Ereignis vom 27. Mai 1300

Stadtrechtsverleihung für die Königsberger Neustadt Löbenicht

Löbenichtsche Kirche

Neben der 1255 gegründeten Deutschordensburg Königsberg entstand am unteren Pregel auch eine städtische Siedlung. Diese wurde erst Stadt im Rechtssinne, nachdem die Prußenkriege abgeschlossen werden konnten, als sie nämlich im Jahre 1286 durch eine Urkunde des Landmeisters mit dem Kulmer Recht ausgestattet wurde (vgl. OGT 1986, S. 205-208). Königsbergs Bedeutung nahm rasch zu, zum einen als Handelsplatz an einem Übergang von Handelswegen aus Livland über die Kurische Nehrung und von der samländischen Bernstein-küste über den Pregel nach Westen und Süden, zum anderen aber als Ausgangspunkt der nun einsetzenden Litauerreisen, die durch die Teilnahme des westeuropäischen Adels ihre Höhepunkte im 14. Jahrhundert erlebten. So reichte die noch kleine Altstadt bald nicht aus, die zugewanderten Menschen aufzunehmen, die in Königsberg einem bürgerlichen Gewerbe nachgehen wollten. Diese wurden östlich der Altstadt angesiedelt, wo beiderseits des Wegs zu der zur Ordensburg gehörenden unteren Mühle eine erste Königsberger Neustadt entstand.

Als am 12. März 1299 der Königsberger Komtur Berthold Brühaven namens des Landmeisters von Preußen zum ersten Mal versuchte, eine Lokationsurkunde für die Stadt auszustellen, die Neustadt („nova civitas“) genannt werden sollte, hat diese Siedlung schon bestanden, so wird unter den Zeugen der Urkunde bereits der amtierende Schultheiß Engelbert genannt. Am 27. Mai 1300, also vor 700 Jahren, wurde die gültig bleibende Stadthandfeste ausgestellt; dieses Pergament mit einem fragmentarischen roten Wachssiegel an grünen und roten Seidenfäden hat sich bis 1945 im Stadtarchiv Königsberg befunden und ist erst seitdem verschollen. Der Löbenicht war im Preußenland nicht die erste Neustadt, die neben einer bereits bestehenden Altstadt entstanden ist. Vorausgegangen war Thorn, wo 1264 bereits eine Generation nach der ersten Stadt-gründung eine Neustadt ihre Stadtrechtsurkunde erhalten hatte. Dagegen ist in Elbing, das in jenen Jahrzehnten durch den Sitz des Landmeisters in der dortigen Burg als Landeshauptstadt anzusehen ist, erst 1335 eine Neustadtgründung gelungen. Das zeigt die vergleichsweise große Bedeutung des Platzes in der Nähe der Pregelmündung. Jedoch waren die Neustädte – weder in Königsberg noch vorher in Thorn oder später in Elbing – in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht eine echte Konkurrenz für die vornehmer bleibenden Altstädte. Der Name „Neustadt“ hat sich im Fall von Königsberg nicht durchgesetzt, vermutlich weil auf der Pregelinsel Kneiphof gegenüber der Altstadt eine weitere Neustadt entstand und 1327 mit Stadtrecht versehen wurde. Auch der 1333 von Hochmeister Luther von Braunschweig verfügte Name „Neu-Königsberg“ kam nicht in Gebrauch. Allgemein benutzt wurde stattdessen der von dem prußischen Fischerdorf Lipnick abgeleitete Name „Löbenicht“, dem wohl der Name des Flüsschens Liebe/Löbe (später Katzbach) zugrunde liegt. Er taucht erstmalig 1338 in den Quellen auf.

