihren zahlreichen Repräsentationsbauten den sog. Petersburger Barock – nicht zuletzt unter Mitwirkung deutscher Architekten – zur höchsten Blüte führte, und auch durch Katharina II., unter welcher der klassizistische Baustil den Barock ab­löste. Besonders unter dieser Zarin, der vormaligen Prinzessin Sophie Auguste von Anhalt-Zerbst, fungierte St. Petersburg nicht nur als politisches und ökonomisches, sondern auch als kulturelles Zentrum Rußlands. Die Hochblüte der Stadt an der Newa war mit einem sehr intensiven geistigen Austausch mit dem Ausland verbunden. Zahllose deutsche Wissenschaftler hielten sich seit Katharinas II. Zeit in der Stadt auf, forschten und publizierten hier. Deutsch war lange die erste Wissenschaftssprache im Russischen Reich.

Über alle oft tragischen Wechselfälle ihrer Geschichte hinweg – man denke für das 20. Jahrhundert nur an die Rolle der Stadt in der „Oktoberrevolution“ 1917 und an ihre Belagerung durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg, bei der etwa 750.000 Menschen an Hunger und Kälte starben, eine weitere halbe Million Menschen bei Luftangriffen umkam – blieb St. Petersburg das kulturelle Zentrum Rußlands. Die als Reaktion auf den Krieg mit Deutschland 1914 in Petrograd und 1924 in Leningrad umbenannte Stadt trägt seit 1991 wieder den ursprünglichen Namen. Termingerecht zum Gründungsjubiläum im Jahre 2003 erstrahlten die zahlreichen Paläste und Kirchen St. Petersburgs in altem Glanz. Kulminationspunkt der Feiern war die Eröffnung des rekonstruierten Bersteinzimmers im Katha­rinenpalast am 31. Mai. Freilich wurden nur renommierte Bauten restauriert. Abseits der Hauptstraßen und Plätze bröckelt und rieselt weiterhin der Putz an dunklen Höfen und Häusern, die heute noch an Beschreibungen Dostojewskis erinnern. Die übertriebene Pracht der repräsentativen Gebäude kontrastiert dabei krass mit der zunehmenden Armut der Arbeiterviertel.

Bild: Kupferstich von St. Petersburg und Newa (1753) / Quelle: Wikipedia. Gemeinfrei.

Christine Kuczinski (OGT 2003, 313)