Der neuen Stadt werden die gleichen Rechte verliehen wie der Altstadt, also nach Kulmer Recht. In der Fassung von 1299 wird an dieser Stelle ausdrücklich der Name der Stadt Kulm genannt. Aufgeführt werden die freie Wahl der Richter, Rats-herren und Schöffen sowie die Rechtsprechung. Außerdem wurde den Bürgern der Neustadt die freie Fischerei in dem Teil des Frischen Haffes gewährt, der dem Orden gehörte, sowie im Pregel, und zwar mit solchen Angelgeräten, wie es der Altstadt erlaubt sei. Entsprechend sollen die Neustädter das Holz aus den Wäldern des Ordens zum Hausbau und zur Feuerung benutzen dürfen. Mit den Einwohnern des Dorfes Tragheim können sie ein bestimmtes Weideland neben dem Oberteich nutzen. Dann heißt es, dass sie in der Altstadt einen Anspruch haben sollen, in gleicher Weise Handel und andere Rechtsgeschäfte zu betreiben wie die Bürger der Thorner Neustadt in der Thorner Altstadt. Darin wird erkennbar, dass die Besiedlung Königsbergs zu einem wesentlichen Teil von Thorn aus erfolgt sein dürfte. Die Hausstellen der Neustädter Bürger sollen vier mal zwei Ruten groß sein. Die Ausstattung mit Land und Gärten war sehr spärlich wie bei den anderen Neustädten auch.

Erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts hat Hoch-meister Friedrich von Sachsen diese Stadt mit den Stadtfreiheiten Anger und Stegen ausgestattet. Die dort errichteten Speichergebäude dienten zur Lagerung von Erntevorräten. Es gab also keinen Fernhandel, weil dazu die wirtschaftlichen Voraussetzungen fehlten. Daher war der Löbenicht auch nicht Mitglied der Hanse. Das Siegelbild der Stadt zeigte stets eine Krone mit je einem sechsstrahligen Stern dar-über und darunter.

Wegen der Lage am Hang vor der Ordensburg konnte im Löbenicht kein gitterförmiges Straßennetz entstehen. Hauptstraße war die Löbenichter Langgasse, die sich aber nicht in der Alt-städter Bergstraße unmittelbar fortsetzen konnte, weil diese seitens der Altstadt durch die Stadtmauer abgeriegelt war. Des-halb wurde die Verbindung zur Altstädter Langgasse mit einem Straßenknick hergestellt. An diesem Knick lagen das Rathaus und ein kleiner Marktplatz. Nach Osten führte die Löbenichter Langgasse zum Sackheimer Tor in Richtung zum pregelaufwärts liegenden Dorf Sackheim. Oberhalb, d.h. nordwärts, war die Obergasse, an der die Stadtpfarrkirche lag, deren Steinbau 1334 entstand. Der in der Nähe der östlichen Stadtmauer stehende Kirchturm dürfte auch fortifikatorische Bedeutung gehabt haben. Patrozinien waren Johannes der Täufer, der Heilige der Weber, und Barbara, Lieblingsheilige des 1331-1335 regierenden Hochmeisters Luther von Braunschweig (vgl. OGT 1985, S. 80 ff.). Im späten 15. Jahrhundert wurden Schiff und Turm der an sich kleinen Kirche vergrößert. Nach der Zerstörung durch den großen Stadtbrand von 1764 wurde 1768 ein neues Kirchengebäude errichtet. Der Löbenicht war nach außen befestigt, vermutlich zunächst nur durch einen mit Palisaden besetzten Wall, ehe aus Feld- und Ziegelsteinen eine Mauer geschaffen wurde, von der um 1900 noch Reste vor-handen waren.

Unterhalb der Stadt am Pregel lag das dem Orden gehörende Fischerdorf Lipnick. Dieses verhinderte einen unmittelbaren Zugang der Stadt zum Fluss. Dort am Ufer wurde das Nonnen-kloster gegründet, das Hochmeister Heinrich Dusemer 1349 aus Dankbarkeit für die erfolgreiche Schlacht gegen die Litauer an der Strebe gestiftet hatte (vgl. OGT 1998, S. 310). Die Nonnen kamen aus dem Zisterzienserinnenkloster Kulm und dem Benediktinerinnenkloster Thorn. Nach der Reformation setzte sich für die gewandelte Einrichtung die Bezeichnung Großes Löbenichtsches Hospital durch. Dieses hat als Marienspital bis ins 20. Jahrhundert bestanden. Diese geistliche und soziale Einrichtung hat für die ganze Stadt Königsberg eine größere Bedeutung gehabt. Das 1349 ebenfalls auch demselben Anlass in Wehlau gegründete Franziskanerkloster wurde 1517 nach Königsberg verlegt und 1521 gleichfalls am Pregelufer errichtet. Jedoch wurden die Mönche schon 1524 vertrieben.

Auch wenn der Löbenicht die kleinste der drei Städte Königs-berg im Mittelalter und auch in der frühen Neuzeit war, entstand auch dort in der Ordenszeit eine Pfarrschule wie schon vorher am Dom und in der Altstadt. In der Reformationszeit wurde diese in eine Lateinschule umgewandelt. Sie erhielt zwar 1580 neben der Kirche ein neues Gebäude, blieb aber weiterhin die kleinste der Königsberger Schulen. Immerhin zeigte sich die innerstädtische Bedeutung auch darin, dass im 16./17. Jahr-hundert einzelne Lehrer den Rang eines Bürgermeisters erringen konnten. Nach einem 1810 verordneten Abstieg als höhere Bürgerschule, einem ersten Anstieg 1859 als Realschule I. Ordnung entstand 1882 das Löbenichtsche Realgymnasium als ein Reformtyp der höheren Schule neben den klassischen Gymnasien der Altstadt und des Kneiphofs.

Von der „Dreistadt“ Königsberg war der Löbenicht als die dem Alter nach mittlere Stadt stets die kleinste geblieben. So setzt, sieht man von der Nennung in den Zeugenlisten in den Gründungshandfesten von 1299/1300 ab, die Überlieferung einer „Ratslinie“ hier spätestens ein. Auf den frühneuzeitlichen Landtagen sind zwar die drei Städte Königsberg im Unterschied zu den kleinen Landstädten regelmäßig vertreten, aber Altstadt und Kneiphof haben einen stärkeren Einfluss. Seit dem ersten schwedisch-polnischen Krieg (1630) waren der Löbenicht und die beiden anderen Städte von einer gemeinsamen Befestigung umgeben. Bemerkenswert ist, dass, nachdem die Belastungen der Kriege in der Mitte des 17. Jahrhunderts die Städte Königs-berg stark verschuldet hatten und der Große Kurfürst ihnen zur Entschuldung die sogenannten „Hülfgelder“ bewilligte, nur der Löbenicht dieses erfolgreich nutzen konnte. Die Finanzpolitik der Altstadt und des Kneiphof verursachte ständig Auseinandersetzungen mit dem Landesherrn und dessen neuen Behörden. Die Verschuldung der mächtigeren Schwesterstädte führte zu dessen vermehrten Eingreifen. Dies endete damit, dass König Friedrich Wilhelm I. nach dem Vorbild von Berlin 1709 nun-mehr durch das „Rathäusliche Reglement der Stadt Königsberg in Preußen“ vom 13. Juni 1724 die Selbständigkeit der drei Städte mit dem Löbenicht sowie aller Vorstädte und Freiheiten aufhob und als einheitliche Stadt (vgl. OGT 1999, S. 375-382) der kurz vorher gegründeten Kriegs- und Domänenkammer Königsberg (vgl. OGT 1999, S. 363-368) unterstellte. Die kommunale Selbständigkeit des Löbenichts fand ein Ende, weil der Landesherr die Vielzahl von kommunalen Körperschaften und Gerichten mit einer kaum noch zu durchschauenden Kompetenzenvielfalt für nicht mehr finanzierbar und sinnvoll hielt. Das hinderte nicht, dass der Löbenicht weiterhin wenigstens bis 1945 als Teil des größeren Königsbergs seine Stadtteilgeschichte behalten hat.

Quellen: Urkundenbuch der Stadt Königsberg i. Pr., Bd. 1 (1256-1400), bearb. v. Hans Mendthal. Königsberg i. Pr. 1910.

Lit.: Wilhelm Hensche: Wappen und Siegel der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Königsberg. Königsberg 1877. – Adolf Boetticher: Die Bau- und Kunstdenkmäler in Königsberg. Königsberg 1897, S. 257-293. – Otto Wittrien: Aus der Vergangenheit des Löbenichtschen Real-gymnasiums zu Königsberg i. Pr. (Beilage zum Jahresbericht des Löbenichtschen Realgymnasiums zu Königsberg i. Pr.). Königsberg i. Pr. 1914. – Christian Krollmann: Die Ratslisten der drei Städte Königsberg im Mittelalter. Königsberg Pr. 1935. – Fritz Gause: Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, Bd. 1-3. Köln, Wien 1965-1971, 3./2. Aufl. Köln, Weimar, Wien 1996.

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Bernhart Jähnig